III. Opferrechte in Österreich
vor bekannten und neuen
Herausforderungen
Udo Jesionek
Opferrechte in der Kritik
1 Einleitung
Spätestens seit dem Strafprozessreformgesetz 20041 hat sich auch der österreichische Gesetzgeber – über 200 Jahre nachdem er durch die Constitutio Criminalis Theresianae 1768 und das StG 1803 das Opfer mit seinen psychosozialen und emotionalen Bedürfnissen aus dem Strafprozess verbannt hatte – wieder darauf besonnen, dass es eine elementare Aufgabe auch des Strafrechtes ist, die Genugtuungsinteressen des Opfers entsprechend zu berücksichtigen.
Abgesehen von den positiv rechtlichen internationalen Vorgaben, va dem Rahmenbeschluss der EU über die Rechte des Opfers im Strafverfahren 20012, hat sich in einem langen Diskussionsprozess wohl auch in Österreich die Einsicht durchgesetzt, dass ein Strafrecht, das die Interessen des Opfers, zu dessen Schutz es ja ua erlassen wurde, nicht ausreichend beachtet, mangelhaft ist. Dieser Rahmenbeschluss wurde zuletzt durch die nunmehr verbindliche OpferschutzRL des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 10. 20123 ersetzt und inhaltlich ergänzt.
Um es auf einen Punkt zu bringen: Aufgabe des Rechtsstaates, der das Gewaltmonopol an sich gezogen hat, ist es an vorderster Stelle, seine Rechtsunterworfenen vor kriminellen Handlungen zu schützen. Im Vordergrund hat daher die Kriminalprävention im weitesten Sinn zu stehen4.
Dort, wo der Rechtsstaat mit dieser seiner vordersten Aufgabe versagt hat, wo also jemand Opfer einer strafbaren Handlung geworden ist, hat er aber konsequenterweise alles zu unternehmen, um dem Opfer jede nur denkbare Hilfe zukommen zu lassen. Unter den dem Staat dafür zustehenden Instrumentarien spielt das Strafrecht eine zentrale Rolle.
In dieser Einsicht hat der Gesetzgeber durch das Strafprozessreformgesetz 20045 aber auch durch zahlreiche andere gesetzlichen Bestimmungen, zuletzt durch das StPRÄG I 20166, durch das aber leider nur ein Teil der OpferschutzRL7 für den österreichischen Rechtsbereich umgesetzt wurde, nicht nur in der StPO, sondern auch im StGB, dem StVG und in zivil-, sozial- und verwaltungsrechtlichen Normen8, nicht unbeeinflusst durch die internationale Entwicklung in den letzten Jahren, den Strafrechtszweck der Opferprävention neben die traditionellen Strafrechtszwecke der Individual- und Generalprävention in unsere Rechtsordnung gestellt. Dieser Strafrechtszweck umfasst nicht nur das Recht des Opfers auf Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens, sondern darüber hinaus die Berücksichtigung aller legitimen Bedürfnisse und Interessen des einzelnen Opfers in der Folge einer Straftat. Es sind dies die Interessen auf Mitwirkung (Anerkennung als Opfer, Recht auf Verständigung, Information, Belehrung) sowie rechtliche, finanzielle und psychologische Unterstützung während des Strafverfahrens, um die Mitwirkungsrechte zu ermöglichen; er umfasst aber auch die Interessen auf Schutz im Sinne von Schonung und Sicherheit, sowie auch auf Befriedigung des täterbezogenen Genugtuungsinteresses des Opfers, verbunden mit der „Hilfe bei der Bewältigung von durch die Tat auslösenden negativen Empfindungen wie Ängsten, Schmerz, aber auch Wut und Zorn“9. Dieser Strafrechtszweck „durchflutet alle Bereiche der Strafrechtspflege“10, also nicht nur das materielle Strafrecht im engeren Sinn, sondern auch die anderen Bereiche, va das Strafprozessrecht aber auch das Strafvollzugsrecht.
Das brachte „eine gigantische Umwälzung des bisherigen Strafrechtsverständnisses“11 und stößt noch immer auf Widerstand all derer, die im traditionellen Strafrechtsverständnis verwurzelt sind. Burgstaller weist mit Recht darauf hin, dass darin, wenn man vom heutigen Strafrechtsverständnis her die erwähnten Emotionen abblockt und im Strafverfahren nicht zulässt, eine bedenkliche Reduktion des Strafrechts und des Strafverfahrens auf eine nicht sachgerechte und auch nicht der Bevölkerung vermittelbare Reduktion des Strafrechtes erfolgt. Akzeptanz und Ansehen der Strafjustiz – wie die Erfahrungen mit dem außergerichtlichen Tatausgleich eindrucksvoll zeigen – können durch die Berücksichtigung auch dieser Genugtuungsinteressen und der Befriedigungsfunktion des Strafverfahrens sehr gewinnen12.
Soweit zum Strafrechtszweck der Opferprävention13. In diesem Beitrag soll – nach einem historischen Überblick über die opferbezogene Position des Strafrechtes – auf einige in letzter Zeit diskutierte Kritikpunkte zu den Opferrechten eingegangen werden.
2 Historischer Überblick
Von der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters gab es in unserem Rechtskreis, also dem römischen, dem deutschen und dem gemeinen Recht, für die Reaktion auf die strafrechtliche Verletzung von Individualrechten, also dem Recht auf Leben, körperliche Integrität, Gesundheit, sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, Freiheit, Unverletzlichkeit des Vermögens und der Ehre ua, im wesentlichen keine Differenzierung zwischen Straf- und Zivilprozess, sondern wurde der gesamte Komplex idR ausschließlich über Antrag des Opfers (bei Tötungsdelikten der Angehörigen) in einem einheitlichen Verfahren durchgeführt. Dem Opfer kam dabei eine zentrale Rolle zu, nicht nur konnte es durch sein Verhalten das Strafverfahren überhaupt einleiten und auch beenden, auch auf die konkrete Reaktion hatte es unmittelbaren Einfluss14. Selbst dort, wo der Staat ganz ausnahmsweise im Allgemeininteresse die Strafverfolgung einleitete, hatte das Opfer wesentliche Mitwirkungsrechte. Dies änderte sich durch die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 durch die nicht nur der Inquisitionsprozess eingeführt wurde, sondern auch die Verfolgung gewisser Kapitalverbrechen wie Mord, Todschlag, „Räuberei“, Vergewaltigung, Brandstiftung und schwere Fälle des Diebstahls in die amtswegige Verfolgung durch den Richter (Richter und Ankläger waren im Inquisitionsprozess ident) übergeben wurde. Das Verbrechensopfer hatte aber auch in diesem Prozess weiterhin nicht unerheblichen Einfluss, es war beteiligt und va wurden auch seine wirtschaftlichen Interessen bei der Reaktion berücksichtigt.
So führte der berühmte Rechtsgelehrte Christian Thomasius in seinen 1687 begonnenen Institutiones Juris15 noch vier Strafzwecke an, und zwar die Wiedergutmachung, Sühnung, Sicherung und Besserung und ergänzte ausdrücklich, dass von Strafe im weiteren Sinn nur dann gesprochen werden kann, wenn diese vier Zwecke, also auch die Wiedergutmachung, in sich vereint sind.
Die moderne Rechtsdogmatik, die sich im Wesentlichen im Rahmen der Aufklärung herausgebildet hatte, nahm schließlich eine strenge Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht vor, wobei das Strafrecht dem öffentlichen Recht zugeordnet und daher der Privatautonomie zur Gänze entzogen wurde. Aufgabe des Strafrechtes war nunmehr ausschließlich die Reaktion auf den Rechtsbruch, dh die Klärung von Tatbestand und Schuld (wobei die subjektiven Schuldkomponenten erst langsam Eingang ins Strafrecht fanden) und die Festsetzung der strafrechtlichen Reaktion. Auf die psychosozialen und emotionalen Bedürfnisse des Opfers wurde keinerlei Rücksicht genommen, soweit es zivilrechtliche Ansprüche hatte (auch diese entwickelten sich erst langsam, man denke etwa an den Ausbau des ideellen Schadens in der jüngsten Gesetzgebung und Judikatur), wurde es auf den Zivilrechtsweg verwiesen16.
In Österreich geschah diese Zäsur durch die Constitutio Criminalis Theresiana 1768 und dann va durch das StG 1803. Interessant ist, dass gleichzeitig um das Jahr 1800 herum auch die anderen europäischen Staaten durch die Erlassung moderner Strafrechtskodifikationen diese Zäsur vornahmen, etwa das Preussische Allgemeine Landrecht 1794, das Holländische Strafgesetzbuch 1809, der Französische Code Penal 1810 und das Bayerische Strafgesetzbuch 1813, um nur einige wichtige zu nennen.
In Österreich blieb diese Ausschaltung des Opfers aus dem Strafrecht auch bei den nachfolgenden strafrechtlichen Änderungen, dem StG 1852, der StPO 1850 und der StPO 1873 aber auch dem StGB 1974 sowie den damit einhergehenden Strafprozessreformen im Wesentlichen aufrecht.
Die Strafprozessordnung 1873 brachte durch die Einführung des Instituts der Privatbeteiligung eine beschränkte Beteiligung des Opfers, die aber trotz zahlreicher Novellen bis vor kurzem ein stiefmütterliches Dasein führte.
200 Jahre nach dieser Entwicklung begann man plötzlich, das Verbrechensopfer wieder zu entdecken und zwar durch drei etwa gleichzeitig laufende Entwicklungen:
Da war einmal die Viktimologie, die sich nach Ende des 2. Weltkriegs ziemlich zeitgleich in Japan,...