1 Warum dieses Projekt
Bei wohl wenigen Lebensmitteln scheiden sich die Geister so sehr wie beim Thema Fleisch. Die Zeit des hochgeschĂ€tzten Veredelungsprodukts â so hat man Fleisch frĂŒher mal genannt â ist vorbei. Heute polarisiert das Thema Fleisch die Diskussionen, da viele Verbraucherinnen und Verbraucher darĂŒber nachdenken, ob man Fleisch denn ĂŒberhaupt essen darf, denn dafĂŒr stirbt ja ein Tier. Zudem haben Berichte ĂŒber MissstĂ€nde in der Tierhaltung und ĂŒber negative Umweltfolgen und fehlende Nachhaltigkeit der FleischÂerzeugung zum negativen Imagewandel beigetragen. Auch die beteiligte Fleischindustrie trĂ€gt aufgrund von Fleischskandalen und den Arbeitsbedingungen der dort beschĂ€ftigten Menschen zum negativen Bild bei. In puncto GlaubwĂŒrdigkeit und Ansehen bei der Bevölkerung haben sie inzwischen einen schlechteren Ruf als Politiker. Mit gutem GefĂŒhl Fleisch essen können nur noch diejenigen, die diese Diskussionen ausblenden und bewusst ignorieren, oder die Menschen, die wissen, was in der Produktion wirklich passiert, die nicht der medialen Schwarz-WeiĂ-Malerei verfallen sind und die guten und die schlechten Seiten der Erzeugung kennen.
ZusĂ€tzlich zu diesen ethischen Aspekten werden mit Vehemenz die Fragen des ernĂ€hrungsphysiologischen Werts und möglicher gesundheitlicher Folgen des Fleischkonsums diskutiert, ob man denn nicht ohne gesĂŒnder lebt oder ob dadurch eine MangelernĂ€hrung vorprogrammiert ist. Die Agitation fĂŒr einen vegetarischen oder gar veganen Lebensstil hat inzwischen eine ProfessionalitĂ€t erreicht, die hinter der Werbung der Fleischwirtschaft in keiner Weise zurĂŒckbleibt. Zum Teil angetrieben durch hochprofessionelle Kampagnen der Tierschutzorganisationen, die vom Infostand fĂŒr Festivalbesucher bis hin zu Schulkampagnen alles bedienen, verweigern zunehmend jĂŒngere Menschen den Fleischkonsum. Neben den fast 10 Prozent Verbrauchern, die behaupten, sich ohne Fleisch zu ernĂ€hren, wĂ€chst die Gruppe der sogenannten Flexitarier rasant an. Flexitarier ernĂ€hren sich ĂŒberwiegend vegetarisch, Fleisch wird qualitĂ€tsbewusst und in kleinen Mengen in den Speiseplan integriert.
Doch was ist dann wirklich QualitĂ€t? ProduktqualitĂ€t mit hohem Genusswert? Oder die Art der Erzeugung: tiergerecht und umÂweltfreundlich, aber mit Abstrichen hinsichtlich des GeÂnussÂwerts?
Doch auch die Menschen, die Fleisch weiterhin fast tĂ€glich essen, haben keine wirkliche WertschĂ€tzung fĂŒr dieses Lebensmittel. HĂ€ufig ist es ein zweifelhafter ProteintrĂ€ger mit geringem Genusswert, nur fĂŒr wenige bedeutet Fleisch noch eine hochgeschĂ€tzte Quelle der Gaumenfreude.
Der Markt trĂ€gt diesen Entwicklungen Rechnung, treibt sie voran. Vegetarischer Wurstersatz erobert die Theken, wĂ€hrend in normalen LĂ€den zunehmend auch der Wunsch nach High-End-Fleisch erfĂŒllt werden kann. Biofleisch hat eine hohe Reputation und wird als Alternative heftig diskutiert, aber der Anteil am Verbrauch dĂŒmpelt zum Beispiel bei Schweinefleisch bei weniger als 1 Prozent. Viele Verbraucher sehen die regionale Erzeugung in kleinbĂ€uerlichen Betrieben als Alternative zu den Produkten, die unter den zweifelhaften Bedingungen der Massentierhaltung erzeugt werden und fĂŒr die Tiere leiden und sterben mĂŒssen.
Aber stimmen diese Bilder? Ist das wirklich eine Alternative? Ist denn Fleisch aus landwirtschaftlichen GroĂbetrieben wirklich schlechter als das aus kleinen Betrieben? Und geht es Tieren im Kleinbetrieb besser, sind Tiere dort wirklich glĂŒcklicher?
Diese extremen Bilder und Vorstellungen basieren zum erheblichen Teil darauf, dass Menschen heute wenig Ahnung davon haben, wie das Lebensmittel Fleisch erzeugt wird, was gutes Fleisch ausmacht, welche Beziehungen zwischen tiergerechter Produktion, ProduktqualitĂ€t und Genusswert wirklich bestehen. Das Buch möchte hier wesentliche Grundlagen der Fleischerzeugung und der ProduktqualitĂ€t erlĂ€uterten und mit gĂ€ngigen Vor- und Fehlurteilen aufrĂ€umen. Ich diskutiere seit vielen Jahren diese Themen mit Studierenden im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen an einer UniversitĂ€t und habe dabei festgestellt, wie viel Interesse und Wissensbedarf selbst bei landwirtschaftlich orientierten Studierenden zu diesem Thema besteht. Der gröĂte Bedarf zeigte sich dabei fĂŒr mich bei den Themen aus den Grenzbereichen zu anderen DisziÂplinen, ein Grund, warum ich fĂŒr meine Lehrveranstaltungen auch den Kontakt zur ErnĂ€hrungswissenschaft, der Fleischbranche und der Spitzengastronomie gesucht habe, um auch diese Sichtweisen und spezifischen Anforderungen in meine Lehre zu integrieren. Dieser interdisziplinĂ€re Ansatz ermöglicht dann nicht nur Studierenden Erkenntnisse, die ĂŒber die Enge der Disziplinen hinausgehen. Aus dieser lebendigen Lehrkooperation hat sich auch fĂŒr dieses Buch die fruchtbare Zusammenarbeit mit einem Spitzenkoch eines benachbarten Sternelokals ergeben. Markus Eberhardinger ergĂ€nzt aus seiner Sicht die Themen des Buches mit kulinarisch-hedonistischen Aspekten sowie wissenschaftlicher KĂŒchenkunst.
2 Menschen essen Fleisch
2.1 Karnivore, Omnivore, Vegetarier: kein Neuzeitproblem
Fleisch zu essen ist Teil der evolutionĂ€ren Entwicklung unserer Spezies. Fast alle Primaten sind strikt auf pflanzliche Nahrung programmiert, nur fĂŒr Schimpansen und Paviane wird gelegentlicher Verzehr von Fleisch berichtet. Menschen sind im Gegensatz dazu Omnivoren, das heiĂt, unser Gebiss, unser Verdauungssystem sind darauf ausgelegt, dass wir sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung zu uns zu nehmen. Damit sind wir eine höchst anpassungsfĂ€hige Spezies, die mit unterschiedlichen ErnĂ€hrungsgrundlagen ĂŒberleben kann. Das heiĂt aber auch, dass eine prinzipielle Negierung von Produkten tierischen Ursprungs nicht den physiologischen BedĂŒrfnissen unserer Spezies entspricht.
Wie die wenigen detaillierten ethnographischen Daten von Menschen, die aktuell noch als JÀger und Sammler leben, zeigen, variiert auch hier die Zusammensetzung der Kost bei den einzelnen Gruppen erheblich. Sie reicht von einer ErnÀhrung, die fast nur auf tierischen Produkten basiert, bis hin zu einer vorwiegend aus pflanzlichen Ressourcen bestehenden Nahrung.1
Im Verlauf der Evolution war das ErnĂ€hrungsverhalten der prĂ€historischen Menschen â wie das seiner pleistozĂ€nen Vorfahren â sehr flexibel. Unsere Vorfahren waren auf eine energetisch hochwertige, nĂ€hrstoffreiche Kost ausgerichtet; eine weitergehende Spezialisierung auf bestimmte Lebensmittel, ein charakteristisches Pflanzen-Tier-VerhĂ€ltnis oder eine definierte MakronĂ€hrstoffverteilung sind nicht zu erkennen.
Fleisch hat einen hohen Gehalt an hochwertigem Protein und Fett, zudem zum Teil andere Vitamine und Mineralstoffe als Pflanzen. Nach einer Ăbersichtsarbeit von Ströhle und Kollegen (2009) zeigen neuere Isotopen-Auswertungen, dass die Australopithecinen vor 4,5 bis 2,5 Millionen Jahren bereits geringe Mengen tierischer Nahrung aufgenommen haben, ansonsten jedoch ĂŒberwiegend harte, abrasive pflanzliche Kost konsumierten, die der Nahrung der heutigen Schimpansen Ă€hnelte. Die ersten Vertreter der Gattung Homo wie Homo erectus und Homo habilis (vor 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren) hingegen hĂ€tten bereits eine energetisch gehaltvollere, nĂ€hrstoffreichere Kost verzehrt, was auch die typischen VerĂ€nderung des Gebisses in Richtung Omnivore, der Grazilisierung, erklĂ€re. Wie der Homo sapiens sollen diese VorlĂ€ufer unserer Spezies eine omnivore ErnĂ€hrungsstrategie verfolgt haben.2
Die Entwicklung und die Nutzung unserer groĂen Gehirnmasse sind energetisch höchst aufwendige Prozesse, daher verwenden Menschen im Vergleich zu Primaten und anderen SĂ€ugern einen wesentlich höheren Anteil des Grundumsatzes â das heiĂt des Energieverbrauchs in Ruhe â fĂŒr den Energiebedarf des Gehirns. Eine speziesĂŒbergreifende Analyse der Nahrungszusammensetzung bei Primaten zeigt, dass paradoxerweise mit steigender NahrungsqualitĂ€t der relative Anteil der Nahrungsenergie ansteigt, der fĂŒr das Gehirn benötigt wird. Diese Beobachtung stĂŒtzt die Hypothese, dass die enorme Gehirnentwicklung im Laufe der Evolution erst durch die VerfĂŒgbarkeit von nĂ€hrstoffreicher Nahrung und damit mehr Energie möglich wurde, das heiĂt, die starke Gehirnentwicklung wurde mit der Wandlung vom Pflanzenfresser zum Omnivoren möglich.
Im Vergleich zu anderen Primaten haben Menschen einen relativ kleineren Verdauungstrakt, insbesondere einen kleineren Dickdarm. Diese anatomischen Unterschiede belegen, dass der Verdauungstrakt an energetisch hochwertige, leichtverdauliche Nahrung angepasst ist. Menschen sind zudem weniger bemuskelt und fetter als andere Primaten Ă€hnlicher GröĂe. Der auĂergewöhnlich hohe Fettanteil ist insbesondere in der Kindheit feststellbar. Der Körperfettgehalt von neugeborenen Menschen ist mit 16 Prozent weitaus höher als bei anderen Spezies, bei denen der Fettanteil im Schnitt nur 2 bis 3 Prozent des Geburtsgewichts betrĂ€gt, so auch bei Schimpansen.3 Der Fettgehalt erreicht mit 15 Monaten vorĂŒbergehend ein Maximum von 25 Prozent. Normalgewichtige habe einen so hohen Körperfettanteil erst wieder im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Dieser höhere Fettanteil und die geringere Muskelmasse erlauben in der Kindheit die rasche Gehirnentwicklung, quasi eine Schwerpunktsetzung bei der Gehirnentwicklung zu Lasten des Restkörpers. Bei Neugeborenen verbraucht das Gehirn fast 90 Prozent der Energie, die der Körper im Ruhezustand benötigt, mit 18 Monaten sind es immerhin noch ĂŒber 50 Prozent, bei Erwachsenen etwa 25 Prozent.4
Die erste Errungenschaft: mehr Fleisch
Die Entwicklung der Jagd und der hierdurch steigende Fleischverzehr gelten als SchlĂŒsselereignisse in der menschlichen Evolution. Der höhere Fleischanteil in der Nahrung lieferte mehr Energie und ermöglichte die Entwicklung eines gröĂeren Gehirns, welches wiederum fĂŒr die Kommunikation, Planung und die Verwendung von Werkzeugen bei der Jagd essentiell ist.
Dabei waren die tierischen Nahrungsmittel zudem eine reiche Quelle fĂŒr die wichtigen mehrfach ungesĂ€ttigten langkettigen FettsĂ€uren (PUFA), die insbesondere fĂŒr die Gehirnentwicklung essentiell sind.5 Mit der Entwicklung zum Omnivoren mit natĂŒrlichem hohem Anteil tierischer Nahrung haben Menschen die FĂ€higkeit verloren, diese speziellen FettsĂ€uren selbst zu bilden. Sie wurden dann durch den steigenden Anteil tierischer Nahrung zugefĂŒhrt.
Die verbesserte NahrungsqualitĂ€t hatte wohl auch Konsequenzen fĂŒr die Fruchtbarkeit und damit die Verbreitung der menschlichen Vorfahren: Der steigende Fleischanteil in der ErnĂ€hrung ermöglichte es, die Dauer des Stillens zu verkĂŒrzen und Kinder frĂŒher auf andere Kost umzustellen, da durch Fleisch hochwertigere, leichter verdauliche Proteine als in rein pflanzlicher Kost verfĂŒgbar waren. Eine kĂŒrzere Stilldauer fĂŒhrt dazu, dass eine erneute Schwangerschaft frĂŒher möglich wird.
Der Zusammenhang zwischen Nahrungszusammensetzung und Still- beziehungsweise SĂ€ugedauer wurde erst vor wenigen Jahren von einer schwedischen Forschergruppe durch den Vergleich von siebzig SĂ€ugetierspezies hergeleitet.6 Fleischfressende Arten haben eine kĂŒrzere Laktationsdauer als reine Pflanzenfresser. In ursprĂŒnglich lebenden JĂ€ger- und Sammlergemeinschaften betrĂ€gt die durchschnittliche Stilldauer zwei Jahre und vier Monate. Bei den stĂ€rker auf pflanzliche Nahrung ausgerichteten Schimpansen betrĂ€gt die SĂ€ugedauer hingegen vier bis fĂŒnf Jahre. Daher wird die durch den Fleischanteil hochwertigere Nahrung als der zentrale Einflussfaktor gesehen, der es Menschen ermöglichte, sich zahlreicher fortzupflanzen, so dass sie zu einer unglaublich erfolgreichen Spezies wurden.
Die ...