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Wider die europÀische Ohnmacht
Die Lehre der kleinen NationalitÀten
Vor ein paar Jahren machte ich in den Vereinigten Staaten von Amerika eine merkwĂŒrdige europĂ€ische Erfahrung. In einem Provinznest in Connecticut hatten wir ein Motel bezogen, an dessen Swimmingpool von vormittags um zehn bis abends um zweiundzwanzig Uhr ein freundlicher Bursche mit schmalem Gesicht und rötlichem Haarschopf seinen Dienst versah. Er hatte darauf zu achten, dass niemand in dem drei mal drei Meter groĂen Becken ertrinke oder durch einen ungestĂŒm ins Wasser springenden Rowdy verletzt werde. Er saĂ den ganzen Tag auf seinem Klappstuhl, studierte eifrig ein Wörterbuch, aus dem er sich einzelne Wendungen in ein Schulheft notierte, und hatte nicht viel zu tun, weil wir die einzigen GĂ€ste und ĂŒberdies vorsichtig genug waren, uns den Gefahren des BadevergnĂŒgens erst gar nicht auszusetzen.
Nachdem ich mehrmals an ihm vorbeigegangen war, stets mit einem aufmerksamen Kopfnicken bedacht, lag es nahe, an diesem menschenverlassenen, wie aus der Zeit gefallenen Ort ein paar Worte mit dem strebsam gelangweilten Bademeister zu wechseln. Es stellte sich heraus, dass er aus Albanien stammte, vor einem Jahr mit der Green Card ins Land gekommen war und bereits tĂŒchtig daran arbeitete, seinen albanischen Traum von Amerika zu verwirklichen. Als er hörte, dass ich aus Ăsterreich kam, begann er zu strahlen und es fehlte nicht viel, dass er mich umarmt hĂ€tte, so beglĂŒckt war er von der Tatsache, hier im Nordosten der Vereinigten Staaten einen Nachbarn zu treffen, einen neighbour, wie er sagte; fast so etwas wie einen Verwandten schien er in mir zu erblicken, zumindest aber einen Landsmann, dem man im Notfall beistehen und den man jedenfalls ein wenig ausfragen musste, wie sich die Dinge in der Heimat inzwischen entwickelt hatten.
Dass Ăsterreich und Albanien Nachbarn seien, wird in Europa kaum jemand behaupten, aus der Ferne eines anderen Kontinents, der Distanz einer neuen Lebenserfahrung aber rĂŒcken unsere LĂ€nder zusammen. Der Bursche war sich keineswegs im Unklaren ĂŒber die geographischen Gegebenheiten Europas, er sah sie jedoch, im Unterschied zu uns, die wir hier leben, in ihren groĂen Umrissen, und nahm den Kontinent, den er verlassen hatte, wie selbstverstĂ€ndlich als Ganzes. Er hatte völlig Recht, nur wir, die wir unsere Arbeit nicht in der Fremde suchen mĂŒssen, haben vergessen, wo wir eigentlich zuhause sind. Schon lĂ€ngst sind die VerklĂ€rer und die VerĂ€chter Europas, diese ungleichen Zwillinge, in die Minderheit geraten gegenĂŒber jenen, die ihren Kontinent weder in gewohnheitsmĂ€Ăiger Begeisterung zu rĂŒhmen noch leidenschaftlich angewidert zu verwerfen pflegen, die ihn vielmehr schlicht vergessen haben.
Die allgemeine und gleiche Amnesie ist aber ein fragwĂŒrdiges Menschenrecht. Wem das historische Bewusstsein, das ihm abgeht, gar nicht mehr abgeht, der wird kaum davon zu ĂŒberzeugen sein, dass es zu den Begabungen des Menschen zĂ€hlt, das Kommende vorauszutrĂ€umen, vorwegzunehmen und damit, paradox gesprochen, seine eigene Zukunft zu verĂ€ndern. Dass Europa von den EuropĂ€ern vergessen wurde, ist mehr als eine bittere Pointe auf die wirtschaftliche und politische Einigung ihrer LĂ€nder. Der Sinn fĂŒr die Vergangenheit geht vielmehr zugleich mit dem Selbstvertrauen verloren, seine Zukunft auch selbst gestalten zu können. Wer sich und seine Existenz nicht in einem historischen, wenigstens in einem familiengeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen vermag, dem kommt mit der Vergangenheit auch die Zukunft abhanden, er wird sie, wenn sie begonnen hat, und das ist immer schon morgen, stets als etwas erfahren, auf das er keinerlei Einfluss nehmen kann, als etwas Fremdes, das ihm vom Schicksal, von anonymen MĂ€chten oder den lĂ€ngst geradezu mythisierten BrĂŒsseler BĂŒrokraten zugefĂŒgt wird. Auf die Idee, dass seine Zukunft auch von ihm selber abhĂ€nge, kann der gedĂ€chtnislose als der wahrlich ohnmĂ€chtige Mensch nicht kommen.
Kein Zweifel, âEuropaâ stand bei den EuropĂ€ern in höherem Ansehen, als noch der Eiserne Vorhang durch den Kontinent schnitt und ein jeder Staat seiner angemaĂten GröĂe und vermeintlichen, in Wahrheit gerade damals erheblich reduzierten SouverĂ€nitĂ€t verpflichtet war. Zu Zeiten des Kalten Krieges war Europa das Andere zur Enge des Nationalstaates, zur Borniertheit des BĂŒndnissystems, zur Zwangsordnung der Volksdemokratien, zu den Gefahren von Wirtschaftskrisen und Kriegen. Fragt man die EuropĂ€er hingegen heute nach Europa, nach der Union, fĂŒhlt man sich angesichts von so viel Ahnungslosigkeit in eigenen Angelegenheiten betrĂŒblich an die Weisheit der Kabbala erinnert, die da lehrt, dass âdas Unwissen des Unwissenden das Wissen des Wissenden ĂŒbertrifft, weil der Wissende nie so viel weiĂ, wie der Unwissende nicht weiĂâ.
Dass die EuropĂ€er sich kaum fĂŒr Europa interessieren, kann man larmoyant beklagen oder mit bitterem Hohn kommentieren: die Schuld wird beide Male dem dummen Volk zugewiesen, das unfĂ€hig wie unwillig sei, sich dem rasanten ökonomischen Wandel anzupassen und die neuen Möglichkeiten zu nĂŒtzen, die sich ihm in einem Europa bieten, das dem TĂŒchtigen und dem Neugierigen so viele Grenzen und Begrenzungen aus dem Weg gerĂ€umt hat. Solche Kritik ist billig und hilflos zugleich. Wichtiger wĂ€re es zu fragen, warum uns das Interesse fĂŒr uns selber, fĂŒr die nĂ€chsten und fĂŒr die ferneren Nachbarn, sagen wir: die albanischen Landsleute abhanden gekommen ist â ein Interesse, das viele durchaus verspĂŒrten, solange Europa ein Versprechen, keine RealitĂ€t war. NatĂŒrlich hat es mit einer Erfahrung der Ohnmacht zu tun, und wir werden keiner Generation weltoffener und begeisterter, aufbruchsbereiter und selbstbewusster EuropĂ€er den Weg gebahnt haben, bis dieses lĂ€hmende GefĂŒhl der Ohnmacht nicht beseitigt ist. Doch hören wir nicht alle Tage, dass die Menschen ihre Geschichte nicht selber machen, sondern dass es der Zwang der Sachen, die unentrinnbare Logik der ökonomischen Entwicklung, die wie theologische Dogmen anerkannten Gesetze des Marktes sind, die uns gar keine Entscheidung lassen? Werden wir nicht alle Tage belehrt, dass wir uns dem Sog der globalen Modernisierung nur bei Strafe des Untergangs entziehen können und es nicht darauf ankommt, was wir, auch in europĂ€ischen Angelegenheiten, fĂŒr richtig halten, sondern ob wir uns unaufhaltsamen Prozessen so flexibel und willfĂ€hrig wie möglich anzupassen bereit sind?
Wie sollte, da die EuropÀer aller LÀnder darin unterwiesen werden, dass mit der europÀischen Einigung eine Dynamik entfesselt wurde, der sie sich zu ihrem eigenen Nutzen nur ergeben können, das Selbstbewusstsein wachsen, dass sie, diese Hunderten Millionen, an ihrem eigenen Schicksal etwas Àndern können? Nur dann aber könnte aus diesem Europa ihr Europa werden. Wer Ohnmacht lehrt, kann nicht demokratisches Engagement erwarten.
Ich weiĂ nicht, woher es rĂŒhrt, dass ich schon in meiner Jugend von den kleinen, den randstĂ€ndigen europĂ€ischen NationalitĂ€ten so fasziniert war; ich weiĂ nicht, wann und warum ich schon als junger Mensch auf die Minderheiten gekommen bin, die es auf keinen eigenen Staat gebracht noch einen solchen in ihrer Geschichte je angestrebt haben. Ich weiĂ aber, dass ich bei ihnen, bei den Aromunen in Mazedonien und in Griechenland, den Sorben im Osten Deutschlands, bei den Karaimen in Litauen, den Zimbern im Gebirge Norditaliens, den Kaschuben in Polen, den Ruthenen der Ostslowakei und der Westukraine, den versprengten Deutschen Bessarabiens, dass ich bei diesen und anderen Minderheiten ein Europa gefunden habe, ohne das mir das prĂ€chtige und mĂ€chtige Europa, wie es sich zuerst wirtschaftlich zusammengeschlossen hat und nun endlich auch politisch zu formieren beginnt, Ă€rmer und unvollstĂ€ndig erschiene. Die kleinen, kulturell immer um ihr Ăberleben kĂ€mpfenden NationalitĂ€ten, die oft missachteten, im besten Falle mit paternalistischem Wohlwollen betrachteten Minderheiten gelten hĂ€ufig als sympathische oder renitente Ăberbleibsel einer Welt von gestern. Doch war und ist es keine völkische Romantik, nicht die Liebe zum imaginĂ€ren Museum, in dem die sterbenden EuropĂ€er ausgestellt werden, was mich an ihnen fasziniert und, ja, zunehmend bewegt und begeistert hat. Vielmehr gehört dieses Wissen zu ihren historischen Ur-Erfahrungen: dass man nur dann eine Zukunft hat, wenn man sich in seiner Gegenwart nicht in beflissener GedĂ€chtnislosigkeit zu behaupten versucht.
Minderheiten können nĂ€mlich nur ĂŒberleben, wenn sie sich ihre Vergangenheit, ihre Herkunft, die BedrĂ€ngnisse und Niederlagen ihrer Vorfahren, ihren Kampf um Selbstbehauptung immer wieder und neu vergegenwĂ€rtigen. Verlieren sie die kollektive Erinnerung, das Interesse dafĂŒr, wie sie zu dem wurden, was sie sind, haben sie schon verloren. Das GefĂŒhl der Ohnmacht können sie sich einfach nicht leisten, sie mĂŒssen daran glauben, dass es nicht allein von ihren Gegnern und auch nicht von global wirksamen Strukturen abhĂ€ngt, ob es sie auch weiterhin geben wird, sondern von ihrer Leidenschaft, ihrem Beharren, ihrem Stolz.
NatĂŒrlich bin ich auf den Reisen zu den anderen, den unbekannten, den randstĂ€ndigen EuropĂ€ern auch auf Borniertheit, auf den narzisstischen Stolz gestoĂen, der die kleinen Unterschiede groĂ und heilig sprechen möchte. Aber viel öfter bin ich Menschen begegnet, die so frei waren, nicht einer NationalitĂ€t alleine zuzugehören, sondern sich gewissermaĂen als national und kulturell multiple Persönlichkeiten zu entwerfen. Die ArbĂ«reshĂ«, um jetzt nur sie fĂŒr viele andere Minderheiten zu erwĂ€hnen, die ArbĂ«reshĂ« Kalabriens sind ĂŒber ein halbes Jahrtausend Albaner geblieben, sie haben sich die Sprache, die sie nach Italien mitnahmen, nicht nehmen lassen, und auch nicht bestimmte religiöse und kulturelle Besonderheiten; aber sie sind zugleich Italiener geworden, wenngleich es schon ziemlich lange her ist, dass Garibaldi ihren italienischen Patriotismus und ihre Tapferkeit im italienischen Einigungskampf rĂŒhmte, und es dann sehr lange, beschĂ€mend lange dauerte, nĂ€mlich bis ans Ende des 20. Jahrhunderts, dass sie in Italien als Minderheit auch anerkannt wurden.
Sie sind Albaner und Italiener â und sie sind EuropĂ€er, wie ich sie mir denke: Als ich sie in ihren Dörfern im Gebirge besuchte, lernte ich bei ihnen einen Sozialcharakter kennen, den es gemÀà fortschrittlicher Doktrin gar nicht geben kann, nĂ€mlich den weltoffenen HinterwĂ€ldler, den weit gereisten Provinzler, den aufgeklĂ€rten, freigeistigen Verfechter uralter Traditionen und Sitten. Die ArbĂ«reshĂ« sind selbstbewusste EuropĂ€er, und nicht nur einmal wurde ich von ihnen auf einen bemerkenswerten Sachverhalt aufmerksam gemacht, dass nĂ€mlich all die schmucken Heimatmuseen, die sie in den letzten Jahren errichtet haben, nicht etwa den Hinweis tragen, dass dieses Museum, jenes Kulturhaus von der Region Kalabrien und der italienischen Regierung gefördert wurde. Nein, all diese fĂŒr die ArbĂ«reshĂ« so wichtigen StĂ€tten, in denen sie einander und ihrer Geschichte begegnen können, sind von den ArbĂ«reshĂ« selber gebaut â und im Sprung ĂŒber den italienischen Nationalstaat hinaus gleich mit Mitteln der EuropĂ€ischen Union gefördert worden.
Sie werden sich fragen: Wohin zielt diese Rede, die bei einem jungen Albaner beginnt, der in Amerika die Ăsterreicher fĂŒr Landsleute hĂ€lt, und zu den ArbĂ«reshĂ« im Gebirge Kalabriens fĂŒhrt, die sich widerspenstig ihre Eigenheiten bewahren und doch fĂŒr alles Neue, das Europa zu bieten hat, offen sind? Nun, ich möchte Ihre Geduld nicht ĂŒber GebĂŒhr beanspruchen, sondern abrupt mit einem Bekenntnis enden: Ich glaube, dass uns der Blick aus der Ferne manchmal einfache Dinge, die wir vergessen haben, in Erinnerung rufen kann â und ich bin ĂŒberzeugt davon, dass die kleinen NationalitĂ€ten, die von alters her schon um ihres eigenen Ăberlebens willen die alltĂ€gliche GrenzĂŒberschreitung praktizierten, nicht die romantische Nachhut, sondern vielmehr die Avantgarde jenes Europa sind, das erst entsteht. Gerade darum gilt es sie zu respektieren und zu studieren; und zu begreifen, dass Europa, das viel gepriesene, viel geschmĂ€hte, von dem wir oft am liebsten schon gar nichts mehr hören wollen, immer noch Terra incognita ist.
Rede zum Kongress âEvropa, svet in humanost v. 21. Stoletju. Dialog kulturi â dialog med kulturamiâ (Europa, die Welt und die Menschheit im 21. Jahrhundert. Kultur des Dialogs â Dialog zwischen den Kulturen), gehalten in Ljubljana am 9. April 2008 im Grandhotel Union
Die Roma und wir
Zum Internationalen Tag der Roma
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Im Sommer 2014 war ich einige Wochen in Bulgarien unterwegs, einem Land, reich an landschaftlicher Schönheit und mit herzergreifend armen Landstrichen, die aussahen, als wĂ€ren sie von ihren Bewohnern verlassen worden. Fast kam mir vor, die einzigen, die ihren Weilern, Dörfern, kleinen StĂ€dten die Treue gehalten und geblieben waren, wĂ€ren die Roma gewesen. Ich habe es in Bulgarien mit hilfsbereiten und aufgeklĂ€rten Menschen, mit nationalen, liberalen, konservativen, sozialistischen Leuten zu tun bekommen, aber den Eindruck gewonnen, das Einzige, was sie alle noch eint, das ist die gemeinsame Verachtung der Roma. Was die Roma auch tun, ob sie betteln oder die StraĂen fegen, als Tagelöhner auf dem verödeten Land ihr karges Auskommen finden oder in den StĂ€dten zu einigem Wohlstand gekommen sind: man wirft es ihnen immer vor, ihre Armut und ihren Wohlstand, ihre RandstĂ€ndigkeit und ihren Erfolg. Sind sie arm, gelten sie fĂŒr faul, schuften sie bei der MĂŒllabfuhr, dann haben sie diesen Posten nur dank der unablĂ€ssigen BemĂŒhung der Kommunen ergaunert, sie vom Stehlen ab- und zur Arbeit anzuhalten; sind gerade keine von ihnen in der Innenstadt zu sehen, sitzen sie sicher irgendwo in ihren dreckigen Siedlungen und hecken Böses aus, geht einer von ihnen gut gekleidet mit einer Aktentasche vorbei, dann handelt es sich natĂŒrlich um einen Ganoven, der seinen Status dem Verbrechen verdankt.
Was fĂŒr Bulgarien gilt, das ist in den allermeisten LĂ€ndern, die einst dem Ostblock zugehörten, nicht besser. Wer sich darĂŒber wundert oder gar Ă€rgert, dass in den letzten Jahren so viele Roma aus dem Osten aufgebrochen sind und in unseren schmucken StĂ€dten durch ihren schieren Anblick den Wohlstandsfrieden stören, der hat keine Ahnung, was in dem Teil Europas geschieht, aus dem sie sich auf den Weg gemacht haben. Was aber erwartet sie im anderen Teil, im Westen? Von Skandinavien bis Griechenland suchen die nationalen Regierungen nach Möglichkeiten, wie sich den Roma als einzigen EuropĂ€ern das Recht, innerhalb der EuropĂ€ischen Union ihre FreizĂŒgigkeit durchzusetzen, absprechen lieĂe. Wer aber den Roma, und nur ihnen, durch nationale Zusatzregelungen kollektiv Rechte verweigert, die zu den Rechten aller BĂŒrger der europĂ€ischen Union gehören, der mag in politischen Sonntagspredigten noch so fromm vor dem Rassismus warnen, er ist doch dabei, ĂŒber die gröĂte europĂ€ische Minderheit im Reichsgebiet der Union die Apartheid zu verhĂ€ngen. Es ist der Pesthauch von âSondergesetzenâ, der aus diesen BemĂŒhungen weht, Sondergesetzen, die nur fĂŒr eine einzige Volksgruppe gelten und ĂŒber die in der Geschichte immer schon mittels Entrechtung der Weg zur Verfolgung frei gemacht wurde.
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Kann man also, wenn ĂŒber die Situation der Roma gesprochen wird, nur von Elend und Verfolgung und von sonst gar nichts berichten? Keineswegs. Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen, dass sich noch niemals so viele Menschen so sehr fĂŒr die Roma interessiert haben wie jetzt. Und wer etwas ĂŒber die Roma erfahren, mehr von ihnen und ihrer Geschichte wissen will, der hat heute wahrlich genĂŒgend Möglichkeiten, sich kundig zu machen. In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche BeschĂ€ftigung mit so vielen Aspekten der Geschichte, Kultur, Sprache der Roma ein Niveau erreicht, das vor zwei, drei Jahrzehnten noch kaum vorstellbar war. Ăberall haben sich zudem gesellschaftliche Gruppen gebildet, die die Roma unterstĂŒtzen, ĂŒber ihre prekĂ€re Lage von heute unterrichten, aber auch ĂŒber Geschichte und Kultur der Roma informieren. Und nicht zuletzt hat die EuropĂ€ische Union etliche Forderungen erhoben und Ziele formuliert, die ausdrĂŒcklich auf die Integration der Roma in die europĂ€ische Gesellschaft abzielen.
Das alles wĂ€re jedoch fĂŒr nichts, wenn in den letzten fĂŒnfzig Jahren nicht etwas viel Wichtigeres geschehen wĂ€re: Wenn sich nĂ€mlich nicht ĂŒberall die Roma selbst zu ihrem Wort gemeldet hĂ€tten. Heute gibt es in jedem europĂ€ischen Land eine Vielzahl von Organisationen, in denen die Roma ihre Sache in die eigenen HĂ€nde nehmen, AufklĂ€rung und Hilfe bieten und im Ăbrigen zunehmend selbstbewusst nicht nur das Elend anprangern, sondern auch von interessanten Initiativen, gelungenen Projekten, von vielerlei Erfolgen berichten. Gleichwohl ist mit Blick auf ganz Europa zu sagen, dass Millionen Roma in Ă€uĂerst schwierigen VerhĂ€ltnissen leben â und dass wir doch im selben historischen Zeitpunkt dank der Selbstorganisation der Roma und der Arbeit von Wissenschaftlern, KĂŒnstlerinnen, Menschenrechtsaktivisten, ob sie nun eine Roma-Herkunft haben oder nicht, heute viel mehr von deren Kultur wissen als frĂŒher, dass wir diese Kultur besser in ihren Eigenheiten und in ihren ZusammenhĂ€ngen mit der Kultur der Nicht-Roma verstehen, ihren Reichtum erkennen, ĂŒber ihre Vielfalt staunen können.
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Wo immer Roma sich ihrer Rechte besannen und ihre gerechten AnsprĂŒche erhoben, hat es mit der Erinnerung angefangen, mit der persönlichen und der kollektiven Erinnerung. Mit der persönlichen Erinnerung einzelner Roma und Romnija, die sich daran erinnerten, wie ihre Eltern und GroĂeltern, wie sie selbst gelebt und ĂŒberlebt haben und die Zeugnis davon geben wollten; mit der kollektiven Erinnerung kleiner und groĂer Gruppen, die sich ihrer Traditionen versicherten und an das Leid erinnerten, das ihnen und ihren Leuten angetan worden war. Um sich selbst in der Gegenwart zu behaupten und gegenĂŒber den Gesellschaften von heute Forderungen erheben zu können, mussten die Roma und Romnija also zuerst ihre eigene Vergangenheit entdecken.
Nun trifft aber auch auf die Roma zu, was fĂŒr uns alle gilt: Vergangenheit haben wir, Geschichte mĂŒssen wir uns erst erschaffen. Dieser Prozess vollzieht sich niemals simpel wie von selbst, im Falle der Roma aber ist er besonders kompliziert: Hatten viele von ihnen durch Missachtung und Verfolgung doch gelernt, sich mit dem, was vergangen war, nur im Geheimen, im Kreis der Familie zu beschĂ€ftigen und in der Ăffentlichkeit tunlich oft sogar zu verbergen, dass sie ĂŒberhaupt Roma waren. Wo der Nachweis, einst verfolgt worden zu sein, ĂŒblicherweise mit dem Anrecht einhergeht, als Opfer anerkannt, rehabilitiert oder gar entschĂ€digt zu werden â entschĂ€digt mit ...