I. VerÀstelungen
Die Karte
Rabstein, Herbst 2010
Die Sache, von der ich erzĂ€hlen will, wie soll ich sagen, sie hat alles auf den Kopf gestellt: mein Leben, das VerhĂ€ltnis zu meiner Mamme, mein SelbstverstĂ€ndnis. Sie hat mich lange Zeit total ĂŒberfordert. Was genau war, wie es sich zusammenfĂŒgte und was es bedeutete, wurde mir nie ganz klar, denn keiner der Beteiligten wollte reden. Nur eines war sicher: Die Mamme hatte ihn geliebt! Sie musste ihn geliebt haben! Der ganze Rest war ein PuzzlestĂŒck nach dem anderen aus einer alten Schuhschachtel. Und was mich anging â ein Gerechter kĂ€me möglicherweise zum Schluss, ich hĂ€tte mich in ihre FuĂstapfen begeben, ein prinzipienloses ChamĂ€leon wie sie. Ich könnte es ihm nicht verargen.
So fing es an. Anfang JĂ€nner 1967 bekam ich eine Karte von Emma. (Ich nannte meine Mutter, seit ich denken konnte, bei ihrem Vornamen, ich kann das nicht genau erklĂ€ren, aber irgendwie war sie fĂŒr mich nach dem Bruch mit Enzo nicht die Mamme, die ich mir wĂŒnschte.)
âLiebe Kleine, komm unbedingt heim zu deinem 21. Geburtstag! Bitte sei so gut, tu mir diese Liebe!â
Ich fragte mich, was sie mir so dringend zu sagen hĂ€tte, was nicht auch am Telefon hĂ€tte besprochen werden können. War sie krank? Was war passiert? Sie neigte eigentlich nicht zu dramatischen Ăbertreibungen. Inmitten meiner Abnabelungsphase von alten Bindungen und Mustern versetzte mich der Gedanke einer irgendwie auseinanderfallenden Mutter in unangenehme GefĂŒhlswallungen. Zudem, das sage ich frei heraus, Ă€rgerte mich das Wort âheimâ, das sie gebrauchte, denn âdaheimâ war fĂŒr mich immer noch Bozen und nicht dieses Dorf Rabstein, wo sie seit meiner Matura lebte.
Ich war nach der Matura mit dem Cello nach Salzburg gezogen, um am Mozarteum zu studieren. Nach Rabstein fuhr ich zu dem Zeitpunkt nicht oft, denn ich wollte endlich dort bleiben, wo das Leben lebendig war und mein Einsatz einen Sinn ergab. Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie viel Enthusiasmus ich an die verschiedensten Protestaktionen vergeudet habe. Anfangs war sogar das Cello mit von der Partie. Absurd, nicht? Aber damals hielt ich es fĂŒr angebrachte Streitkultur. Ich nahm mein Instrument zum Beispiel mit auf die Demo gegen den Schah-Besuch in Deutschland. Leider. Ein Guadagnini aus Turin! Wie blöd kann man sein! Wir hatten uns in der NĂ€he des Landestheaters platziert. Circa zwanzig Kameraden im Kreis um mich herum, Banner hoch, Parolen. Ich auf einer Flaschenkiste spielte mit fliegendem Schopf wie im Rausch, was mir einfiel: âBella Ciaoâ, Mozart, Bach, die Beatles. Der Verkehr dröhnte. Die Passanten glotzten, fluchten, weil sie nicht weiterkamen, aber das war ja der Zweck: Ohne Provokation nahm der Mensch nichts wahr. Dann die nĂ€her kommenden Sirenen. Sie pferchten uns in Polizeiwagen, schmissen das Cello lieblos hinterher, den Kasten auch, lachten uns aus, von wegen Revolution, haha, wir sollten doch lieber einmal arbeiten gehen, und brachten uns aufs Revier. Einer von uns war Wehrdienstverweigerer und musste ins GefĂ€ngnis. Der Gipfel der Herzlosigkeit war jedoch, dass das Cello konfisziert wurde! Ich bekam es erst nach drei Wochen wieder und der Lahmarsch von einem Professor hatte kein VerstĂ€ndnis dafĂŒr, dass ich in der Halvorsen-Passacaglia nicht sattelfest war. Zum GlĂŒck fand ich einen anderen Prof, der mich zum nĂ€chsten Semester aufnahm. Der war in Ordnung, der distanzierte sich von den faschistoiden GroĂkopferten! Sogar bei den Streiks gegen Bildungsnotstand und die erhöhten StudiengebĂŒhren machte der mit!
Unsere Protestaktionen richteten sich hĂ€ufig auch gegen die Vereinigten Staaten, diesen gepriesenen Hort der Demokratie. Dabei konnte doch jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen, wie sich die Amis mit Brachialgewalt und ungezĂŒgeltem Kapitalismus ĂŒber die Welt hermachten. Aber die wenigsten hatten eine Ahnung davon, was in Vietnam wirklich passierte oder wie brisant die atomare Kriegsgefahr war, denn die Presse informierte kaum, die lullte bloĂ ein, schaltete gleich und lieĂ das Establishment fröhlich weitermachen mit dem Vertuschen und Drangsalieren und Melken der einfachen BĂŒrger.
Da musste sich doch einmal jemand fĂŒr die Wahrheitsfindung ins Zeug legen, da musste doch jemand das Unrecht vor Ort heraussezieren und die grassierende Stumpfheit gegenĂŒber der Politik durchbrechen! Genau das taten wir. Wir klĂ€rten auf, damit die Bevölkerung nicht wie zu Hitlers Zeiten wegschauen konnte.
Damals wimmelte es nur so von Ex-Nazi-Bonzen im öffentlichen Leben, die den Leuten Honig ins Hirn schmierten, auf dass sie die Opfer des NS-Regimes vergaĂen. Höchste Zeit, dass die Menschen wachgerĂŒttelt wurden! Die Naziverbrechen durften nicht unter einem blumigen Teppich verschwinden! Waren nicht schon die VerjĂ€hrungsdebatten absurd? Die Nebel des Schweigens mussten ein fĂŒr alle Mal zerrissen werden, die Sauereien unserer Eltern endlich aufhören! War es denn möglich, dass die Leute aus zwei Weltkriegen rein gar nichts gelernt hatten?
Ich hatte zudem einen persönlichen Beweggrund fĂŒr mein Engagement. Verwandte von mir waren umgebracht worden. Im Massaker der Deutschen in SantâAnna di Stazzema am 12. August 1944. Die Nonna hatte mir die Geschichte von klein auf eingetrichtert, wenn ich die Sommer bei Enzo in La Spezia verbrachte. Sie war selber dem Tod nur knapp entkommen. Hinauf durch Wald und GestrĂŒpp war sie gehetzt, einer ihrer Schuhe steckt vermutlich heute noch im Bachbett, das sie durchqueren musste. Sie hatte sich an Eichen-Schösslingen hochgezogen, immer höher hinauf in die Berge, wo sich der Nonno versteckt hielt, wĂ€hrend hinter ihr die Welt zusammenbrach.
Die Arme keuchte wie eine Lungenkranke, wenn sie erzĂ€hlte. Die BestialitĂ€t schnitt ihr jedes Mal die Luft ab und doch musste sie reden. Sie sah immer die störrische Zia Elisa vor sich, ihre Ă€lteste Tochter, deren Namen ich bekommen habe. Die hatte sich geweigert mitzukommen, die hatte darauf bestanden, zu Hause zu bleiben. Warum das Baby unnötig aufwecken, hatte sie gesagt. Der kleine Livio war gerade einmal drei Monate alt. Von den Warnungen hielt sie nichts. Sie war ĂŒberzeugt davon, dass die Tedeschi Frauen und Kinder in Ruhe lieĂen. Aber wie sich herausstellte, war sie einem Gehirnfurz erlegen, denn sie wurden zusammengetrieben, ausnahmslos alle, auf dem Kirchplatz oder in irgendwelchen Stallungen oder Hinterhöfen erschossen und anschlieĂend verbrannt. Alle. Frauen, Kinder, Alte. Die HĂ€user zerstört. Noch wochenlang der Brandgeruch.
Jeden Sommer erzĂ€hlte mir die Nonna dieselbe Geschichte. Sie redete wie unter Zwang, schnaufte, streichelte mir die Hand und sah mich an mit ihren grĂŒn gesprenkelten Eulenaugen. Je Ă€lter sie wurde, desto leiser, rauchiger wurde ihre Stimme. SchlieĂlich hauchte sie ihren Bericht nur mehr: von verkohlten Menschenhaufen; von Gestank; von vielen (um die fĂŒnfhundert) Toten. Das war sozusagen ihre Hinterlassenschaft fĂŒr mich.
Heute ist mir der Armadio della Vergogna ein Begriff. Der sogenannte Schrank der Schande stand jahrzehntelang versiegelt und mit der TĂŒr zur Wand im Palazzo Cesi-Gaddi in Rom, im Sitz der MilitĂ€rstaatsanwaltschaft. In diesem Schrank wurden die Akten ĂŒber deutsche Kriegsverbrechen in Italien aus politischem Opportunismus ganz bewusst dem Vergessen preisgegeben. Erst 1994, zwei Jahre vor Emmas Tod, wurden sie âwiedergefundenâ. Zu spĂ€t, denn da waren die meisten Verantwortlichen im Ausland oder tot oder vergreist oder es gab Probleme mit der ZustĂ€ndigkeit.
In Salzburg jedenfalls hatte keiner meiner Freunde von den Massakern, von denen meine Nonna berichtete, je etwas gehört. Und ich hatte keine Ahnung von der bewussten Unterschlagung der Wahrheit.
Mein Studentenleben war also gekennzeichnet von einem oft nahezu schwĂ€rmerischen politischen Eifer. Ein Stipendium der SĂŒdtiroler Landesregierung sorgte fĂŒr Unterkunft und Verpflegung. ZusĂ€tzlich brachten mir kleine Finanzspritzen Emmas und kurze Auftritte â hie und da eine Hochzeit, eine Eröffnungsfeier, ein Adventskonzert â etwas ein. Finanziell hielt ich mich also ĂŒber Wasser. Alles in allem war ich frei und ausgefĂŒllt und das passte mir so. Dann kam diese Karte.
Emma
Rabstein, 1922â1936
Was die Kleine nicht wusste, war, dass Emma in den Wochen vor dem besagten Geburtstag, wenn sie einmal einschlief, von AngsttrĂ€umen heimgesucht wurde. Auch tagsĂŒber schaute sie besorgt aus dem Fenster, sei es auf den zerwĂŒhlten Schulhof, wĂ€hrend die SchĂŒler mit gebeugten Köpfen ĂŒber einer Arbeit saĂen, oder von ihrer KĂŒche auf den glĂ€nzenden Strang der Bahngleise, stets irgendeine Bedrohung des Leibes oder der Seele erwartend.
Wenn es ihr nur gelÀnge, sich ein kleines bisschen in den Kopf ihrer Tochter zu denken! Sie selber war doch auch einmal jung gewesen, jedoch im Gegensatz zu der Kleinen nichts anderes als ein gehorsames Kind, auch als ihr die Umgebung immer mehr auf die Nerven ging. In ihrer Generation zÀhlte LoyalitÀt noch mehr als alles andere und die erwartete sie irgendwie auch von der Kleinen.
Also mĂŒndeten die GrĂŒbeleien Emmas meistens in den Entschluss, die spröde Widersetzlichkeit ihres Sprosses so gut es ging zu ignorieren oder als vorĂŒbergehenden Entwicklungsabschnitt wegzuerklĂ€ren. Aber tief verborgen im GestrĂŒpp der Denkschaltungen im Gehirn wucherte die Furcht, dass im Grunde ein Versagen ihrerseits vorlag, ein Versagen, das sich ihr allerdings nur bruchstĂŒckhaft offenbaren wollte und daher umso mehr die EnttĂ€uschung, den Frust und das UnverstĂ€ndnis schĂŒrte. Trotzdem trat sie der Kleinen bei jedem ihrer spĂ€rlichen Besuche mit einer Art von grimmiger Liebe entgegen, die keine Widerrede duldete und mit der sie die Ahnung von dem diffusen Scheitern kaschierte.
Emmas Aufwachsen fiel in das Chaos von Okkupation und Krieg, allerdings innerhalb einer Gesellschaftsordnung, die auf einem Bewusstsein von Zugehörigkeit aufbaute.
Sie wurde als Emma Egger im Jahre 1922 in Rabstein geboren, einem Dorf im Herzen SĂŒdtirols. Die Ortschaft lag von steilen Talflanken umrahmt am Schnittpunkt von zwei TĂ€lern. Aufgrund dieser verkehrsstrategischen Lage war Rabstein seit k. u. k. Zeiten ein Eisenbahnknoten, an dem alle ZĂŒge hielten.
Die Rabsteiner arbeiteten entweder bei der Eisenbahn oder in der Pappfabrik. Emmas Vater ĂŒberlieĂ den Italienern die Eisenbahn und zog wie die meisten Einheimischen die Pappfabrik vor. Er hatte sich nach einem Holzunfall auf die Warteliste fĂŒr die Fabrik setzen lassen, denn der schlecht heilende Unterschenkelbruch machte die Waldarbeit zur Qual. Nach einem guten Jahr wurde seine Geduld belohnt und er wurde zu seiner und zur Erleichterung seiner Frau den Trocken- und LagerrĂ€umen zugeteilt.
Emmas Mutter bewirtschaftete direkt am RangiergelĂ€nde der Bahn eine Keusche mit KĂŒchengarten und Birnbaum, BienenhĂŒtte sowie Hennen- und Ziegenstall.
Geschwister hatte Emma keine, aber einen GroĂvater, der nach dem Tod der GroĂmutter die Stube belegte. Wenn Emma spĂ€ter an Rabstein dachte, dann stellte sich sofort, auch nach Jahren, der sĂ€uerliche Geruch seiner Diwandecke ein, eines steifen, brĂ€unlichen, vornehmlich aus Rosshaar angefertigten StĂŒcks. Auch im Dunst von Dampf, RuĂ und Diesel, der immer ĂŒber dem Ort hing, war sie daheim. Sogar der BĂ€rlauch konnte im FrĂŒhling mit seinem grĂŒn-saftigen Aroma, das vom Waldrand herunterwehte, diesen Geruchsschleier nicht durchdringen. Das BahnhofsgebĂ€ude selber stank immer etwas nach Pissoir. Ansonsten war Rabstein die Tankstelle, wo es nach Benzin, Ăl und Leder roch, das Posthotel, wo Pferdedung vorherrschte, und die Kirche mit der weihrauchigen Winterluft.
Wie ĂŒberall war das Gotteshaus der Ort, an dem alle wichtigen Rituale des Menschenlebens stattfanden, Taufen, Erstkommunionen, SchĂŒlermessen, Hochzeiten, BegrĂ€bnisse, ohne aber eine allzu starke PrĂ€gung in Emma zu hinterlassen. Sonst konnte sich Emma, was ihr Aufwachsen anging, abgesehen vom Olfaktorischen, nur mehr an einen Mischmasch aus traurigen Objekten erinnern: an die Lederschuhe, die immer unbequem waren, an das Plumpsklo hinter dem Haus, an die welke BlĂŒte in Vaters Hutschnur, an den gesprungenen Waschtischspiegel, an die Romane aus dem Volksboten, von der Mutter ausgeschnitten und zusammengeheftet in einer Schachtel aufbewahrt â keine irgendwie erhebende Literatur, bloĂ eine geistlose Baroness nach der anderen oder eine brave Bauernmagd und ihre böse reiche Widersacherin, die beide denselben Jungbauern wollten.
Auf die BauernmĂ€dchen des Orts war Emma nie neidisch. Feld- und Stallarbeit waren langweilig bis eklig, das stellte sie fest beim obligaten Verwandtenbesuch um Allerheiligen in einem Hochgebirgstal in der NĂ€he der österreichischen Grenze. Was Baronessen anging, so kannte sie keine, ihr Leben zwischen Internat, Tennis und Reisen erschien ihr aber entschieden interessanter. Zu der Zeit wĂ€re sie allerdings schon mit dem Leben der Tochter des italienischen Bahnhofsvorstehers zufrieden gewesen. Nicht, dass Emma mit Sandra Pizzari befreundet gewesen wĂ€re. Obwohl sie in dieselbe Klasse gingen, hatte sie auĂerhalb der Schule keinen Kontakt mit den Italienerinnen. Die Mutter hatte sie nicht nur vor der Sprache der Besatzer gewarnt, sie hatte Emma auch auf einleuchtende Weise deren moralische Minderwertigkeit eingetrichtert. Das MĂ€dchen war aber nichtsdestotrotz Inhalt von Emmas SehnsĂŒchten, und diese SchwĂ€che verunsicherte sie so sehr, dass sie die vermeintliche TodsĂŒnde sogar einmal dem Pfarrer beichtete.
Sandra hatte glĂ€nzendes Kastanienhaar, das ihr in weichen Locken auf die Schultern fiel und in dem sie immer zu den Kleidern passende Schleifen trug. Sie aĂ zur Pause weiĂes Brot mit Mortadella und ĂŒbte nachher mit der dicken Grazia Seilspringen, saltare la corda â und das in schwarzen Lackschuhen! Sie hatte Eltern, die mit ihr Motorrad fuhren, sie und ihre ondulierte Mutter im Beiwagen. AuĂerdem unternahmen sie immer wieder einmal eine Bahnfahrt, irgendwohin, wo es Gold regnete, jedenfalls kam das MĂ€dchen entweder neu eingekleidet zurĂŒck oder mit einem neuen Ball oder gar einem Fahrrad.
Sandra Pizzari fĂŒhrte in Emmas Augen ein akzeptables Leben. Es lag doch auf der Hand, dass Emma in diesem unglĂŒckseligen Kaff mit diesen Eltern den KĂŒrzeren zog. Sie tat sich selber leid.
Zudem war ihr Vater mit einem ungemĂŒtlichen Grant gesegnet. Er verspĂŒrte den Wetterumschwung im Bein, die Honigbienen waren von Milben befallen, der ZiegenkĂ€se wollte ihm nicht ge...