Abschnitt 1:
Globale und europÀische Befunde zum Reichtum
1. Messung von Reichtum
Stefan Humer & Mathias Moser
1.1. Reichtum messen
Die Messung von Reichtum ist ein herausforderndes Unterfangen. Bevor begonnen werden kann, sind einige Fragen zu beantworten. Was ist ĂŒberhaupt Reichtum? Was sollte fĂŒr eine umfassende Definition von Reichtum hinzugezĂ€hlt werden? Was davon kann tatsĂ€chlich berĂŒcksichtigt werden? Wie soll gemessen werden, fĂŒr welchen Zeitpunkt? Interessiert uns der Reichtum einer Familie, einer Stadt, eines Landes oder gar der ganzen Welt? Je nachdem welche Entscheidungen bei der Konzeption der Fragestellung getroffen werden, können sich auch die Ergebnisse von Untersuchungen drastisch unterscheiden. Auf den ersten Blick mag dies trivial erscheinen, in der Tat werden die Auswirkungen von getroffenen Annahmen allerdings nur allzu oft bei der Interpretation der Resultate nicht (mehr) bedacht.
Das Wort Reichtum vereint in sich zwei komplementĂ€re Aspekte. Erstens steht es fĂŒr Eigentum, fĂŒr den Besitz an wertvollen Dingen. Dies impliziert auch gleichzeitig, dass es solche WertgegenstĂ€nde ĂŒberhaupt geben muss. Die Existenz von werthaltigen Dingen, die ihren zugeschriebenen Wert auch ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum behalten und sich akkumulieren bzw. speichern lassen, ist somit die Voraussetzung um ReichtĂŒmer anhĂ€ufen zu können. Zum Zweiten beinhaltet es neben der absoluten Dimension des Besitzes, auch das Wort reich und damit eine relationale Komponente. Reich ist man nur im Vergleich, entweder in Relation mit anderen in einer Gesellschaft oder ĂŒber die Zeit, jedenfalls nur dann wenn es andere gibt die weniger haben. Diese duale Natur des Begriffs, der absolute und auch der relative Gesichtspunkt, sollten sich auch in den Versuchen, Reichtum zu messen, wiederfinden.1 Wie soeben definiert, mag Reichtum als etwas ausschlieĂlich Passives erscheinen, doch das Synonym Vermögen signalisiert, dass es dabei nicht bleiben muss. Vermögen vermag etwas. Vermögen ermöglicht bestimmte Dinge zu tun, es befĂ€higt den Lauf der Welt â im Kleinen wie im GroĂen â aktiv zu beeinflussen. Es beinhaltet aber auch andere Funktionen, die ĂŒber den reinen Wert der aufbewahrten Dinge hinausgeht.
Ein Beispiel dafĂŒr ist die Absicherung vor den Folgen der unvorhergesehenen Wendungen des Lebens, sei es der Verlust des Arbeitsplatzes, ein gesundheitlicher Schicksalsschlag oder auch ein familiĂ€res ZerwĂŒrfnis. Mit einem Sicherheitspolster, mit Ressourcen auf die man im Notfall zurĂŒckgreifen kann, lassen sich solche Situationen zweifelsohne leichter bewĂ€ltigen. Diese Sicherungsfunktion wurde in den entwickelten Volkswirtschaften im Laufe des letzten Jahrhunderts in variierendem AusmaĂ von der Gesellschaft ĂŒbernommen. Der Wohlfahrtsstaat, speziell in seiner europĂ€ischen AusprĂ€gung, sichert im Besonderen jene Bevölkerungsgruppen ab, die selbst nicht ĂŒber einen solchen Sicherheitspolster verfĂŒgen. Der Wohlfahrtsstaat ist damit in gewisser Weise das Vermögen des kleinen Mannes (und der kleinen Frau). Im Rahmen der Vermessung des Reichtums einer ganzen Gesellschaft stellt sich dann aber die Frage ob und wie das gemeinschaftliche Vermögen berĂŒcksichtigt werden sollte.
Eine in diesem Zusammenhang öfter gefĂŒhrte und noch nicht restlos geklĂ€rte Diskussion ist, ob das implizierte Pensionsvermögen aus öffentlichen Systemen in das private Vermögen der/des Einzelnen eingerechnet werden sollte. Einerseits ist es bis zu einem gewissen Grad eine VerkĂŒrzung der RealitĂ€t, sie komplett auĂen vor zu lassen. Speziell der Vergleich zweier ansonsten Ă€hnlicher LĂ€nder â eines mit einem öffentlichen Umlageverfahren, das andere mit rein privater Altersvorsorge â wĂŒrde irrefĂŒhren. Durch den Entfall der Einzahlungen in die öffentliche Pensionskasse, sind die Möglichkeiten aber auch die Notwendigkeiten selbst fĂŒr spĂ€ter zu sparen, im Land ohne öffentlichem Pensionssystem ungleich höher. Daraus lĂ€sst sich folgern, dass auch die durchschnittlichen Vermögen der privaten Haushalte in dem einen Land deutlich ĂŒber dem Vergleichswert des anderen Landes liegen werden. Sind die Unterschiede in der LebensqualitĂ€t oder etwa der Gefahr von Altersarmut betroffen zu sein auch so deutlich ausgeprĂ€gt? Nein, vermutlich nicht, auch wenn dies von der jeweiligen Ausgestaltung des Systems abhĂ€ngig ist. Der statistische Unterschied in den privaten Vermögen existiert weil die Altersvorsorge institutionell anderes organisiert ist, die Unterschiede in der individuellen Wohlfahrt und den individuellen LebensrealitĂ€ten sind jedoch deutlich kleiner. Löst die HinzuzĂ€hlung des öffentlichen Pensionsvermögens also alle Probleme? Mit Sicherheit nicht, denn es bleiben einige gröbere konzeptionelle Unterschiede zwischen diesen Vermögensarten bestehen. Ăffentliches Pensionsvermögen ist im Wesentlichen nicht ĂŒbertragbar, es kann weder verschenkt noch vererbt werden. Es ist nicht verĂ€uĂerbar, es kann nicht belehnt werden, es ist in seinem Naturell etwas anderes als ein Sparbuch oder Wertpapierdepot. Je nachdem fĂŒr welche Variante man sich schlussendlich entscheidet, gewisse EinschrĂ€nkungen und Probleme sind jedenfalls damit verbunden und sollten bei der Interpretation der Resultate bedacht werden.
Nicht wirklich einfacher wird es bei der Frage des immateriellen Vermögens. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu prĂ€gte das Bild der mehrdimensionalen Natur des Kapitals (Bourdieu 1986). Neben dem oft im Blickpunkt stehenden ökonomischen Kapital, sind auch noch soziales und kulturelles Kapital von Bedeutung. Das soziale Kapital setzt sich aus Netzwerken und den sozialen Beziehungen zusammen, sowohl untereinander aber auch zu den politischen, journalistischen und akademischen Eliten. Dieses Netzwerk kann einerseits als Sicherheitsnetz fungieren, noch wichtiger ist aber dessen Rolle als Katalysator. Erst diese sozialen Kontakte ermöglichen es den individuellen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen PrĂ€ferenzen Bedeutung zu verleihen, ihre Wertvorstellungen auf die anderen Eliten und die Schaltstellen der Macht zu ĂŒbertragen und damit den Lauf der Dinge in die gewĂŒnschte Richtung zu lenken. Neben dem möglich-machenden sozialen Kapital fungiert das kulturelle Kapital eher als Abgrenzung und Identifikation der Eliten untereinander. Der spezielle Habitus signalisiert wer dazugehört und offenbart gleichzeitig auch wer mit den Ritualen nicht vertraut ist. Diese unterschiedlichen Formen des Kapitals, existieren nicht unabhĂ€ngig voneinander. Sie sind vielmehr korreliert und bedingen einander. Ebenso wie die materielle Form des Kapitals, können sie von Generation zu Generation weitergegeben und gepflegt werden. Aber trotz ihrer entscheidenden Bedeutung, werden diese Dimensionen des Kapitals bei der Messung des Vermögens bisher nicht berĂŒcksichtigt. Ohne Zweifel: Dies ist auch kein leichtes Unterfangen. Die Forschung hat in diesem Bereich noch viele Herausforderungen zu bewĂ€ltigen. Nichts desto trotz ist es fĂŒr eine vollstĂ€ndige Vermessung des Reichtums unerlĂ€sslich auch alle Dimensionen des Kapitals zu berĂŒcksichtigen. Machen wir das nicht, bleibt es im wahrsten Sinne des Wortes beim unermesslichen Reichtum. Dem Anspruch, die mehrdimensionale Bedeutung des Vermögens auf die LebensrealitĂ€ten der Menschen zu quantifizieren, wird damit schon per Definition nicht GenĂŒge getan.
Mit all diesen Herausforderungen im Hinterkopf, wollen wir nun einen Ăberblick ĂŒber die gĂ€ngigen AnsĂ€tze zur Messung von Reichtum und Vermögensungleichheit anbieten. Unser Streifzug durch die verschiedenen Möglichkeiten, deren StĂ€rken, SchwĂ€chen und Implikationen, ist folgendermaĂen gestaltet: Im nĂ€chsten Abschnitt diskutieren wir die Bedeutung der verfĂŒgbaren Daten und gesellschaftlichen Rahmenbedingen fĂŒr unser VerstĂ€ndnis der RealitĂ€t. Danach besprechen wir gĂ€ngige grafische ReprĂ€sentationen der Vermögensverteilung sowie numerische Indikatoren, die versuchen die Streuung der Vermögen einer Gesellschaft in eine einzige Zahl zu gieĂen. AbschlieĂend werden die Vor- und Nachteile der MaĂe nochmals herausgestrichen und mit den EinschĂ€tzungen einer kleinen Gruppe von ĂkonomInnen verglichen.
1.2. Daten: Ausschlaggebendes Fundament fĂŒr jede Messung
Die Bedeutung der Daten kann nicht zu hoch eingeschĂ€tzt werden. Sie sind das Fundament und der Ausgangspunkt fĂŒr jede Messung von Reichtum. Damit sind sie ausschlaggebend fĂŒr unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Im Vergleich zur Messung von Einkommen und dessen Verteilung, ist die Vermessung von Reichtum immer noch viel weniger standardisiert. WĂ€hrend die statistische Erfassung von Einkommen durch sozialstatistische Behörden (wie beispielsweise Statistik Austria in Ăsterreich) auf eine lange Tradition verweisen kann und in den meisten LĂ€ndern Usus geworden ist, haben jĂ€hrliche Berichte ĂŒber die Entwicklung und Verteilung des Vermögens bislang keine Ă€hnliche Verbreitung erlangt. Woran liegt das? Wie so oft spielen mehrere Faktoren zusammen, die nicht einfach voneinander zu trennen sind.
1.2.1. Konzeptuelle Unterschiede zwischen Einkommen und Vermögen
Im Gegensatz zu Einkommen ist Vermögen keine Fluss- sondern eine BestandsgröĂe. Der aktuelle Vermögensbestand ist das Ergebnis jahrelanger Akkumulation, im Falle von Familiendynastien oder ganzen Gesellschaften nicht selten sogar ein Prozess der seit Jahrhunderten andauert. Das Objekt der Messung bezieht sich somit zumindest in seiner Entstehung auf einen viel lĂ€ngeren Zeitraum als die Erfassung der Einkommen einer bestimmten Periode, beispielsweise eines Jahres. Es wĂ€re nun legitim zu argumentieren, dieser Aspekt sei nicht von Relevanz, da fĂŒr uns nur der aggregierte Bestand an einem wohldefinierten Stichtag von Interesse sei. Dass dies nicht so einfach weggewischt werden kann, zeigt sich deutlich an der Frage der Bewertung des Vermögens.
Die reine Anzahl an werthaltigen GegenstĂ€nden festzustellen ist, nach einer abgrenzenden Definition welche Objekte hier ĂŒberhaupt mit einbezogen werden sollen, zwar aufwendig aber dennoch relativ einfach durchfĂŒhrbar. So ist es beispielsweise ein Leichtes die Zahl der HĂ€user in einer StraĂe festzustellen, jedem Einzelnen dieser Objekte einen Wert zuzuordnen ist dagegen ungleich schwieriger. Ăblicherweise orientiert sich dieser an dem Transaktionswert, also dem Betrag der sich am Markt durch eine VerĂ€uĂerung des Objektes erzielen lassen wĂŒrde. Liegt die letzte Transaktion des Objekts schon lĂ€nger zurĂŒck, ist der damalige Tauschwert wohl nur in den seltensten FĂ€llen ein reprĂ€sentativer SchĂ€tzwert fĂŒr den aktuellen Wert des Objekts.
WĂ€hrend also fĂŒr eine Einkommensstatistik nur alle Transaktionen in einer bestimmten Periode aufgezeichnet werden mĂŒssen, sind Vermögensstatistiken schon auf einer konzeptuellen Ebene viel stĂ€rker auf die AbschĂ€tzung bzw. Bewertung des Vermögensbestandes auf Basis vergleichbarer Transaktionen angewiesen. Umso weniger vergleichbare Transaktionen in zeitlicher NĂ€he zum Stichtag stattfinden, umso herausfordernder und gleichzeitig unsicherer ist die Bestimmung des Vermögenswerts.
1.2.2. Steuerrecht als AnknĂŒpfungspunkt fĂŒr statistische Erfassung
Im Gegensatz zu den eben festgestellten Unterschieden zwischen Einkommen und Vermögen gibt es aber auch eine bedeutende Gemeinsamkeit: Das Steuerrecht ist oft der entscheidende AnknĂŒpfungspunkt fĂŒr eine umfassende statistische Erfassung. Im Falle der Einkommen aus ErwerbstĂ€tigkeit gibt es einen klaren administrativen Zweck â die Feststellung der Steuerschuld â der zur Aufzeichnung der Daten auf individueller Ebene fĂŒhrt. Fehlt dieser Zweck, fehlen oft auch die die Aufzeichnungen darĂŒber.
Zwei Beispiele, die diesen Punkt eindringlich illustrieren, sind die Endbesteuerung der KapitalertrĂ€ge (in Ăsterreich und kurzzeitig Deutschland) und die Abschaffung der Erbschafts- und Schenkungssteuer (in Ăsterreich). Da die Besteuerung der Kapitaleinkommen von den restlichen EinkĂŒnften abgetrennt wurde und von den Banken direkt im Aggregat an die Finanzbehörden abgefĂŒhrt wird, sind KapitalertrĂ€ge und deren Verteilung auch nicht mehr in den offiziellen Einkommensstatistiken enthalten. FĂŒr die unentgeltlichen VermögensĂŒbertragungen gilt dies analog. Seit dem Auslaufen der Erbschafts- und Schenkungssteuer werden auch keine Aufzeichnungen ĂŒber Summe der ĂŒbertragenen Vermögenswerte gefĂŒhrt.
Der gesellschaftspolitische Aushandlungsprozess ĂŒber die Ausgestaltung der steuerrechtlichen Rahmenbedingungen betrifft somit nicht nur die individuelle Belastung unterschiedlicher Interessensgruppen, sondern entscheidet massiv ĂŒber unsere Wahrnehmung bzw. Konstruktion der Wirklichkeit und somit auch darĂŒber welches gesellschaftliche Bewusstsein und welche Diskussionen ĂŒber die jeweiligen VerhĂ€ltnisse ĂŒberhaupt entstehen können.
1.2.3. Administrative Daten vs. Stichprobenerhebungen
Erhebungsform, Datenaufbereitung und die Art der Veröffentlichung unterscheiden sich bei unterschiedlichen Datenquellen teilweise betrÀchtlich. Dies erfordert eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit den spezifischen Eigenschaften und Eigenheiten des zu analysierenden Datenmaterials. Eine erste wesentliche Unterscheidungsebene ist jene des Umfanges und der Erhebungsstruktur des Datensatzes.
Vollerhebungen enthalten im Prinzip jede einzelne statistische Einheit (z.B. Personen, Haushalte oder auch Unternehmen) die eine bestimmte Eigenschaft in Hinblick auf die Erhebung erfĂŒllt. Sie sind sehr kostenaufwendig und werden hauptsĂ€chlich von öffentlichen Institutionen im Zuge de...