Welch unerhörte Lust zu leben
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Welch unerhörte Lust zu leben

Von großen Wunden und noch größeren Flügeln

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Welch unerhörte Lust zu leben

Von großen Wunden und noch größeren Flügeln

About this book

Missbrauch ist ein einschneidendes Erlebnis, das das ganze Leben prägt. Petra Urban schreibt aus eigener Erfahrung darüber, wie man mit dem Erlebten umgehen kann. Sie zeigt, wie es ihr irgendwann gelang, sich aus den belastenden Fängen ihrer Vergangenheit zu befreien und ein Leben mit Freude und Erfüllung zu beginnen. Petra Urban macht Mut, dass wir aus dem Leid herauswachsen, stark werden und Flügel bekommen können.

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Information

Atemlos II.
oder: Von der Atemnot des Herzens

Wenn der Tod die einzige Lösung ist,
befinden wir uns nicht auf dem richtigen Weg.
— Albert Camus

... ins Leben, ins Leben erlöst.
— Rainer Maria Rilke

Die Freude über meinen wiedergefundenen Atem hielt nicht lange an. Leider. Eine Handvoll glücklicher Frieden war es gewesen. Mehr nicht. Bereits wenige Monate nach meiner »Spontanheilung« durch die Friedhofsgespräche mit meinen Eltern meldete sich die Enge in meiner Brust zurück. Und mit ihr auch die Unruhe, dieses Umtriebige und Zerstreute. Ich war fassungslos, wollte es nicht wahrhaben. Wieder versank ich in Grübeleien, fragte mich, ob es erneut unterschwelliger Zorn war, der mich krank machte. Wo, in Gottes Namen, war der Fehler im System? Wo lag die Störung?
Natürlich durchleuchtete ich zum wiederholten Male meinen Lebensstil. War ich überarbeitet, überanstrengt durch meine vielen Termine, fehlte es mir an Schlaf, ernährte ich mich falsch? Fragen über Fragen. Aber keine einzige, die ich mit einem eindeutigen Ja beantworten konnte.
Ich war ratlos, zutiefst ratlos. Und ich war rastlos. Vom Schreibtisch zog es mich ständig ins Freie hinaus, wo ich auf ausgedehnten Spaziergängen das »süße Gespräch« mit der Seele suchte, wie es bei Jean Jaques Rousseau heißt. Aber im Gegensatz zu ihm, dem wohl berühmtesten Spaziergänger in der Literatur, kamen mir beim Laufen keine großen Erkenntnisse. Ganz im Gegenteil. Je mehr ich lief, umso mehr drehten sich meine Gedanken im Kreis.
»Wovor läufst du eigentlich davon?«, fragte mich eine Freundin eines Tages am Telefon. Die Frage empörte mich so sehr, dass ich regelrecht nach Luft schnappen musste. Ich und weglaufen! Das war doch absurd! Ich war ein Bewegungsmensch, das war alles. Und Gehen zur Selbsterforschung hatte in der Philosophie schließlich eine lange Tradition! Trotzdem veranlasste mich diese achtlos hingeworfene Frage zu der Überlegung, ob meine häufigen Spaziergänge am Ende doch eine Art Fluchtversuch darstellten. Gab es berufliche oder private Auseinandersetzungen, die ich scheute? Widerstände gegenüber dem Buch, an dem ich gerade schrieb? Oder gegenüber der Kleinstadt, in der ich mich zwar wohlfühlte, mit der ich, durch und durch Großstadtmensch, mich aber insgeheim immer noch nicht so recht angefreundet hatte?
Wieder betrachtete ich mein rühriges Leben aus der Vogelperspektive. Aber ich konnte beim besten Willen nichts entdecken, vor dem ich Reißaus nahm. Und je länger ich darüber nachdachte, je dichter das Ideengestöber in meinem Kopf wurde, umso mehr beschlich mich das Gefühl, gar nicht unbedingt wegzulaufen, vielmehr irgendetwas hinterherzulaufen, es zu verfolgen. Aber wen oder was sollte ich verfolgen?
Hinzu kam, dass eine Hundebesitzerin, mit der ich ab und zu ein Stück spazieren ging, mich eines Tages fragte, ob ich eigentlich niedergeschlagen sei, ich würde einen so bedrückten Eindruck auf sie machen. Auch darüber dachte ich nach. Bedrückte mich etwas? Tagelange Suchbewegung in meinem Kopf. Aber nein!, da war nichts Bedrückendes in meinem Leben. Zumindest konnte ich nichts entdecken. Da waren nur die ganz normalen Alltagsprobleme. Deshalb keine Luft kriegen? Doch wohl kaum.
Federleicht und unbeschwert eilten die Wochen dahin. Mir selbst allerdings war alle Leichtigkeit und Unbeschwertheit verloren gegangen. Es ging mir schlecht. Wirklich schlecht.
Um innerlich ein wenig Abstand zu meinem Problem zu gewinnen, um im wahrsten Sinne des Wortes ein wenig mehr Weite zu spüren, begann ich ein »Ich-gönn-mir-Leben-Buch« zu führen. Mangelhafte Atmung – mangelhaftes Leben, sagte ich mir, und schrieb alles auf, was mir Freude bereitete. Akribisch notierte ich jeden noch so kleinen Moment des Glücks. Auch sorgte ich in meiner Freizeit für mehr Zerstreuung und Ablenkung, ging ins Theater, in die Oper, besuchte Konzerte und Ausstellungen, traf mich in verschiedenen Städten mit verschiedenen Freunden. Dabei stellte ich fest, dass es mir doch eigentlich gut ging. Eigentlich. Aber genau da lag das Problem. Denn Feststellungen, die mit »eigentlich« beginnen, sind die gefährlichsten.
Auffällig waren meine Träume in jener Zeit. Obwohl ich immer schon, von Kindheit an, unter wiederkehrenden Alpträumen leide, quälenden Bildern, die mir die Nachtruhe rauben, traten die altbekannten Themen in ungewohnter Häufung auf. Ständig war ich eingesperrt oder irrte durch lange, menschenleere Flure. Ständig war ich von Angst getrieben und auf der Flucht. Und immer dominierte das Gefühl von Enge meine Träume, diese panische Angst, ersticken zu müssen, diese Angst, von einem Unbekannten getötet zu werden. Meine Luftknappheit wurde schlimmer. Manchmal musste ich mich regelrecht zwingen, ruhig zu atmen, weil ich das Gefühl hatte, dem Ersticken nahe zu sein.
Erneut suchte ich Ärzte auf. Und dieses Mal bekam ich tatsächlich auch eine Diagnose: Psychogenes Asthma. Ein umstrittener Begriff, wie ich heute weiß. Und doch herrschte und herrscht – unabhängig von der jeweiligen Lehrmeinung – Einigkeit darüber, dass die Psyche bei Atemwegerkrankungen eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Mir wurde angst und bange. Denn psychogenes Asthma, so hieß es, könne sich durchaus in ein manifestes Asthma verwandeln. Natürlich fiel mir sofort die kranke Frau Müller aus Kindertagen ein, die eingebrannten Bilder ihrer Erstickungsanfälle. Wieder suchte ich Rat in Büchern. Ich erfuhr, dass in der chinesischen Medizin die Lunge als Organ des Loslassens gilt. Aber wo oder was sollte ich loslassen? Was würde mir Erleichterung bringen? Ich las, dass wir uns mit dem ersten Atemzug aus der symbiotischen Beziehung mit der Mutter lösen. Atmen heißt demnach, als unabhängiges, selbständiges Individuum leben, den Schritt aus der Abhängigkeit in die Freiheit tun. Aber was hatte das alles mit mir zu tun? Ich war doch frei. Oder etwa nicht?
Auch erfuhr ich, dass unsere Gefühle die Atmung beeinflussen. Gefühle und Atem also durchaus eine Einheit bilden. Mir fiel auf, dass selbst unsere Alltagssprache diesen Zusammenhang betont, indem wir sagen, dass wir »vor Schreck den Atem anhalten« oder »erleichtert aufatmen«, »Angst uns die Kehle zuschnürt« oder jemand uns »die Luft zum Atmen raubt«.
Ich las viel über Lebensenergie und Lebenskraft, im Sanskrit »Prana« genannt. Erfuhr, dass eine eingeschränkte Atmung das Ergebnis zurückliegender Traumata sein könne. Aber half mir das weiter? Prana und Trauma?
Ich begann wieder Autogenes Training zu praktizieren und versuchte, mit Musik und speziellen Übungskassetten Entspannung in mein Leben zu bringen. Ich besuchte zudem einen Yoga-Kurs. Das Mantra, gemeinsam angestimmt, singe ich heute noch manchmal. Aus dem Kurs allerdings bin ich nach nur wenigen Stunden regelrecht geflohen. Weder entspannte sich meine Atmung auf der Matte, noch ließ sich das Untier Unruhe in mir zähmen. Ganz im Gegenteil: Ich bekam Kopfschmerzen, wurde spürbar nervöser anstatt gelassener. Denn bei all meinen Bemühungen meldeten sich plötzlich Erinnerungen zu Wort. Es war, als hätte ich aus Versehen eine Vergangenheitsmaschine in meinem Kopf angeworfen, die jetzt, da sie angesprungen war, nichts mehr stoppen konnte, die vielmehr unentwegt Bilder ausspuckte. Vor allem ein Kapitel meines Lebens beschäftigte mich, ein sehr trauriges, über das ich so gut wie nie mit jemandem gesprochen hatte. Ein Kapitel, das seit zwanzig Jahren in Stillschweigen gehüllt war.
Es war an einem Sonntag im Mai. Ich war sechzehn Jahre alt und hatte beschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich sehnte mich nach Stillstand und Ruhe, nach einschlafen und nie mehr aufwachen. Auch wollte ich keinen Montag mehr erleben müssen, nicht diesen und auch keinen anderen mehr. Nie wieder Montag, hatte ich mir geschworen, niemals wieder eine neue Woche beginnen. Denn genau das war es, wovor mir graute, dieses ständige und immer wiederkehrende »von vorn« ... Und so hatte ich mir auf einem Streifzug durch die Apotheken in unserem Viertel ein beachtliches Häuflein Schlaftabletten zusammengekauft. Schnell und auffallend mühelos war das gegangen. Keine Menschenseele hatte mich nach dem Warum gefragt, niemand sich dafür interessiert, wieso eine Sechzehnjährige Schlaftabletten braucht. Nur einer der vielen Verkäufer hatte mir beim Hinausgehen lachend gedroht, mich ja nicht umzubringen.
Damals hatte ich – genau wie jetzt, da ich mich mit dieser Atemnot herumquälte – noch keine Ahnung davon, was wirklich mit mir los war. Hatte keine Ahnung von dem, was mir in unserer Familie passiert war. Die Erinnerung an die brutalen Übergriffe meines Vaters, den jahrelangen Missbrauch, hatte ich verdrängt. All das Schreckliche, all das Unvorstellbare, hatte ich irgendwo in den Tiefen meiner Seele vergraben. Solcherart Abspaltung der unerträglichen Wirklichkeit, der nicht zu bewältigenden Erfahrung, ist nichts Ungewöhnliches, dient schlichtweg dem seelischen Überleben. Als Heranwachsende hatte ich nur gewusst, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, nicht in Ordnung war.
»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schmutzigste im ganzen Land?«
Weit und breit keine Antwort. Nur die Gewissheit: Ich bin es. Ich kann es zwar nicht sehen, aber ich kann es riechen. Dieser Schmutz umgibt mich wie ein übler Geruch. Und nichts, aber auch gar nichts kann ihn vertreiben, kein Baden, kein stundenlanges Duschen, keine noch so stark duftende Seife und auch kein Parfüm. Dieser Geruch ist da, klebt an mir, ist ein Teil von mir, lange schon, eigentlich immer schon.
»Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein, hinter mir und vor mir gilt es nicht!«
Aber der Geruch ist kein Spiel, kein harmloser Kinderspaß. Solange ich denken kann, ist er vor mir und hinter mir, und in mir ist er auch. Er versteckt sich in mir, verkriecht sich in mir, strömt aus mir heraus. Und obwohl dieser Geruch nur in meiner Einbildung existiert, tyrannisiert er mich, verfolgt mich bis in den Schlaf hinein, zieht wie ein böser, übelriechender Geist durch meine Träume. Ich schäme mich für diesen Geruch, schäme mich so sehr, dass ich in der Schule, während des Unterrichts verzweifelt die Beine zusammenpresse, aus Angst, der Geruch könne von innen nach außen dringen.
Schon damals, in Kindertagen, litt ich unter heftigen Kopfschmerzen, die sich noch verschlimmerten, als ich von der Grundschule aufs Gymnasium wechselte. Eine Mädchenschule, in der ich von Anfang an das Gefühl hatte, anders zu sein als meine Mitschülerinnen, die mir alle so fleckenlos sauber, so hübsch und duftend frisch vorkamen.
Für die häufigen Kopfschmerzen gab es keine Erklärung. Am Gymnasium hieß es, ich würde auf den Geruch der frischen Farbe im Treppenhaus reagieren. Später dann, als die Renovierungsarbeiten längst abgeschlossen waren, hieß es, ich hätte den empfindlichen Kopf meiner Großmutter geerbt. Aber es war weder der empfindliche Kopf meiner Großmutter noch der Geruch von frischer Farbe. Es war der vermeintliche Geruch meines Körpers, der mich krank machte und den ich an jenem Sonntag im Mai mit einer Überdosis Schlaftabletten endgültig und für immer abzutöten suchte. Aber der Geruch – wie sollte es anders sein – ließ sich nicht abtöten.
Als ich nach drei Tagen aus dem Koma erwachte, erwachte auch er zu neuem Leben. Und mit ihm die Gewissheit, jenes tief verankerte Gefühl in mir, schmutzig und schlecht zu sein. So nahm ich dieses Gefühl wie ein ungelesenes Buch wieder mit nach Hause. Der einzige Unterschied: Das Gefühl hatte einen Namen bekommen, die Ärzte in der Klinik sprachen plötzlich von »endogener Depression«.
Endogene Depression. Zwei Worte, die ein großes, ein riesengroßes Schweigen einleiteten. Weder zu Hause noch in der Schule wurde über das, was ich getan hatte, geredet. Niemand sagte etwas, niemand fragte etwas. Die Sache war tragisch, aber dennoch klar: Ein Kind aus gutem Hause war Opfer einer Depression geworden. So etwas kommt vor und ist gerade bei Jugendlichen in diesem Alter noch nicht einmal ungewöhnlich.
Endogene Depression. Zwei Worte, die mich nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus zu einem Psychiater führten. Auch der machte nicht viele Worte, zog stattdessen ein Medikament aus seiner dunkelbraunen Schreibtischschublade und schob es mir zu. Tabletten, leuchtend gelb wie Zitronenfalter. Ich schluckte nur eine einzige dieser kleinen Sonnen, die übrigen verschluckte ein Abfalleimer. Denn von der guten Stimmung, die sie verbreiten sollten, weit und breit keine Spur. Stattdessen Übelkeit und Schwindel, ein schwefelgelbes Gewitter in meinem Kopf, und das unangenehme Gefühl, mit jedem Schritt leichter und immer leichter zu werden, beinah so, als würde ich die Schwerkraft überwinden und wie der »fliegende Robert« im Struwwelpeter mit dem nächsten Windzug auf und davon segeln.
Den Psychiater im weißen Kittel habe ich nicht wiedergesehen. Dafür eine Kinder- und Jugendpsychologin, eine zierliche Frau, die hoch über den Dächern der Stadt thronte und alles, was ich sagte, auf Tonband aufzeichnete. Auch mein Schweigen. Mein lang anhaltendes Schweigen, während mein Blick aus dem Fenster hinaus in den blauen Sommerhimmel spazierte, dorthin, wo weiße Wolken wie riesige Raumschiffe über der Stadt patroulierten. Auch diese Frau habe ich nicht mehr wiedergesehen.
Irgendwie schien das Kapitel »endogene Depression« damit für alle abgeschlossen zu sein. Niemand sprach mehr davon. Mein Leben ging weiter wie bisher. Nur dass ich jetzt in die Oberstufe kam, wo ich die Welt der Literatur entdeckte, diesen Kosmos der tragischen Schicksale und verlorenen Seelen, mit denen ich mich von Stund an solidarisierte.
Die Erinnerung an dieses düstere und dunkle Kapitel meines Lebens also trieb mich um. Da ich nicht ahnte, dass ich im tiefsten Inneren auf der Suche nach jener verdrängten Zeit war, die mit dem Missbrauch zu tun hatte, fragte ich mich natürlich, was das alles zu bedeuten hatte. Was wollten diese Bilder mir sagen? Ich grübelte mir die Seele aus dem Leib. Das alles war zwanzig Jahre her, zwanzig lange Jahre! Warum bloß lauerte mir dieses Stück traurige Vergangenheit auf? Ich ärgerte mich über das Wiederkäuen dieser vergilbten Geschichte. Wollte nichts davon wissen, wollte einfach nur gesund sein und mein Leben genießen.
Aber der Rutsch in die Vergangenheit ließ sich nicht aufhalten. Plötzlich geisterten mir Lieder im Kopf herum, die ich irgendwann einmal gehört hatte. »Sind so kleine Hände«, sang Bettina Wegener ohne Unterlass, »darf man nicht drauf treten ...« Dazu gesellten sich Bilder, die allesamt das Gefühl von Schmerz ausdrückten. Ein Wirrwarr trauriger Erinnerungen. So geisterte mir tagelang der Anblick eines sterbenden Fisches im Kopf herum, den ich vor Jahren im Hafen von Teneriffa gesehen hatte. Am Ende der Mole, dort, wo die Angler standen und wo ich den Blick aufs weite Meer genießen wollte, hatte er auf den Steinen gelegen, weggeworfen, verzweifelt nach Luft schnappend ...
Es war, als würde mein Kopf ein Eigenleben führen, als wäre ich in meinen Gedanken nicht mehr zu Hause, in diesem Dickicht, in dem sich die Fäden wie von Geisterhand miteinander zu verknoten schienen. Kopfgespenster, die mich verwirrten und mir zusätzlich die Luft zum Atmen raubten. Meine Lunge reagierte auf diesen Vergangenheitsangriff regelrecht panisch. Auf einmal war da so ein leiser Pfeifton, wenn ich einatmete. Ich wollte es nicht wahrhaben. Lungengeräusche! Unfassbar! So etwas kannte ich bis dato nur aus der Literatur, aus Thomas Manns »Zauberberg« zum Beispiel, jener Sanatoriumsgeschichte, in der viele der Kranken buchstäblich aus dem letzten Loch pfiffen.
Zu allem Übel litt ich auch noch unter extremen Migräneattacken. Viel häufiger als gewöhnlich. Mein Leben schien aus den Fugen geraten, schien wie die Krankheit von Frau Müller ein einziger Kampf und Krampf zu sein.
Irgendwann in dieser Zeit begannen dann die Träume. Immer wieder träumte ich, meine Wohnungstür nicht verschließen zu können. So oft ich es auch versuchte und so sehr ich mich auch bemühte – es gelang mir nicht. Verzweifelt stellte ich fest, wie un...

Table of contents

  1. Ein Wort vorab
  2. Im Gleichgewicht
  3. Atemlos I.
  4. Herzensgespräche
  5. Atemlos II.
  6. Steh auf und geh!
  7. Von der Vergebung
  8. Sonne im Herzen
  9. Hunger nach Leben
  10. Zum guten Schluss
  11. Quellen
  12. Die Autorin