Flugschnee
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Flugschnee

  1. 250 pages
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About this book

"Was macht das Glück einer Familie aus? Wenn es – neben vielen Komponenten wie der Abwesenheit von Krankheiten, sicherem Einkommen und dergleichen – gemeinsame Erinnerungen sind, die Zusammenhalt ermöglichen, miteinander gelebte Vergangenheit", so denkt Lucy an einem Dezembertag in Berlin an eine unglückliche Familie.Ihr Bruder Simon ist verschwunden. Das Nachdenken über ihn führt sie zu einem früheren Wintertag ins Haus der Großeltern in Hamburg, an dessen Ende etwas geschah, das den Kindern verschwiegen wurde. Dieses Schweigen bestimmt nicht nur die weitere Zukunft, sondern reicht auch in die Generation der Großeltern und Urgroßeltern zurück, welche sich in vielfältig Ungesagtes verstrickten, politisches, persönliches. Helene, die Großmutter, kämpft gegen Ende ihres Lebens allerdings umso vehementer um ihre Erinnerungen: jede, auch die schlechteste, ist ihr willkommen, um dem "Schmelzen im Kopf" zu widerstehen.Schnee und Stein sind in diesem Roman die Materialien, an denen die Figuren scheitern oder wachsen, an denen sie dem Bedrohlichen eine Form abzuringen, dem Zerstörerischen ein "Dennoch" entgegenzusetzen versuchen.

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Hamburg, zwanzig Jahre zuvor
Vera
Nichts. Weiß. Nichts.
Das gibt’s doch gar nicht. Da hinten ist das Haus, ja, aber –
Was ist los? Alles wackelt an mir.
Schüttelkrankheit, plötzlich.
Da lacht wer. Der Wind? Der Schnee? Simon!? Lucy!?
Nein, kein Kinderlachen. Als hätt’s euch – nie – ge–
Verloren. Verschwunden. Verschluckt.
Einfach weg. Keine Spur.
Jemand lacht. Nein. Nein. Ihr seid es nicht.
Was sind das für Stimmen … was? … Ach so … Ihr?!
Ja, ich höre Euch. Ich hör Euch genau. Das hohe Kiecksen, das kehlige Gerumpel im Hals. Mama. Vater.
Ihr fröhlichen Eltern.
Fäuste in die Hüften gestemmt. Helle Gesichter, seitwärts.
Von oben baumelt die kleine, staubige gelbe Lampe, die ihr erschüttert. Stampfende Beine. Kühlschrank, Tisch, Kredenz, Kühlschrank, Tisch…
Und ich mittendrin. Euer Küchenlandler. Linkes Schwingen, rechtes Schwingen, stampfen, drehen, steh’n.
Wochenende gab’s keines, aber zwei Tage die Woche frei –
Zwei Tage lang keine Fließbänder mehr, Vater, du und deine Kameraden in höllisch lauten Hallen bei 40 Grad, mit diesen schweißnassen Rücken zwischen den Bändern, hunderte Meter lange weiße Bänder, da darf nichts schiefgehen, nichts reißen, kein Stillstand, Tag und Nacht, Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht, und auch keine Fasern mehr für dich, Mama, die gewogen, gezählt, gemessen werden müssen, Dichte, Reißfestigkeit, Gewicht, dieses eine zarteste Faserchen, Aufschluß über die ganze Produktion, feinste Pinzetten auf schwarzem Samt, Daumen rauf, Daumen runter, aber bitte nicht in die Maschine, aufgepaßt! – hier gleiten sie herbei, Knäuel weißer Wolle mit Knötchen, auch die müssen erkannt und vermessen werden von Maschinen, die in Wahrheit Hand-Abreiß-Maschinen, Finger-Verschluck-Maschinen sind, – hohe, dünne Schreie der Frauen in den Labors, Brüllen der Männer in den Hallen – aber euch beiden ist nichts passiert, wieder nicht, alles habt ihr noch dran, Finger, Hände, Zehen, Füße, Glückspilze seid ihr, tanzen könnt ihr mit allem, was man so braucht, – ihr dreht euch, ihr lacht, jeder Tag ein Sonntag! – zum Feiern gibt’s immer einen Grund.
Daß im Kühlschrank was steht!
Daß der Ofen blubbert!
Daß es einen Kühlschrank gibt!
Daß ihr den Krieg als Kinder in Siebenbürgen überlebt habt und hierher zurückgekommen seid. Ins Landl zurück, dorthin, von wo zweihundert Jahre früher eure Ahnen deportiert wurden, falsche Religion, Sturschädel, die dem Luther nicht abschwören wollten.
Das habt ihr nie vergessen, alle Generationen hindurch nicht, das ist der feine Strick, der euch miteinander verbindet, bis in alle Ewigkeit:
Wie sie euch aufs Schiff getrieben haben, in Ketten, viele Tage lang die Donau hinunter, an den Rand der Monarchie.
Die Kinder vor allem hat’s erwischt auf dieser Fahrt, die Hälfte kam nicht lebend an, und die, die’s überstanden haben, begrüßte kein Paradies.
Auch kein Fegefeuer.
Jahre hat es gebraucht, um sich aus dem Elend herauszuarbeiten, in einem Haus zu leben, sich satt zu essen. Das haben die Alten den Jungen weitergegeben: Nichts ist selbstverständlich, arbeite, bete und lebe – mit aller Kraft.
„Über Kunst sprechen zu wollen, ohne das Schlürfende zu hören, mit dem wir den einen Fuß vor den andern schoben, wäre Vermessenheit gewesen“, – das ist nicht euer, ist schon mein Leben, da habe ich mich wiedergefunden, in diesen Sätzen der Ästhetik des Widerstands, die Mühsal, sich rauszuarbeiten aus einer Herkunft, das verbindet mich mit euch, obwohl euch andere Dinge wichtig waren, nicht Lesen, nicht Bilderbefragen, nein, eure Künste waren es, das Holz zu schichten, die Reinanke aus dem See zu fangen, mich großzuziehen, morgens um fünf in die Fabrik zu radeln.
Den Rücken gerade zu halten.
Zu lachen, zu feiern. Zu vergessen.
Vergessen ist eine Kunst, wie alles, eine besondere Kunst, man muß das Schlechte vergessen, das, was einem Böses will, die Vergangenheit muß man einpacken und wegstellen, in die hinterste Ecke und dort den Spinnweben überlassen, man muß nach vorne schauen und die Zukunft fest im Blick haben, die Erinnerungen in diversen Vergessenskammern stapeln, und jene Erinnerungen, die man nicht mehr erinnert, in einem Extraschrein aufbewahren, dem unermeßlichen Trauerschrein, der ganz tief hinabgesenkt wird ins Innerste des inneren Bergwerks – und dort nun ruhen kann als schwarzer Schatz.
Aber warum, frage ich euch, Vater, warum, Mama, geh ich wieder und wieder ins Bergwerk hinunter, nachts im Traum und öffne den Schrein und sehe die Großmutter mit gebeugtem Rücken, den Großvater, deine Eltern, Mama, denn die von Vater sind schon früh gestorben, die wohnen woanders in meinem Inneren, ich starre auf die knochigen Großeltern-Körper, ich traue mich nicht, sie umzudrehen, sie sollen mich nicht ansehen, ich will ihre Augen nicht sehen, die mir alles erzählen würden vom russischen Lager, Augen, in denen ich auch eure Kindheit finden würde, euch vorm Kirchturm herumspringend, kletternd im Apfelbaum, mit der Kuh Rosa scherzend, das fleischigweiche Maul im Nacken, eure Hände in den Himbeersträuchern am Waldrand, im Winter, eure nackten Füße im Draußen-Ofen, wie ihr die dampfenden Kuhfladen nennt, und weiter lachend, fluchend durch den Schnee, braune Spuren im Weiß, ich will die Gesichter der Großeltern nicht sehen, die nicht alt geworden sind, ich starre auf ihre gebeugten Rücken, schlage den Deckel zu, und bevor er fällt, sage ich laut ihre Namen und wache auf:
Luzia, geborene Nußbaumer, Luzia und Simon Himmelleitner, zuletzt wohnhaft in Großpold in Siebenbürgen, deportiert nach Russland an einem schneehellen Februartag im 45er Jahr.
Vater, Mama.
In die Hände klatschen, weite Münder, eure Kronen blitzen.
Es riecht nach Holz und Zucker und nassem Wald.
Wir sitzen in der Stube, um den Holztisch, der Holunder geht herum. Schnaps die Eltern, Saft für mich.
Vor uns liegt der See. Hinter uns steigt der Berg auf. Vom Berg rieselt das Wasser. Unser Haus ist klamm, manchmal heizen wir auch im August.
Vom See steigen die Nebel auf.
Mein Vater ist Arbeiter in der Spinnerei, meine Mutter im Faserlabor.
Ich zeichne, male, lerne. Ich liebe weißes Papier.
Und jetzt muß ich mich setzen. Muß mich in dieses weiße Papier hier setzen. Meine Beine – sind so steif. Kein Zittern mehr. Meine Arme starr.
Kann den Kopf kaum drehen. Wo bin ich eigentlich?
Anzeichen. Immer gibt es Anzeichen. Immer könnte etwas verhindert werden.
Es wäre doch zu hören gewesen. Nicht wahr.
Hätte doch irgendjemand hingehört. Hört Ihr, – Mama, – Vater?
Der Berg hat’s geflüstert, die Erde auch.
Wir rutschen, wir bersten, ist nicht mehr viel Zeit.
Seht ihr die Risse?
Paßt scho.
Nix wird g’schehn. So schnell kommt doch kein Berg herunter.
Hahaha. Ja, es ist zum Lachen. Alles ist zum Lachen. Ich setze mich jetzt hier hin und lache.
Alles ist möglich.
Hast nicht du das immer gesagt, Vater? Im Leben ist alles möglich.
Aber so was nicht. Doch nicht so was! Ja, Mama, das hat keiner gedacht.
Plötzlich will der Berg in den See. Der Berg beschließt eine Rutschpartie in den See hinein! Holt sich den Regen als Komplizen.
Der läßt sich nicht lange bitten!
So was darf man sich nicht entgehen lassen! Und ehrlich: Was kann der Berg dafür, daß ihm das Haus im Weg steht!
Daß die Leute so dumm sind und ihm das nicht zutrau’n!
Den Berg kann man zähmen! Wer’s glaubt.
Unser Berg, der macht so was nicht!
Dem Berg kann man Bäume abluchsen und Fangzäune andrehen, damit er Ruhe gibt.
Ha, der Berg lacht sich eins. Hat keine Lust mehr nach den paar Millionen Jahren herumstehen.
Auch ein Berg will einmal tanzen! Seine Gaudi haben!
Der Berg ist ins Haus gefallen. Der Berg und das Haus sind auf euch gefallen, mitten in der Nacht.
So haben sie es mir erzählt, ich war ja nicht dabei.
Ja, wo war ich denn? Auf einer malaysischen Insel war ich, fünf Wochen Südostasien, kein Telefon, keine Nachricht möglich.
Zweimal habe ich angerufen, die Leitung war tot. Hab’ mir nichts gedacht. Normal! Bei dieser Entfernung normal!
„Jeder Meter auf das Bild zu, das Buch, war ein Gefecht, wir krochen, schoben uns voran, unsre Lider blinzelten, manchmal brachen wir bei diesem Zwinkern in Gelächter aus, das uns ...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Widmung
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Berlin, Dezember
  7. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags
  8. Berlin, Dezember
  9. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags
  10. Berlin, Dezember
  11. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags
  12. Berlin, Dezember
  13. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, morgens
  14. Berlin, zwanzig Jahre zuvor, morgens
  15. Berlin, Dezember
  16. Berlin, zwanzig Jahre und mehr zuvor
  17. Berlin, Dezember
  18. Berlin, zwanzig Jahre zuvor, vormittags
  19. Berlin, Dezember
  20. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags
  21. Berlin, Dezember
  22. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, vormittags
  23. Berlin, Dezember
  24. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor, mittags
  25. Berlin, Dezember
  26. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor
  27. Berlin, Dezember
  28. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor
  29. Berlin, Dezember
  30. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor
  31. Berlin, Dezember
  32. Hamburg, zwanzig Jahre zuvor
  33. Berlin, Dezember
  34. Zitate aus:
  35. Danksagung