Welcome to Los Angeles
Ein scheinbar allmächtiges Auge blickt auf die verschmutze, übervölkerte Megalopolis Los Angeles im Jahr 2019. Gigantische Lichtstrahler leuchten am Horizont und Feuerbälle schießen aus den Industrieanlagen in den Himmel, während Polizeigleiter durch die Luft schwirren. BLADE RUNNER (1982) zeigt die beeindrukkende und leidlich realistischste Stadt-Vision von Los Angeles als umweltverseuchtes, multikulturelles, faszinierendes Zukunftsmekka.
Dieses Szenario zeigt die sterbende Erde, deren Gesellschaftseliten Zuflucht in der Ferne, auf Kolonialplaneten im Universum suchen. Die Schreckensvision dieses Science Fiction-Noirs ist Anfang und Ende zugleich: Es ist eine realistisch wirkende Zukunftsprojektion der Stadt und das Ende einer menschlichen Gesellschaft. Und es ist zugleich das Ende menschlicher Identität, die durch die Jagd des BLADE RUNNER-Cops Rick Deckard (Harrison Ford) auf Androiden ins Wanken gerät. L.A. stellt als Albtraumstadt nicht mehr Hoffnung und Erlösung dar, sondern zeigt die Ausweglosigkeit in einem kaum fassbaren städtischen Labyrinth. Am Ende der Jagd hängt Deckard symbolisch für die Menschheit über der Häuserschlucht am Abgrund. Sein Leben wird von einem künstlichen Menschen gerettet – Deckard stellt am Ende resigniert fest: «All he’d wanted were the same answers the rest of us want. Where do I come from? Where am I going? How long have I got?» Es sind dieselben Fragen, die die Geschichte und Zukunft von L.A. aufwerfen – eine, mitten in Wüstenlandschaft geschaffene Unstadt, die jeden Tag durch das «Big One»-Erdbeben zerstört werden könnte.
Die Daseinfrage überkommt angesichts der Stadt auch den seltsamen Auftragskiller Vincent (Tom Cruise) in COLLATERAL:
«Es gibt keinen guten oder schlechten Grund, um zu leben oder zu sterben… Millionen von Galaxien mit Hunderten von Millionen Sternen und ein Fleck in einem Augenblick. Das sind wir. Verloren im All.»
L.A. als Stadteinheit
In FLUCHT AUS L.A. (1996) kommt Endzeit-Söldner Snake Plissken (Kurt Russell) in die halbzerstörte Stadt. Ein Erdbeben hatte die Stadt vom Festland losgelöst, die daraufhin von einem streng religiösen Präsidenten zur Gefängnisinsel umfunktioniert wurde: Plissken reist per Mini-U-Boot quer durch das, im Stillen Ozean versunkene, San Fernando Valley, vorbei am Universal City-Vergnügungspark, wo der weiße Hai nach ihm schnappt. Er landet in den Hollywood Hills am Mulholland Drive und läuft zum postapokalyptischen Hollywood Boulevard, vorbei am Capitol Records Tower und Grauman’s Chinese Theater. Als er den Sunset Boulevard entlanggeht, wird er von wahnsinnigen Schönheitschirurgen im Beverly Hills Hotel gefangen genommen. Die nächtliche Reise führt über den Santa Monica Highway, auf dem verrostete Autowrackschlangen Denkmal der ewigen Staus geworden sind. Vom Olympia Stadion aus wird Plissken durch die Abwässerkanäle zum Whilshire Boulevard gespült und surft auf einer plötzlichen Welle weiter Richtung Downtown. Der Trip endet in Disneyland. Dabei springt der Film nicht willkürlich von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, sondern folgt der Stadtkarte. Die virtuelle Stadtrundfahrt!
65 FLUCHT AUS L.A.: Das versunkene San Fernando Valley
66 Die Miracle Mile vor der großen Welle
67 Der Santa Monica Boulevard
68 Hollywoods Capitol Records
69 Die Queen Mary in Downtown L.A.
70 Disneyland-Imitat
Dieser Streifzug durch das apokalyptische L.A. ist eine Reise zu typischen Drehorten. Zweifelsohne liefert jeder Film nur ein konstruiertes, ausschnitthaftes Stadtbild, das ästhetischen Reizen folgt, aber mit jedem Bild lösen wir eine Assoziationskette für ‹mental maps› aus. Außerdem folgen viele Filme den gegebenen städtischen Wegen wie KOPFÜBER IN DIE NACHT, VOLCANO und COLLATERAL.
Und zu guter Letzt zeigen uns Filme vor allem Orte, zu denen wir nie im Leben leibhaftig wollten oder von denen wir vorher noch nicht wussten.
Wo die bekanntesten Orte liegen und in welchen Filmen sie auftauchten zeigt ausführlich das Kapitel 5 Reiseführer zu den bekannten Drehschauplätzen: Die L.A.-Filmlandkarte (S. 214).
Es sind immer wieder bestimmte Orte, die der Stadt ein bekanntes Gesicht geben, so wie auch bestimmte Images bzw. Klischees entstanden sind, die «L.A.esk» sind. So ist ein Bild vom Autostau typischer für die Stadt als die weiße City Hall.
Typisch L.A. – Images und Klischees
«An L.A. gefällt mir, dass es dort Straßennamen gibt, die unglaubliche Bedeutungen haben», sagt David Lynch. «Wenn etwa jemand im Film sagt: ‹Ich wohne beim Observatorium›, dann weiß ein Kinokenner sofort, dass damit nur jenes Observatorium gemeint sein kann, bei dem Nicholas Ray …DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN drehte. So bekommt dieser Satz eine Art mythische Bedeutung, die weit über den Filminhalt hinausgeht – er bekommt eine Atmosphäre, Stimmung.»
71 Die (fiktive) Villa beim Griffith Obseratorium in …DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN
Neben den optischen Reizen eines Drehortes nutzen Filmemacher die Bedeutung von Orten und Zuständen, die in bestimmten Bildern und Klischees bzw. Mustern festgelegt sind. Lynch, der in seinen traumartigen Geschichten schnell die Logik außer Kraft setzt, ist kein nüchterner Stadtbeobachter. Doch wie kaum ein anderer hat er den postmodernen Charakter der (Film)stadt begriffen und in schizophren wirkenden Albträumen von LOST HIGHWAY und MULHOLLAND DRIVE umgesetzt.
Stadt der Lichter
Unter dem Sternenhimmel des unendlichen Universums steht in der Anfangssequenz von E.T. auf einer Waldlichtung ein UFO und kleine Aliens sammeln Pflanzen und Steine, bis sie plötzlich vor bösen Menschen panikartig die Flucht ergreifen müssen. Doch ein Alien blickt fasziniert auf das Lichtermeer von L.A., so dass er den Abflug versäumt. Sternenhimmel und Lichtermeer verschmelzen in einer Bildkollision – L.A.-Chronist Mike Davis nannte L.A. eine «Stadtgalaxis». Das aus unzähligen Mikrokosmen bestehende Universum L.A. zeigt sich als eine Stadtlandschaft, die jedoch am Tage in ihre zerfaserten Stadtviertel zerfällt. Hier zeigt sich der Widerspruch von Fiktion und Wirklichkeit der Ortsbeschreibung der Megalopolis.
72 Das Warner-Logo über dem Lichtermeer von L.A. in …DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN
Das sich schier ins Unendliche streckende Lichtermeer ist das unvergleichliche filmische Wahrzeichen der Stadt. Es fasziniert den außerirdischen E.T. ebenso wie den zeitreisenden Terminator.
In HEAT entfaltet sich im Blick von den Hollywood Hills der Zauber der Stadt. Für Gangster Neil McCauley (Robert De Niro) ist L.A. die Stadt der Lichter und er vergleicht sie mit dem Naturwunder einer leuchtenden Unterwasserlandschaft.
Das Lichtermeer bietet auch einen wunderbaren Ausklang in dem Punk-Kultfilm REPOMAN. Während der Film die ganze Zeit am Boden und in den letzten Winkeln der Stadt verharrt, hebt Punk Otto (Emilio Estevez) am Ende mit seinem Auto ab und fliegt zu Surfmusik über das nächtliche Downtown davon. Wunderbare Nachtflüge bieten Milliardär und Flugzeugnarr Howard Hughes (Leonardo DiCaprio) in AVIATOR, der Hippie Dude (Jeff Bridges) auf einem fliegenden Teppich in THE BIG LEBOWSKI und der Waffenhersteller Tony Stark (Robert Downey Jr.) in seinem Roboter-Fluganzug in IRON MAN. TERMINATOR 3 eröffnet mit einem Blick auf das Lichtermeer, in dem die erste Rakete der kommenden nuklearen Apokalypse einschlägt.
Nachts vereint sich L.A. zu einer Stadt und täuscht über den zerfaserten Stadtkosmos hinweg. Regisseur Roman Polanski meint: «Es gibt keine schönere Stadt als L.A. – vorausgesetzt es ist Nacht, und man schaut sie aus großer Entfernung an.
73–74 Nachtflüge in AVIATOR, IRON MAN, …
75–76 … DAS FLIEGENDE AUGE und THE BIG LEBOWSKI
Autopolis
«Der Mann muss verrückt sein. Wer geht schon zu Fuß durch Los Angeles?», schreibt Film-Autor Norbert Stresau zu FALLING DOWN.
Es gibt keinen Filmhelden, der nicht ein Auto hat, selbst der Althippie Dude in THE BIG LEBOWSKI besitzt ein Vehikel, an dem er sehr hängt. In KOPFÜBER IN DIE NACHT ist ohne Autos an kein Weiterkommen zu denken und sie müssen immer wieder organisiert werden. In REPOMAN hasst jeder die offiziellen «Autorückholer», die den Menschen ihre Autos abnehmen. Als Annie in SPEED notgedrungen Bus fahren muss, weil ihr der Führerschein entzogen wurde, ruft sie: «Ich liebe mein Auto und es fehlt mir!»
Authentische Filme sind die, ...