Krieg
Als 1939 der Krieg ausbrach, füllte sich das Lager aufs neue mit Hunderten von politischen Funktionären, die man aus »Staatssicherheitsgründen« verhaftet hatte. Die Häftlinge aus dieser Aktion hießen im Lager allgemein die »Aktionäre«, und um sie besonders kenntlich zu machen, mussten sie nicht wie die anderen ihre Nummer unter dem Winkel tragen, sondern darüber. Aus allen Gauen Deutschlands trafen sie ein, und es gab ein Händeschütteln und Aussprechen von so vielen Bekannten.
Für diese »Aktionäre« wurde gesorgt. Die alten Politischen, die nun unbestritten die Führung im Lager innehatten, vermittelten sie in gute Kommandos, in Werkstätten und Kammern. Man spürte die politische Solidarität. Dafür brachten aber die »Aktionäre« eine Fülle von Anregungen in das Lager, sie übermittelten Stimmungsbilder von draußen, sie sorgten für politische Aktivität, einzelne richteten sogar politische Schulungen für ihre Kameraden ein, was denen nach der langen Abgeschlossenheit sehr willkommen war. Und so hatten sich die Neuen schnell im Lager akklimatisiert. Viele von ihnen waren ja auch schon früher, während der ersten Jahre des Nationalsozialismus in anderen Lagern gewesen, und sie wussten genug von den Gräueln in Sachsenburg und Hohenstein, am Neuberg und am Kuhberg und von Dachau zu berichten.
Einen Monat nach Kriegsbeginn füllte sich das Lager allmählich mit einer neuen Kategorie von Häftlingen. Dreitausend Polen kamen an. Diese neuen Transporte waren sozusagen das einzige, woran man in Buchenwald den Krieg bemerkte. Denn wir erfuhren nur durch die Zeitungen und aus den Lautsprechern von seinem Ausbruch. Das Essen freilich wurde langsam schlechter, das Brot knapper, die Einkaufsmöglichkeiten reduzierten sich. Sonst aber sah Buchenwald nichts von den Kriegsereignissen, die draußen alle so in ihren Bann schlugen. Mit diesen Transporten erreichte die Kriegsfurie indirekt und in immer neuen Wellen das Lager. Man sperrte die Polen in ein besonders abgeteiltes Lager, das sogenannte Polenlager. Primitive Holzbaracken und drei Zelte ohne hygienische Einrichtungen. Man gab ihnen trotz des kalten Herbstes und des beginnenden Winters dünnes Drillichzeug, anfangs überhaupt keine Decken und nur einen Bruchteil des normalen Lageressens. Hundertachtundsiebzig Polen hatte man in einen zusätzlichen kleinen Pferch gesperrt, das sogenannte »Heckenschützenlager«. Niemand glaubte daran, dass die dem übrigen Lager gegenüber doppelt eingesperrten Häftlinge Heckenschützen gewesen seien, die hätte man an Ort und Stelle und sofort erschossen. Die Heckenschützen bekamen noch viel weniger zu essen als die übrigen Polen.
Die Folgen der unmenschlichen Behandlung im Polenlager waren katastrophal. Und wenn man nicht nach acht Tagen einige hundert Jugendliche, die dort eingesperrt waren, und wenige andere ins normale Lager hinaus gelassen hätte, wäre die Zahl der Umgekommenen noch größer gewesen. Als Folge der Kälte, der dünnen Kleidung, der Hungersuppen begannen unter den Polen bald Seuchen auszubrechen. Der Hunger und die Ruhr forderten immer mehr Opfer. Ärztliche Behandlung gab es nicht, das Polenlager war strengstens isoliert. Nur gelegentlich durfte ein Sanitäter des Reviers einmal durchgehen. Die paar Medikamente, die er dann verteilte, bildeten einen Tropfen auf einen heißen Stein. Und nun starben sie in Massen, jeden Morgen lagen die Toten vor den Zelten, erst sechs, acht täglich, später zwanzig, dreißig, vierzig. Der Hunger war so groß, und so verzweifelt waren die Männer, dass die absonderlichsten Dinge passierten. Um zusätzlich die Rationen der Toten zu fassen, nahmen zwei Lebende einen Toten in ihre Mitte, zogen ihn zur Essenausgabe und fassten das Essen für ihn. Ein anderer nahm einen Toten auf den Rücken und fasste für ihn Essen. »Die Toten fassen Essen«, so hieß es damals im Lager.
Natürlich war es die Absicht der SS, die Menschen eingehen zu lassen, denn mit einem Federstrich hätte man die Zustände ändern können. Von den dreitausend ist binnen sechs Monaten die Hälfte gestorben. Dann endlich kam für sie die Erlösung: Sie wurden ins normale Lager überführt. Diese »braunen Polen«, wie man sie wegen ihres braunen Winkels nannte, hatten es schlechter als die »roten Polen«, die später in großen Transporten kamen, einen roten Winkel trugen und gleich ins normale Lager kamen.
Von den »Heckenschützen« im Pferch jedoch ist keiner am Leben geblieben. Ihre Essensrationen waren so minimal, dass nach wenigen Wochen alle verhungert waren. Verzweifelte Szenen müssen sich zwischen ihnen abgespielt haben. Man fand einige angenagte Oberschenkel, der erste Fall von Kannibalismus, von dem wir Häftlinge hörten. Damals wussten wir noch nicht, wie viel Kannibalismus wir später noch sehen sollten!
Den jugendlichen Polen jedoch ging es besser. Im normalen Lager kamen sie in einem besonderen Block zusammen, und bald wurde eine »Polenschule« errichtet. Ein polnischer Lehrer gab ihnen Unterricht, so brauchten sie nicht zu arbeiten und erholten sich. Es waren ja auch Bürschchen von zwölf bis siebzehn Jahren unter ihnen. Sie waren intelligent, einige lernten eifrig deutsch. Und wie das so ist in den Lagern, wo jahrelange Abgeschlossenheit die harten Männer bedrückt: diese Kinder und Jugendlichen waren begünstigt. Die Küche gab ihnen mehr Essen, die Kammern bessere Kleidung, einige Kapos und andere Funktionshäftlinge interessierten sich für diesen oder jenen Jugendlichen. Die ersten Freundschaften wurden geschlossen. Vieles daran war mehr als harmlos.
Aber Eros, der Gott der Liebe, setzte deutlich seine ersten Zeichen. Das Lager hatte ein wachsames Auge auf diese Dinge. Tun und Treiben der meisten waren allgemein bekannt. Das ist so in einer Männergemeinschaft, die jahrelang von Frauen ferngehalten wird. Es sind da immer einige, die durch ihre Triebe gewaltsam hingerissen werden. Bei vielen äußert sich das in harmlosen, aber sehr festen Freundschaften. Aber auch regelrechte Eifersuchtsszenen kamen vor. Albert Trieglaff ging zum Beispiel monatelang geknickt herum, weil sein früherer Busenfreund Fritz nichts mehr von ihm wissen wollte. Und immer wieder sprach er mit diesem oder jenem, ob es nicht möglich sei, den Fritz wiederzugewinnen. Und als besagter Fritz auf Transport ging, ging Albert freiwillig mit.
Es gab auch einige, deren sexuelle Verhältnisse mit Gleichgeschlechtlichen über diese Harmlosigkeiten hinausgingen. Man hörte gelegentlich von derb körperlichen Handgreiflichkeiten. Und nicht umsonst wurden die kleinen Bauhütten am Waldrand auf einem Kabarettabend als die »175 kleinen Buden am Wald« bezeichnet. Die Räumlichkeiten der Arbeitsstatistik waren auch so eine leicht verrufene Stätte. Dieser oder jener hatte dort etwas gehört. Konrad Brieg, einer der ganz ehrlichen Männer, den eine schwärmerische Freundschaft mit dem kleingewachsenen, jungen Norbert verband, sagte einmal: »Einen kleinen warmen Stich haben wir alle«. Und der rotblonde Helmut stimmte ihm zu. Das war wohl übertrieben, aber für einen Teil der Häftlinge traf das schon zu.
Wie in allen Haftanstalten und um so mehr unter den schwierigen und grausamen Bedingungen eines KZ gab es nicht selten Unfälle. Viele Häftlinge litten unter schwer heilenden Wunden oder hatten innere Erkrankungen. So war auch die SS gezwungen, allein schon zur Erhaltung der notwendigsten Arbeitskraft, eine Stätte für die gesundheitliche Behandlung dieser Kranken zu errichten. Diese Krankenstation, wie beim Militär »Revier« genannt, stand zwar nominell unter ihrer Leitung, die Arbeit wurde dort aber – wie in allen Einrichtungen des Lagers – von den Häftlingen getan, sie hatten deshalb in diesem Bereich des Lagers eine ziemlich weitgehende Selbständigkeit erreicht.
Die SS-Ärzte und ihre Gehilfen aus der SS, die Scharführer und Unterscharführer, waren allein daran interessiert, dass der äußere Ablauf funktionierte und überall Sauberkeit und Ordnung herrschten. Es lag ihnen am äußeren Schein, den sie ab und an demonstrieren wollten. Um das wirkliche Wohl und Wehe der Patienten kümmerten sie sich überhaupt nicht, höchstens von weitem, wenn mal, selten genug, ein besonders interessanter Fall zu studieren war. Sie unterschrieben meist nur die täglichen Meldungen über Aufnahmen, Entlassungen, Bestand, Sterbefälle, Anforderungen an die Apotheke, Medikamente und Verbandsstoffe betreffend, und die nach draußen gehenden Berichte oder Briefe an Angehörige. All das musste aber, und zwar eigenständig, die Häftlingsarztschreiber entwerfen und so formulieren, wie es die SS wollte.
Die aseptischen Operationen machten die SS-Ärzte – soweit sie das konnten –, wobei ihnen Häftlinge als »Sanis« assistierten, instrumentierten und die ganze übrige Arbeit taten. Manche von diesen Sanis lernten allmählich so viel dazu, dass einige von ihnen, die begabtesten, allmählich in die Lage versetzt wurden, die Arbeit der Ärzte am OP-Tisch mehr oder weniger auch allein zu tun. Die septischen, also eitrigen Operationen machten sie meist sowieso, und einige von ihnen, wie der als »Auerhahn« bekannte Vorarbeiter Klangwarth oder der »Bär« Walter Krämer, verfügten über eine beachtliche Geschicklichkeit im Schneiden von Wunden und Abszessen. Diese Eingriffe und Operationen waren das Häufigste, Gewöhnlichste und für die SS-Ärzte natürlich Uninteressanteste.
Die Sanitäter waren zwar sämtlich Laien, aber im Laufe der Jahre hatten sie sich von den SS-Ärzten und den im Lager befindlichen Häftlingsärzten umfassendes medizinisches Wissen angeeignet, auch über ihre chirurgischen Kenntnisse hinaus. Und sie besaßen wegen der Unmenge von Kranken, die sie im Laufe der Zeit behandeln mussten, eine riesige Erfahrung. Sie waren alle intelligent, und viele sahen sich in der Lage, in gewissen Dingen manchen Arzt auszustechen. Wenn es galt, Wunden zu behandeln und gute Verbände anzulegen, so waren viele von ihnen erstklassig, und man konnte sich ihnen wohl anvertrauen.
Dass Häftlingsärzte im Revier arbeiteten, war in den Anfangsjahren des Lagers noch verboten, und auch später wollten die Sanitäter auf Grund ihrer immensen Selbständigkeit und Erfahrung von Ärzten im allgemeinen nichts wissen. Andererseits gab es jüdische Ärzte im Lager, von denen sie sich auch manches absahen, die aber ihrerseits den Sanis schmeichelten, um ihre Posten im Judenrevier, das in einer besonderen Baracke untergebracht war, zu behalten.
Auch ich durfte in den ersten eineinhalb Jahren nicht im Revier arbeiten. Ich wurde in dieser Zeit zunächst als Bauhilfsarbeiter, später in der Effektenkammer und danach in der Lagerkapelle eingesetzt.
Während des Tages wurden jene verbunden und behandelt, die in den Lagerwerkstätten arbeiteten, am Abend kamen die dran, die aus den Außenkommandos einrückten. Das war ein nie abreißender Strom. Zu Hunderten standen sie Schlange, und wäre nicht der »Bär« Walter Krämer gewesen und hätte er nicht manchen Drückeberger schon vorher ausgesiebt, die Arbeit wäre nicht zu schaffen gewesen. Alfred Tittel tat seinen Dienst in der inneren Ambulanz, neben ihm die kleine, verwachsene »Waldfee«. Während Alfred durch Seriosität, Ernst und Menschenkenntnis vieles meisterte, fertigte die kleine »Waldfee« mit nie verlegener Schnauze die Zudringlichen ab. Da waren Drückeberger, die Temperaturen schwindelten, um ins Revier aufgenommen zu werden, wussten sie doch genau, dass hohe Temperaturen ein Grund dazu waren. Man musste sie so setzen, dass sie beim Temperaturmessen beobachtet werden konnten. Da waren andere, die eine Diarrhöe vortäuschten, um sich vielleicht über den Tag im Revier herumdrücken zu können. Man kontrollierte ihre Angaben und wehe, es stimmte nicht.
Nicht Herzlosigkeit war für dieses unnachgiebige Verhalten bestimmend. Galt es doch, den wirklich Kranken zu helfen – so gut es unter den herrschenden, stark beschränkten Bedingungen eben ging. Einige Medikamente standen zur Verfügung, ein paar Lichtkästen und Bestrahlungslampen. Während er die Wunden der einen behandelte, musste Alfred in demselben Raum gleichzeitig die Lichtbehandlung geben. Später wurde dafür ein fast eleganter Raum gebaut. Auch ein Laboratorium kam hinzu, in dem ein erstklassiger jüdischer Bakteriologe die kompliziertesten Untersuchungen ausführte. Er ging später nach Schanghai und wurde dort Direktor eines Instituts. Hier aber, in der Haft, musste er sich die Anpöbeleien der Sanitäter gefallen lassen. Da war vor allem Karl Peix, der alle tyrannisierte. Er war der Vertraute Walter Krämers. Aber Walter, der für die Politischen alles tat und der eine »Kanone« war, hatte dadurch sein Leben an einen Menschen gekettet, der ihm noch zum Verderben werden sollte.
Die SS-Ärzte griffen, wie gesagt, nur selten ein, sie gaben nur Befehle und ließen den Sanis freie Hand. Offenbar fürchteten sie, dass Häftlingsärzte zu viel sehen und berichten könnten. Und es war dort schon manches zu sehen! So gehörte es zu den krassen Methoden der SS-Ärzte, auf ärztlichen Wegen Geständnisse zu erpressen. Dr. Ding, ein junger SS-Arzt, hatte einen Häftling vor, der überhaupt kein Wort reden wollte, den Stummen markierte. »Nun, den kriege ich schon«, sagte er und gab ihm eine Brechspritze. Der Häftling erbrach sich windend, aber er redete nicht. Dann versuchte es der SS-Arzt mit elektrischem Strom, so stark, dass der Häftling sich vor Schmerzen aufbäumte.
Der elektrisierende Sanitäter fuhr auf Befehl des Arztes plötzlich mit der Elektrode über das Herz des Häftlings, was der Stumme nicht aushielt. Er starb, und obwohl Dr. Ding, dem das peinlich war, sofort Spritzen gab, war er nicht mehr zu erwecken.
Ein anderes war es mit den vielen aussichtslos Kranken, den Tuberkulösen, Siechen. Es hatte sich bald und heimlich im Lager herumgesprochen, dass mit den meisten von ihnen irgend etwas passierte. Sie wurden ins Revier eingeliefert, und nach zwei oder drei Tagen waren sie tot. Das war sehr auffällig und ging nicht mit rechten Dingen zu, aber es war gefährlich, darüber zu reden. Doch die Fälle waren zu eklatant, irgend etwas musste dort mit den Kranken angestellt werden. Es gelang mir, einiges darüber zu erfahren. Irgendwelche Spritzen schienen gegeben worden zu sein, die den Tod zur Folge hatten. Mich schauderte bei diesem Gedanken. Ich wusste damals noch nicht, dass Platzmangel in den Revieren möglicherweise zu einer Gewaltlösung zwang. Aber ich hätte es entschieden abgelehnt, bei solch einer Sache mitzutun.
Jene Häftlinge, die anfänglich offenbar auf Befehl der SS-Ärzte diese Dinge mitgemacht hatten, verloren schließlich jedes Maß und Ziel. Es kam vor, dass gesunde Leute, meist Juden, die eine kleine Finger- oder Fußwunde hatten, abends ins Revier aufgenommen wurden und schon am Morgen tot waren. Hinzu kam, dass Peix offensichtlich pervers war. Zu jungen Häftlingen die Liebenswürdigkeit selbst, zu alten brutal, war er immer darauf bedacht, sich aus dem Kreis seiner Patienten hübsche junge Menschen heranzuziehen, die er monatelang als Kalfaktoren behielt, und mancher wusste delikate Affären von ihm zu erzählen. Irgendwann kam eine solche Affäre heraus. Der unbequeme Zeuge war ein bildhübscher junger Pole namens Gornick, intelligent und strotzend vor Gesundheit. Er hatte es gut im Revier, er hatte nicht zu viel Arbeit, sie war nicht zu schwer für ihn, und er hatte viel und gut zu essen. Und das war für einen Siebzehn- oder Achtzehnjährigen damals im Lager ganz wesentlich. Während die anderen herumliefen und sich etwas gegen den Hunger organisieren mussten oder sich den Bauch mit dünner Suppe vollschlugen, befand er sich sogar in der Lage, seinen Kameraden etwas abzugeben. Oft sah man sie am Revierzaun stehen, und er steckte ihnen kleine Päckchen zu. Aber er hatte sich an Peix verkauft.
Eines Tages, der Junge war bei voller Gesundheit, hieß es, er sei plötzlich verstorben. Es wurde nicht allzu viel darüber geredet, fanden doch im Lager ständig zu viele erregende Di...