Kapitel 1: Wie?
Lesson Study, praktisch
Claudia Mewald
Lesson Study â Definitionen und Grundlagen
In diesem Abschnitt werden wichtige Begriffe aus dem Bereich der Lesson Study erklĂ€rt und Grundlagen fĂŒr die DurchfĂŒhrung von Lesson Study erlĂ€utert. Wichtige Begriffe, die kursiv gedruckt sind, finden sich auch im Glossar. WeiterfĂŒhrende Literatur und nĂŒtzliche Internetquellen: https://www.ph-noe.ac.at/lessonstudy/
1. Definitionen
Lesson Study ist eine Form der kollaborativen Unterrichtsforschung, deren Ursprung in japanischen Primarschulen zu finden ist, wo sie jugyĆ kenkyĆ« genannt wird. Im Zentrum jeder Lesson Study steht das Lernen der SchĂŒler/innen, welches durch die Zusammenarbeit eines Teams von LehrkrĂ€ften möglichst effektiv gefördert werden soll. Indem Lesson Study das Augenmerk auf das Lernen legt, wird sie zur Forschung fĂŒr das Lernen und gleichzeitig zum natĂŒrlichen Bestandteil einer förderlichen Lernumgebung. Kein anderer Forschungsansatz ist so nahe am Unterrichtsgeschehen und so intensiv und direkt am Unterrichtsergebnis, dem Lernen der SchĂŒler/innen, angelegt. Die Stimme der Lernenden ist aus diesem Grund in jeder Lesson Study ein feststehender Bestandteil des Entscheidungsfindungsprozesses, denn die Lernenden sind durch ihr Handeln beim Lernen und ihr Feedback ĂŒber ihr Lernen aktiv am Forschungsprozess beteiligt. Dadurch wird möglich gemacht, dass sie vom Prozess profitieren und dass ihre Lernerfahrungen auf der Basis ihres Verhaltens sowie ihrer Berichte förderlich verĂ€ndert werden können.
Im Rahmen einer Lesson Study arbeiten LehrkrÀfte in kleinen Gruppen gemeinsam mit einem oder mehreren Wissenspartnern an einer Unterrichtseinheit oder einer ganzen Unterrichtssequenz, die Forschungsstunde genannt wird. Jede Forschungsstunde widmet sich zumindest einem konkreten Aspekt des Lernens. In der Gruppe werden Lernziele diskutiert, praktische Unterrichtsideen gesammelt und es wird eine gemeinsame Planung erstellt.
Abb. 1: LehrkrÀfte und Wissenspartner planen Forschungsstunden kollaborativ
Die Gruppe legt im Rahmen der gemeinsamen Planung auch fest, wer den Unterricht durchfĂŒhren wird und welche Personen das Lernen konkreter SchĂŒler/innen beobachten werden. Nach dem Unterricht werden möglichst zeitnah kurze Interviews mit den beobachteten SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern ĂŒber ihre Lernerfahrungen durchgefĂŒhrt.
Abb. 2: Eine Lehrkraft unterrichtet, andere beobachten und befragen ausgewĂ€hlte SchĂŒler/innen
Alle Beobachtungen und das Feedback der SchĂŒler/innen flieĂen in ein ReflexionsgesprĂ€ch ein, welches die Gruppe anschlieĂend hĂ€lt. In diesem GesprĂ€ch werden alle Beobachtungen, Informationen aus Interviews sowie die persönlichen EindrĂŒcke der LehrkrĂ€fte durch Triangulation in Verbindung gebracht. AuĂerdem werden Ăberlegungen angestellt, wie das Lernen zu unterstĂŒtzen oder zu verĂ€ndern wĂ€re, um die geplanten Ziele zu erreichen.
Abb. 3: ReflexionsgesprÀch
Meistens folgen ein bis zwei weitere Zyklen (Forschungsstunden, Beobachtungen, Interviews und ReflexionsgesprÀche), bevor die Ergebnisse einer Lesson Study zusammengefasst und anderen LehrkrÀften zugÀnglich gemacht werden. Das Teilen von Erkenntnissen und Entwicklungen durch Lesson Study kann im kleinen Rahmen in Form von Fachkonferenzen bis hin zu Publikationen oder öffentlichen Forschungsstunden erfolgen. Jede Form des Teilens spielt eine wichtige Rolle im Rahmen einer Studie, weil möglichst viele LehrkrÀfte von den Erfahrungen ihrer Kolleginnen und Kollegen durch Lesson Study profitieren können sollten.
2. Organisation
Lesson Study kann in einzelnen Schulen, auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene organisiert werden. Je nach Organisationsform werden sich die Ziele der Lesson Study unterscheiden.
Abb. 4: Organisationsformen
Einzelne Schulen orientieren ihre Forschungsschwerpunkte meistens an spezifischen Inhalten, Fertigkeiten oder Kompetenzbereichen, die vermittelt und gefördert werden sollen. GröĂere Netzwerke haben hingegen generell weiter gefasste Ziele. Schwerpunkte können fachspezifisch angelegt werden, fĂ€cherĂŒbergreifend wirken oder im Bereich des ĂŒberfachlichen Lernens liegen.
Beispiele fĂŒr Schwerpunkte/Forschungsziele |
fachspezifisch | fĂ€cherĂŒbergreifend | ĂŒberfachlich |
ZusammenhĂ€nge zwischen bestimmten mathematischen Operationen und dem tĂ€glichen Leben erkennen | Mathematische Prozesse und Ergebnisse in lebensweltlicher Sprache darstellen | VorschlĂ€ge fĂŒr Lösungswege klar ausdrĂŒcken und begrĂŒnden sowie die Ideen anderer akzeptieren und wertschĂ€tzen |
Sachtexte verfassen und dabei definierte fachliche sowie sprachliche LernzuwĂ€chse erzielen | In Projektarbeit verfasste Texte illustrieren und prĂ€sentieren | MitschĂŒler/innen zu Wort kommen lassen sowie Feedback höflich formulieren und annehmen können |
ZusammenhĂ€nge zwischen Klima und Naturkatastrophen kennen | Konzepte zur Verbesserung des ökologischen Zustandes der eigenen Lebenswelt mĂŒndlich prĂ€sentieren | Ăkologische SchulrĂ€ume entwickeln |
Tierkörper und Volumina wahrnehmen, grafische und plastische Gestaltungstechniken anwenden und Körper-Raum-Probleme lösen | Sinnliche Erfahrungen und intensive grafische und plastische Auseinandersetzung mit dem persönlichen Lieblingstier des Waldes in eine szenische oder narrative Darstellung ĂŒbertragen | GesprĂ€chs- und ReflexionsanlĂ€sse durch vergleichende Beschreibungen mit Kunstwerken (z. B. Alberto Giacomettis Bronzefiguren) wahrnehmen |
Ein Werk der Kinder- oder Jugendliteratur sinnerfassend lesen und prĂ€sentieren | Ein Werk der Kinder- oder Jugendliteratur als TheaterstĂŒck adaptieren und auffĂŒhren | Aufgaben in einem Theaterprojekt wahrnehmen, ihre Bedeutung im Entstehen des Ganzen erkennen und kritisches sowie wertschĂ€tzendes Feedback geben und annehmen |
Tab. 1: Schwerpunkte und Forschungsziele
Wollen Schulen an gröĂeren Themenbereichen arbeiten, können mehrere Lesson Studies zu einem Forschungsschwerpunkt auf unterschiedlichen Schulstufen durchgefĂŒhrt werden.
Eine beliebte Form des Teilens von Erkenntnissen und Entwicklungen durch Lesson Study sind offene Schul- und KlassentĂŒren (Open Classrooms) und das Vorstellen von öffentlichen Forschungsstunden, die von zahlreichen LehrkrĂ€ften, oft aus einem oder mehreren Schulbezirken, besucht werden können. Dadurch werden Lesson Studies aus einzelnen Schulen zu Professionalisierungsangeboten fĂŒr ganze Regionen.
In Japan wird Lesson Study auch auf nationaler Ebene von enthusiastischen und erfahrenen LehrkrĂ€ften durchgefĂŒhrt. Deren Forschungsstunden werden meist im Rahmen groĂer Konferenzen gezeigt. Oft werden dabei aktuelle Entwicklungen oder neue Lehr- und Lernformen prĂ€sentiert.
Abb. 5: Open Classroom at Khookham Pittayasan School (Inprasitha, 2015)
Egal wie groĂ oder klein eine Lesson Study konzipiert ist, die beteiligten LehrkrĂ€fte können jederzeit FachkrĂ€fte zur kollaborativen Forschungsarbeit einladen. Diese Wissenspartner unterstĂŒtzen die Lesson-Study-Teams bei ihren Planungen und gegebenenfalls auch bei der DurchfĂŒhrung von Unterricht sowie bei der Analyse von Beobachtungen und Interviews (Lesson Study Bericht: siehe Anhang und Website). Sie bringen immer dort ihr Fachwissen gezielt ein, wo es von den LehrkrĂ€ften fĂŒr wichtig erachtet wird. Zusammen wird an einem gemeinsamen VerstĂ€ndnis zum Lerngegenstand gearbeitet, und theoretische Grundlagen fĂŒr das Lernen werden kollaborativ erkundet. Jeder Lesson Study liegt daher ein gemeinsames VerstĂ€ndnis zu einer konkreten Lerntheorie zugrunde.
Abb. 6: Wissenspartner arbeiten mit LehrkrÀften an Forschungsstunden
Manchmal kommen Wissenspartner aus der eigenen oder aus Partnerschulen, die an der Lesson Study beteiligt sind. So wird durch Lesson Study vorhandenes Wissen im Kollegium gezielt geteilt, lernförderlich weiterentwickelt und multipliziert. Gibt es keine internen Wissenspartner, die an der Lesson Study mitwirken wollen, können Schulleitungen ĂŒber Institutionen der Lehrerbildung bei der Vermittlung von Wissenspartnern behilflich sein.
Eine Lesson Study umfasst, Àhnlich der Aktionsforschung (Elliott, 2007; Elliott, 2012), meistens mehrere Zyklen (siehe Abb. 7).
Abb. 7: Lesson Study im Ăberblick
Wissenspartner können in jeder Phase des zyklischen Forschungsablaufs mitarbeiten und bringen vor allem bei der Planung der Forschungsstunden ihr fachspezifisches Wissen ein. Sie sorgen dafĂŒr, dass der Fokus auf das Lernen und die Lerntheorie nie verloren geht. Dabei kollaborieren sie mit den LehrkrĂ€ften, die den Wissensstand, die Lernvoraussetzungen und Bereitschaft der SchĂŒler/innen kennen. Die LehrkrĂ€fte legen gemeinsam mit den Wissenspartnern die Lernziele fest und entwickeln die Beschreibung der erwarteten Lernergebnisse (Deskriptoren), insbesondere in Hinblick auf die FallschĂŒler/innen, die beobachtet werden sollen. Sie dokumentieren ihr Lerndesign vor der Forschungsstunde und integrieren nach der Implementierung ihre Aufzeichnungen aus den Beobachtungen. Dies geschieht noch vor den ReflexionsgesprĂ€chen, in denen auf die Aufzeichnungen zurĂŒckgegriffen werden kann. Ebenso werden Informationen aus den Interviews mit den FallschĂŒlern und FallschĂŒlerinnen möglichst vor den gemeinsamen GesprĂ€chen dokumentiert.
Manche Forschungsfragen sind offen und das Lernverhalten der SchĂŒler/innen kann weder auf kognitiver noch auf sozialer Ebene vorhergesagt werden. In solchen FĂ€llen werden die Lerndesigns dennoch kollaborativ geplant, die Beobachtungen jedoch offen und ohne gezielten Fokus auf konkrete Performanzen belassen. Interviewfragen werden spontan oder nach kurzer Besprechung der LehrkrĂ€fte und Wissenspartner formuliert.
Diese Triangulation von Daten aus unterschiedlichen Quellen und Perspektiven aus Beobachtungen und Interviews ist der GlaubwĂŒrdigkeit und Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse zutrĂ€glich.
3. Planung
Die Planung einer Forschungsstunde stĂŒtzt sich auf zwei Orientierungspunkte: die curricularen Vorgaben und die spezifischen LernbedĂŒrfnisse der Gruppe der SchĂŒler/innen. Das groĂe Ziel einer Lesson Study ist beiden Orientierungspunkten ĂŒbergeordnet und unterstĂŒtzt mit einem entsprechenden Weitblick dabei, die aufbauenden Lernziele auf die lebensweltlichen Aspekte des groĂen Ziels zu fokussieren. Lernziele werden als Meilensteine auf dem Weg zum groĂen Ziel betrachtet und als Kann-Beschreibungen formuliert. Ausgehend vom Kernziel, welches jenes Lernergebnis beschreibt, das von den meisten Lernenden erzielt werden soll und den curricularen Erwartungen entspricht, werden auch jene Ziele formuliert, die auf dem Weg zum Kernziel erreicht werden. Ebenso wird jenes Lernergebnis beschrieben, das eine ErfĂŒllung ĂŒber das Kernziel hinaus darstellen wĂŒrde.
Diese Abstufung ist sinnvoll, weil eine klare Darstellung des antizipierten Lernprozesses bei der Deta...