Editorial
Eines der ersten Hefte von âGeschichte und Region/Storia e regioneâ titelte im Jahr 1992 mit dem Wortkonstrukt âRaumBilderâ und setzte sich intensiv mit dem Ansatz der Regionalgeschichte auseinander. Diskutiert und ausgelotet wurden brauchbare UntersuchungsansĂ€tze fĂŒr einen Forschungsblick, der sich nicht mehr an der ĂŒblichen ereignispolitischen Territorialgeschichte â in der Zuspitzung des 19. und 20. Jahrhunderts an Nationalgeschichte und ihren Narrativen â orientierte, sondern auf kleinere RĂ€ume und deren Logiken richtete.1 Die dadurch entstehenden âRaumBilderâ bekamen damit konsequenterweise eine andere Form. Noch nicht im Fokus stand, wie diese RĂ€ume konkret konstruiert wurden.
Mittlerweile ist die Kategorie Raum in vieler Historikerinnen und Historiker Mund und Feder und droht inflationĂ€r gebraucht zu werden. Mit ihrem Sammelband zum âSpatial Turnâ legten Jörg Döring und Tristan Thielmann 2008 eine interdisziplinĂ€re Bestandsaufnahme sowie Zusammenschau vor und regten die Diskussion an, inwiefern das Einbeziehen von Raum in den unterschiedlichen Fachdisziplinen tatsĂ€chlich neu war beziehungsweise wie sich die verschiedenen AnsĂ€tze verĂ€ndert hatten.2 Susanne Rau bereitete 2013 die theoretischen â philosophischen und soziologischen â Grundlagen von Raumkonzeptionen in ihrer Anwendung auf geschichtswissenschaftliche Untersuchungen auf.3 Beide Grundlagenwerke demonstrieren die extrem weite Bandbreite möglicher Herangehensweisen an ein Arbeiten mit Raum. Um zu fruchtbaren Ergebnissen zu kommen, ist es daher zunĂ€chst notwendig, die zugrundeliegende Vorstellung von Raum klar zu definieren.
Raum lĂ€sst sich entweder als Container-Raum oder aber als konstruierter Raum begreifen. Die Idee eines Container-Raums geht von der Annahme aus, dass sich Menschen in einem vorgegebenen, statischen Raum bewegen, der das Handeln fĂŒr alle gleichermaĂen vorstrukturiere. In diesem Fall wĂŒrde eine Untersuchung von Raum wenig Sinn machen. Anders sieht es jedoch aus, wenn Raum als soziale Konstruktion aufgefasst wird, die von jedem Menschen vorgenommen wird. Martina Löw definiert Raum demnach als âeine relationale (An) Ordnung von Lebewesen und sozialen GĂŒternâ, die durch Platzierung und VerknĂŒpfung entstehe.4 Konkretisiert durch Gabriela B. Christmann bedeutet dies, dass Personen im Handeln âFlĂ€chen, GegenstĂ€nde, Pflanzen, Tiere, aber auch andere Subjekte sowie deren Handlungsweisen und soziale Ordnungenâ wahrnehmen, sie einem Raum zuordnen und ihm auf diese Weise bestimmte Bedeutungen zuschreiben. In der Kommunikation, im gemeinsamen Handeln einer sozialen Gruppe erfolgen damit einhergehend Austausch und Abgleichung dieser subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen von Raum.5 Zugleich bilden sich durch wiederholende HandlungsvollzĂŒge Routinen aus, die diese sozialen Strukturen stets wieder neu herstellen, bestĂ€tigen und verfestigen. Auf diese Weise entsteht ein Orientierungsrahmen fĂŒr das weitere Handeln, der zugleich Sicherheit vermittelt.6 Raumwissen und Raumhandeln sind dabei eng aufeinander bezogen. Das im Handeln konkret erfahrene und sichtbare RaumgefĂŒge wirkt durch die Wahrnehmung wieder auf die Raumvorstellungen der Akteure und Akteurinnen zurĂŒck.7
Raumstrukturen mit ihren Bedeutungszuschreibungen unterliegen und unterlagen immer wieder VerĂ€nderungen, bedingt beispielsweise durch technische Neuerungen, UmwelteinflĂŒsse oder neue Herrschaftsund Verwaltungsstrukturen. Raumhandeln und Raumwissen passten sich an, indem sich etwa durch eine neue Art der Fortbewegung der Blick auf den Raum und die eigene Verortung Ă€nderte. Gehen solche Umgestaltungen ĂŒber lĂ€ngere ZeitrĂ€ume hinweg vor sich, können sie leichter in die jeweiligen Raumkonzeptionen integriert werden. Kommt es jedoch zu plötzlichen VerĂ€nderungen, fĂŒhrt dies hĂ€ufig zu Konflikten, weil sie als Eingriff in die eigene Ordnung und Orientierung wahrgenommen werden.
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn es zur Umsetzung von Verwaltungsreformen kommt. Hier treffen AnsĂ€tze zur Analyse von Raumkonstruktionen auf die neuere Verwaltungsgeschichte.8 Im Sinne einer Kulturgeschichte der Verwaltung hat man sich hier von der einseitig als Topdown-Prozess gedachten Vorstellung einer âHerrschaftsverdichtungâ verabschiedet und nimmt vermehrt das eigenstĂ€ndige beziehungsweise sich teilweise ergĂ€nzende Agieren auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen bis hin zu den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Blick.9 In gleicher Weise liegt auch das Forschungsinteresse zum Raum auf den Konstruktionen aller beteiligten Akteure und Akteurinnen.
In Zeiten von grundlegenden VerwaltungsverĂ€nderungen trafen verschiedene Raumvorstellungen aufeinander. Wenn beispielsweise eine Herrschaft beabsichtigte, in einem Gebiet eine neue Ordnung zu implementieren, trat diese in der Folge meist in Konkurrenz zur Raumwahrnehmung und Raumnutzung der dort lebenden Bevölkerung.10 Damit ergeben sich Fragen nach den Reaktionen auf die Neuordnungsversuche â etwa in Form von Anpassung oder Widerstand. Wurden Möglichkeiten gefunden, an alten Strukturen festzuhalten oder konnten die neuen Strukturen fĂŒr eigene Zwecke genutzt werden? Wie konnte Orientierung und Sicherheit im Raumhandeln wiederhergestellt werden?
Alle vier BeitrĂ€ge des vorliegenden Heftes beschĂ€ftigen sich mit der Implementierung oder mit Implementierungsversuchen von neuen Verwaltungsstrukturen, die die bestehenden Raumkonstruktionen herausforderten. Die jeweiligen Zugriffe der Autorin und der Autoren setzen dabei unterschiedlich an â teils ĂŒberschneiden sich ihre thematischen Blickrichtungen, teils fĂŒhren sie neue Aspekte ein. SchauplĂ€tze der Raumkonstruktionen sind zunĂ€chst im Beitrag von Attila Magyar die zwei Komitate Bodrog und BĂĄcs im wiedereroberten habsburgischen SĂŒdungarn, deren genaue Verortung und Grenzen es festzustellen galt. Davide De Franco untersucht zwei TĂ€ler in den Westalpen, die Region um Briançon und Valsesia â beide mit Privilegien und Freiheiten ausgestattet â, und ihren Umgang mit den VerĂ€nderungen, die sich durch die Besitznahme durch Savoyen ergaben. An diese beiden Untersuchungen des frĂŒhen 18. Jahrhunderts schlieĂt Margret Friedrichs Studie zu dem in den österreichischen LĂ€ndern zur Mitte des Jahrhunderts neu eingefĂŒhrten Behördentyp â dem Kreisamt â am Beispiel Tirol an. Das bedeutete das Einweben einer neuen Raumebene, die in Konkurrenz zur alten Raumanordnung von Vierteln und Gerichten trat. Die Raumkonstruktionen in Milan HlavaÄkas Beitrag ĂŒber Böhmen in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts waren hingegen sprachlich geprĂ€gt. Durch die Verwendung von Tschechisch oder Deutsch als Ă€uĂere (im Kontakt der Behörden mit der Bevölkerung) und innere (der Kommunikation innerhalb der Behörden) Amtssprache konnte Raum in nuancierten Facetten markiert und abgesteckt und damit eingenommen werden â sowohl in Hinblick auf den Umgang mit den Vorschriften aus Wien als auch auf das Agieren der autonomen Behörden, die selbst ĂŒber die Sprachverwendung entscheiden konnten.
Ein Weg zur Raumanalyse fĂŒhrt ĂŒber die beteiligten Akteurinnen und Akteure und damit auch ĂŒber die Frage der hierarchischen Ebenen â entlang der Ăberlegung, wer auf welche Weise Raum konstruierte. Dabei werden unterschiedliche Raumvorstellungen sichtbar. Im Fall von SĂŒdungarn hatten die habsburgischen MilitĂ€rfĂŒhrer schon gegen Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen an der Errichtung einer MilitĂ€rgrenze gearbeitet, wĂ€hrend sich der ungarische Adel fĂŒr die Wiederherstellung der Komitate einsetzte â und auf die alte Autonomie in der lokalen Herrschaft und Verwaltung hoffte. Trotz anfĂ€nglicher Ablehnung des Hofkriegsrats kam das Zentrum in Wien dem Adel schlieĂlich entgegen und bewilligte die Komitatsstruktur. Damit war der neue Raum grob bestimmt, die Komitate formal eingerichtet. GrĂŒndungsversammlungen machten jedoch die Unsicherheit in der genauen Bestimmung des Raums deutlich. Nach 150 Jahren osmanischer Herrschaft und Herrschaftsstrukturen waren die Grenzen nicht mehr bekannt, sondern mussten erst rekonstruiert werden. Damit begann ein Aushandlungsprozess, der weniger alte RĂ€ume wiederherstellte, sondern vielmehr neue schuf. In der Region um Briançon und Valsesia stellte das Beschicken des Rats durch Vertreter des weitgehend selbstverwalteten Gebiets ein zentrales Element der Raumkonstruktion dar. Diese Handlungsroutine spiegelte das privilegierte rechtliche VerhĂ€ltnis zur ĂŒbergeordneten Herrschaft â die Akteure im Tal konnten vieles selbst regeln, Ansuchen der Bevölkerung waren vor diesem Rat vorzubringen. Erst mit dem Wechsel an das Haus Savoyen, das im 18. Jahrhundert eine intensive Reformphase durchlief, musste die Raumkonstruktion angepasst werden. Die Wege zum neuen Zentrum in Turin verĂ€nderten den Raum und die Blickrichtung. Als Konstruktion des Raums lĂ€sst sich auch die Einrichtung der Kreise in Tirol beschreiben. Ăhnlich wie die Vertreter der Komitate mit der Zuordnung von Orten als Punkte der Raumdefinition arbeiteten, wurden auch den Kreisen die bisherigen Verwaltungseinheiten, die Gerichte, zugeteilt und sie darĂŒber definiert.
Die Untersuchung von Verwaltungspraktiken lĂ€sst Einblicke in das Raumwissen und Raumhandeln der Bevölkerung zu, indem etwa Eingaben, Berichte und Visitationen â verbunden mit âlokalem Augenscheinâ11 â den Verwalteten die Möglichkeit boten, sich zu artikulieren.12 So konnten in SĂŒdungarn nicht nur die Vertreter beider Komitate Beweise vorlegen, sondern in einem âAugenscheinâ wurde auch die Bevölkerung auf ihr Wissen ĂŒber und ihre Vorstellungen zu den RĂ€umen befragt. Die zunehmende Mitbestimmung der Akteure in Turin hatte fĂŒr die Talbevölkerung in der Region um Briançon und Valsesia nicht nur einschrĂ€nkende Folgen: Durch diese erweiterte Raumkonstruktion kam dieser auch die Möglichkeit zu, sich im Sinn einer Dreieckskommunikation13 direkt bei ĂŒbergeordneten Behörden ĂŒber die Eliten des Tals zu beschweren. Eine Ă€hnliche Kommunikation fand auch in Tirol statt. Zu den Aufgaben der KreishauptmĂ€nner gehörten regelmĂ€Ăige Visitationen, bei denen sie zum einen ihren Raum bereisten und ihn damit handelnd definierten sowie zum anderen mit der Bevölkerung in direkten Kontakt traten. Nachdem die neue Raumstruktur zunĂ€chst sowohl von der Bevölkerung als auch von den untergeordneten Richtern und BĂŒrgermeistern nach Möglichkeit ignoriert und umgangen worden war, avancierten die KreishauptmĂ€nner schlieĂlich zur direkten Anlaufstelle fĂŒr Anliegen der Bevölkerung. Durch dieses Handeln wurden die neuen Raumstrukturen in die eigene Raumkonstruktion eingebaut.
In dem AusmaĂ, in dem die jeweiligen Raumkonstruktionen Orientierung und Sicherheit ermöglichen, spielen sie auch eine zentrale Rolle in Identifikationsprozessen. Die Befragung der Bevölkerung in den Komitaten Bodrog und BĂĄcs hatte Schilderungen zu Tage gefördert, dass etwa Kinder beim notwendigen Verlassen der alten, durch die Osmanen eroberten Komitate zur Erinnerung an den Ohren gezogen oder gepeitscht worden waren, um den Raum in Erinnerung zu behalten. Manche Komitatsstrukturen waren in die Ferne, ins Exil, verlegt und damit die Raumstrukturen dorthin ĂŒbertragen worden. In Böhmen verlief die â zumindest öffentlich stark gemachte â Identifikation im 19. Jahrhundert vermehrt ĂŒber die Zugehörigkeit zur deutschen oder tschechischen Sprachgemeinschaft. So gab es sowohl von Wien aus Versuche, den Raum entsprechend der Sprachen umzuordnen, als auch Initiativen der Bevölkerung selbst, innerhalb der autonomen Verwaltungseinheiten, sich anderen Bezirken zuzuordnen, zu denen man vermeintlich besser passte. Dabei spielte nicht nur die Sprache eine Rolle â als Argument wurden auch NĂ€he und Ferne oder StraĂenverbindungen ins Spiel gebracht, die auf diese Weise als Komponenten der Raumkonstruktion erscheinen.
Je nach Potential der verwendeten Quellen nĂ€hern sich also die BeitrĂ€ge der Frage der Raumkonstruktion auf unterschiedliche Weise. Deutlich wird jedoch, dass die Zusammenschau von Raumhandeln der unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen und deren Bedeutungszuschreibung RĂŒckschlĂŒsse auf ihre Raumvorstellungen und ĂŒber deren Strukturiertheit auf ihre sozialen Ordnungsvorstellungen ermöglicht â und damit einen lohnenswerten historischen Zugang darstellt.
Ellinor Forster
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