Die Stimme des deutschen Blutes
Die Vereidigung der Sarner (Bild 14)
Die Niederschrift, erfolgt nach Akten der Reichsführung SS, trägt den harmlosen Titel „Besprechung über die Südtiroler Frage“. In Wirklichkeit wurde an jenem 23. Juni 1939 im Geheimen Staatspolizeiamt an der Berliner Prinz-Albrecht-Straße Nummer 8 über Südtirol der Stab gebrochen.
Zwölf deutschen saßen fünf italienische Delegationsmitglieder gegenüber, unter ihnen der Bozner Präfekt Giuseppe Mastromattei. Den Vorsitz führte der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler. Er beherrschte die Diskussion und hatte keinerlei Schwierigkeiten, seinen Dreistufenplan durchzubringen. Demnach sollten zunächst die in Südtirol lebenden Reichsdeutschen, dann die nichtbodengebundenen und schließlich die bodengebundenen Volksdeutschen umgesiedelt werden.
Obwohl auf der zweistündigen Sitzung in Berlin noch keinerlei konkrete Schritte getroffen wurden, war beiden Verhand lungs-delegationen das Ziel der Umsiedlung klar: die endgültige Lösung des Problems Südtirol. Die unterschiedlichen Standpunkte auf dem Weg dorthin kristallisierten sich erst später heraus: Berlin strebte eine Totalumsiedlung an, Rom wünschte bloß eine Teilumsiedlung.
In Südtirol mussten sich die beiden Diktatoren zunächst noch auf Widerstand gegen den „verbrecherischen Aussiedlungsplan“ (Friedl Volgger) gefasst machen. Doch kam er konkret nur aus den Reihen des Deutschen Verbandes, während der VKS, früher als allgemein in der Optionsgeschichtsschreibung angenommen, das Diktat aus Berlin akzeptierte.
Bereits am 29. Juni schrieb die VKS-Landesführung an alle Kreis-, Gebiets- und Ortsgruppenleiter: „Für Südtirol hat die Schicksalsstunde geschlagen.“ Angesichts der Not seines von Feinden umringten Volkes habe sich der Führer entschlossen, das Wohl Südtirols dem Wohle Deutschlands zu opfern.
„Das ist der schwerste Schlag, der uns Südtiroler treffen konnte“, wird die Berliner Entscheidung zwar noch zähneknirschend kommentiert, dann aber unterwirft sich der VKS dem Willen des Führers: „Nun, Kameraden, müssen wir als harte Soldaten dem Volke die geschworene Treue halten.“
Obwohl damit die Optionsentscheidung bereits vorweggenommen war, entschloss sich Volksgruppenführer Peter Hofer noch zu einer Befragung seiner Bewegung. „Das geht über meine Kräfte“, erinnert sich Franz von Braitenberg an einen Ausspruch Hofers. „Ich kann da nicht mehr weiter. Wir bilden einen ,Rat der Alten‘, und der soll eine Lösung finden.“
Reichsführer SS Heinrich Himmler (im Bild im Gespräch mit Mussolini) wird im Juni 1939 vom Führer mit der Gesamt planung der Umsiedlung beauftragt. (Bild 15)
So trommelte der VKS am 22. Juli seine Leute zusammen und hielt im Keller der Braitenbergvilla, dem Ansitz Oberpayrsberg am Bozner Oswaldweg Nummer 3, Rat. Braitenberg erinnert sich: „Nach kurzer Einleitung durch Peter Hofer stand einer nach dem anderen auf und berichtete über die Meinungen der Leute seines Dorfes, wie sie es machen wollten, ob sie sich auch entschließen könnten, nicht zu optieren, und ob es dabei möglich wäre, die Leute so bei der Stange zu halten, dass die Option boykottiert würde.“ Der VKS, so die Version seiner Grundhaltung nahestehender Geschichtsschreiber, kam zu dem Schluss, dass die Volksgruppe tödlich bedroht und nur durch eine möglichst geschlossene Option zu retten sei. Er habe die Zerreißung der Volksgruppe in zwei gleich ohnmächtige Teile verhindern wollen, zumal klar gewesen sei, dass mindestens 30 Prozent ohnehin abwandern würden.
Karl Nicolussi-Leck, Organisationstalent Nummer eins beim VKS, erinnert sich in einem Manuskript: „Es gab zu viele jungen Menschen, die vor verschlossenen Türen standen, zu viele Arbeitslose, Enteignete, von Existenzverlust oder Zwangsabschub nach Altitalien Bedrohte, zu viele Eltern, die ihre Kinder vor einer hoffnungslosen Zukunft bewahren wollten, und Unzählige, die das Übermaß der Unterdrückung nicht mehr länger ertragen konnten.“ Und Braitenberg war klar: „Die weichenden Söhne, die gesamte Jugend, arbeitslos und ohne anständige Schulen bzw. Ausbildungsmöglichkeiten, die wollten nichts anderes als hinaus, weg vom Faschistenmaulkorb.“ Über den Brenner kommende Urlauber hätten zudem berichtet, „dass es draußen Arbeit für jeden gibt und Ordnung herrscht“.
Insgeheim, so die weitere Darstellung aus der Sicht der Optanten, habe man allerdings gehofft, dass es bei einer großen Mehrheit für das Auswandern gar nicht dazu kommen werde. Weil eine Totalumsiedlung die Finanz- und Wirtschaftskraft Italiens überstiegen hätte, wäre sie niemals infrage gekommen. Auch habe man insgeheim immer noch damit gerechnet, „dass Hitler seine Einstellung zu Südtirol ändern werde, sobald er erkannt hätte, einen viel zu hohen Preis für ein Bündnis bezahlt zu haben, das ihn mehr belastete als unterstützte“ (Nicolussi-Leck). Die Devise deshalb: Optieren, aber nicht gehen.
Diese Art der Darstellung aus der Sicht der Optanten ist allerdings äußerst umstritten. Laut Leopold Steurer war die Optionsentscheidung des VKS nichts anderes als eine logische Folge seiner Nibelungentreue zu Deutschland. Zwar erregte man sich über die Berliner Entscheidung, die die Südtiroler als „die Treuesten aller Treuen“ nicht verdient hätten. Aber in Anbetracht „der hohen Auffassung ihrer Pflicht und ihres Gehorsams gegenüber Führer und Reich“ wären sie auch bereit gewesen, „das schwerste aller Opfer“, nämlich die Preisgabe ihrer Heimat, zu vollbringen.
So steht es dann auch in „Opfergang und Bekenntnis“: „Das Land ist endgültig dem Fremden überantwortet, und das Volk ist in das Reich gerufen, wenn es sein deutsches Volkstum bewahren will.“ Der VKS betrachtete die von Rom und Berlin diktierte Option und Umsiedlung nicht als eine Vertreibung aus der angestammten Heimat, sondern „stets war bloß die Rede vom schweren, aber bewusst in Kauf genommenem Opfer für das Reich, für den Führer, für das Gesamtvolk“ (Steurer).
Auf der einen Seite stand der VKS mit seiner nach nationalsozialistischem Muster aufgebauten und bis ins letzte Dorf reichenden Organisation. Auf der anderen befanden sich die Reste des aus christlich-sozial bis liberal orientierten Honoratioren zusammengesetzten Deutschen Verbandes, die verschiedenen Organisationen der Kirche und die katholische Presse. Die Propagandaschlacht konnte beginnen.
Dass sie äußerst vehement würde, dafür hatte auch der Faschismus mit seiner Unterdrückungspolitik vorgesorgt.
„Die Italiener“, schreibt Volgger, „waren mit völliger Blindheit geschlagen. Sie hatten überhaupt keine Ahnung, was sich in Südtirol anbahnte.“ So fuhren sie mit ihren Drohungen und Schikanen munter fort.
Im Juli verfügte die Regierung, dass die Gasthöfe das weibliche Personal entlassen und dafür männliches aus den norditalienischen Provinzen einstellen müssten. Sämtliche Touristen mussten innerhalb kurzer Zeit das Land verlassen. Den Besitzern von Tabaktrafiken wurde verboten, mit den Kunden deutsch zu sprechen.
Wer sind die Abwanderer?
Arbeitsscheue, Wirtshausbummler,
Bierstrategen, Nazitrummer,
Glaubenslose, Kirchenfeinde,
Aufgehetzte, Streitesfreunde,
Deutschbastarden, Baglioten,
Die sprechen von Hottentotten,
Solche, die vor lauter Schulden
Den Faschismus nicht mehr dulden,
Solche, die, o Missgeschick,
Mit dem Gericht stets in Konflikt,
Freche Mädels, grüne Buben,
Kaum entwachsen den Kinderstuben;
Weiters solche, die dann sagen:
Lieber hungern als in Nudeln begraben!
Das sind jene, die mit Behagen
Glauben, man wird ihnen nichts versagen.
Bauern, die in dummem Grolle
Feig verlassen Haus und Scholle,
Aufgehetzt von Lügenmäulern,
stürzen sich ins Abenteuer.
Doch sie alle starten mit froher Natur
Und bringen nach Polen die deutsche Kultur.
Sie verlassen freudig der Heimat Erde.
Sie! Die angeblich Hofers Erben.
So Dumme gibt’s, wenn’s jemand wundert
laut Statistik 70 von hundert.“
Spottgedicht auf die Abwanderer
Weil die Assimilierung nicht so rasch voranschritt, forcierte Rom das Tempo der italienischen Einwanderung. Die Bozner Industriezone wurde aus dem Boden gestampft, kein Südtiroler durfte bei der Errichtung oder in den neu geschaffenen Betrieben beschäftigt werden. Für die italienischen Einwanderer wurde ein riesiger Komplex von Wohnbauten errichtet, beste Obst- und Weinbaugründe wurden quadratkilometerweise enteignet.
Unter Ausnutzung der Notlage vieler Südtiroler Bauernhöfe eignete sich das „Ente di Rinascita Agraria per le Tre Venezie“ bis 1939 etwa 350 Höfe an. Nach den Versteigerungen wurden darauf Italiener angesiedelt. Es gab auch Zwangsenteignungen, für die nur Spottgelder bezahlt wurden. Eine Petition von 14.000 Südtiroler Grundbesitzern an Benito Mussolini verhallte. „Wir stehen“, kommentierte man die Vorkommnisse beim VKS, „vor einem Abgrund.“
In diese Situation platzte wie eine Bombe die Nachricht einer wahrscheinlichen Zwangsdeportation der Nicht-Umsiedlungswilligen in andere italienische Regionen, nach Sizilien oder Abessinien, zumindest aber in Gegenden „südlich des Po“. Diese „Sizilianische Legende“, wie sie später bezeichnet wurde, hat in der ganzen Propaganda für und gegen die Option eine zentrale Rolle gespielt und die Entscheidung, für die deutsche Staatsbürger...