1. Rolle und Stellung des Untersuchungsorgans des MfS in der DDR
In der DDR gab es drei Untersuchungsorgane: eines im Bereich des Ministeriums des Innern, also der Deutschen Volkspolizei, ein zweites bei der Zollverwaltung und das dritte beim Ministerium für Staatssicherheit. Ermittlungen in Strafsachen war ihr Hauptaufgabengebiet. Für alle drei Untersuchungsorgane galten die gleichen gesetzlichen Grundlagen für ihre Tätigkeit. Das waren insbesondere die Strafprozessordnung und das Strafgesetzbuch der DDR. Auch die Steuerfahndung war ihrem Charakter nach ein Untersuchungs-Organ, spielt aber in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Ihre Tätigkeit – egal welche innerdienstliche Struktur existierte – stand unter Aufsicht und Kontrolle durch die Staatsanwaltsschaft. Diese hatte Weisungsbefugnis gegenüber allen Untersuchungsorganen und konnte Ermittlungen auch in eigener Verantwortung führen. Es gab keine Sonderrechte für das Untersuchungs-Organ des MfS.
Über alle Ermittlungsverfahren hatten die Untersuchungsorgane der Staatsanwaltschaft zu berichten.
Bei Ermittlungsverfahren mit Inhaftierung beantragte der Staatsanwalt – nicht das Untersuchungsorgan – einen Haftbefehl beim zuständigen Haftrichter. Dieser teilte das Ergebnis seiner Prüfung und Entscheidung mit. In allen U-Haftanstalten des MfS existierten Haftrichterzimmer, wo der Haftbefehl verkündet wurde. Dadurch wurden Transporte von U-Häftlingen zu unterschiedlichen Gerichten vermieden und gleichzeitig Sicherheitserfordernissen Rechnung getragen. Es ist darum ein Irrtum, dem manche einstige U-Häftlinge unterliegen, dass ihnen ein Vertreter des MfS den Haftbefehl verlesen habe. Nein, das tat in jedem Falle ein Vertreter der Justiz und nicht der Staatssicherheit.
Die Ermittlungsergebnisse – ob mit oder ohne Haft – wurden der Staatsanwaltschaft übergeben, die ihrerseits zu prüfen hatte, ob eine Anklage vor einem Gericht zu erheben war oder die Sache an andere gesellschaftliche Einrichtungen zur Entscheidung übergeben wurde.
Anklagen wurden durch die Staatsanwaltschaft vor dem zuständigen Gericht vertreten. Das Untersuchungsorgan hatte damit nichts mehr zu tun.
Wegen des Umstands, dass zwischen Abschlussberichten des Untersuchungsorgans und der Anklageschrift des Staatsanwalts selten Abweichungen bei den Formulierungen bestanden, wird der falsche Schluss abgeleitet, dass das MfS der Staatsanwaltschaft die Klage diktiert habe. Das trifft nicht zu. Allerdings erhebt sich die Frage, warum der Staatsanwalt sachlich und juristisch exakte Formulierungen nicht übernehmen sollte? Weil sie vom MfS kamen? Das ist doch absurd.
In der Struktur des MfS trug das Untersuchungs-Organ die Bezeichnung Linie IX. Neben einer dem Minister direkt unterstellten zentralen Hauptabteilung IX (HA IX) in Berlin gab es in jedem der 15 Bezirke (zeitweilig existierte eine 16. Untersuchungs-Abteilung in der Verwaltung Wismut) eine Abteilung 9. Sie unterstand unmittelbar dem Chef der Bezirksverwaltung. Fachlich wurden sie von Instrukteuren der HA IX angeleitet. Für alle strafprozessualen Entscheidungen in Ermittlungsverfahren unterstanden die Abteilungen 9 in den Bezirken der Abteilung IA der jeweiligen Bezirksstaatsanwaltschaft.
Nach Angaben der BStU hatte die gesamte Linie IX im Jahr 1988 einen Personalbestand von insgesamt 1.225 Mitarbeitern, davon in Berlin 489. Erfasst waren dabei auch Kraftfahrer, Techniker, Kräfte zur materiell-technischen Sicherstellung, Mitarbeiter für Schulung und Ausbildung, Auswerter und Sekretärinnen. Mehr als die Hälfte aller Mitarbeiter waren in diesen Bereichen tätig.
Die Untersuchungsorgane der DDR unterschieden sich durch den Gegenstand ihrer Tätigkeit. Im wesentlichen war das des Ministeriums des Innern für die Untersuchung krimineller Straftaten, das der Zollverwaltung für zollrechtliche Vergehen und das des MfS für äußere und innere Angriffe auf die staatliche Sicherheit und die gesellschaftlichen Grundlagen der DDR zuständig.
In der Struktur der Hauptabteilung IX gab es nach 1961 sieben untersuchungsführende Abteilungen:
Abteilung 1: Spionagedelikte;
Abteilung 2: Straftaten gegen die gesellschaftlichen Grundlagen;
Abteilung 3: Angriffe gegen die wirtschaftliche Ordnung;
Abteilung 5: Straftaten Inoffizieller und hauptamtlicher Mitarbeiter;
Abteilung 6: Straftaten von Angehörigen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen;
Abteilung 7: Mord, Brandstiftungen, Terrordelikte und Havarien. Für Vorkommnisuntersuchungen existierten in diesem Bereich verschiedene Spezialkommissionen;
Abteilung 9: Menschenhandel und illegales Verlassen der DDR.
Es konnte durchaus vorkommen, dass sich beispielsweise aus den Ermittlungen in einem Zollverfahren Sachverhalte ergaben, die besser durch die Kriminalpolizei oder das MfS aufgeklärt werden konnten. Es war deshalb nicht ungewöhnlich, dass Ermittlungsverfahren an ein anderes Untersuchungs-Organ übergeben wurden, was vom Staatsanwalt zu genehmigen war.
Straftaten von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern des MfS fielen ausschließlich in dessen Zuständigkeit, auch wenn es sich dabei um Delikte der allgemeinen Kriminalität handelte.
Besondere Kritik richtet sich gegen die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit einem ungesetzlichen Verlassen der DDR. Allerdings zeigt ein vorurteilsfreier Blick auf diese Fälle, dass es sich dabei mehrheitlich um gewaltsame Grenzdurchbrüche handelte, von westlicher Seite gesteuerte Abwerbung, Vorgänge mit geheimdienstlichen Hintergründen oder mit sicherheitspolitischer Bedeutung sowie kriminelle Menschenhändlerbanden. Es lag in der Natur dieser Sache, dass Auftraggeber und Drahtzieher im Ausland aufgeklärt werden mussten, wofür nun mal das MfS zuständig war.
Ein weiteres Problem entstand für das MfS mit Versuchen, die DDR über andere sozialistische Länder illegal zu verlassen. Aus den internationalen Verträgen über die bilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherung der Staatsgrenzen der Länder des Warschauer Vertrages ergab sich für das MfS die Aufgabe, in den Bruderländern festgenommene DDR-Bürger zurückzuführen. Im zentralen Untersuchungsorgan des MfS gab es dafür eine Abteilung (letzte Bezeichnung HA IX/10). Nach Überführung in die DDR wurde die Einleitung von Ermittlungsverfahren geprüft und mit der Staatsanwaltschaft die Übergabe auch an andere Untersuchungsorgane entschieden.
Nach Angaben der BStU wurden im Jahre 1988 insgesamt 314 Ermittlungsverfahren an andere Untersuchungsorgane übergeben.1 Wieviel Personen davon betroffen waren, die an den Grenzen anderer sozialistischer Staaten festgenommen wurden, geht daraus nicht hervor.
Das System der Strafverfolgung in der DDR unterschied sich deutlich von dem in der alten Bundesrepublik. Allein Existenz und Vollmachten mehrerer Untersuchungs-Organe unterschied sich vom System der formalen Gewaltenteilung in der BRD, womit angeblich gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen wurde.
Beide Systeme unterschieden sich auch in ihrer Gesetzgebung, weil es sich um zwei diametral entgegengesetzte politische Systeme handelte. Denn in jedem System unterliegt die Juresprudenz – bei aller postulierten oder tatsächlichen Unabhängigkeit der Richter – dem politischen Willen des Gesetzgebers. Er ist, anders formuliert, da wie dort ein Instrument des Staates.
Deutlich wurde das beim »Beitritt« der DDR zum Rechtssystem der Bundesrepublik, als die Ostdeutschen gravierende Rechtsverluste im Arbeits-, Familien- und Mietrecht hinnehmen mussten.2
Die Tätigkeit der Untersuchungsorgane des MfS und deren Ergebnisse waren zudem Folge des Kalten Krieges. Die Gegner bestritten (und bestreiten) grundsätzlich die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen in der DDR. Diese Vorgabe machte Konrad Adenauer auf einem CDU-Parteitag 1950. »Ich wollte, die Bewohner der Ostzonen-Republik könnten einmal offen schildern, wie es bei ihnen aussieht. Unsere Leuten würden hören, dass der Druck, den der Nationalsozialismus durch Gestapo, durch Konzentrationslager, durch Verurteilungen ausgeübt hat, mäßig war gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht«, sagte der Bundeskanzler in Goslar.3 Er, der schon 1949 im Bundestag aufrief, mit der »Nazi-Riecherei« endlich aufzuhören, verglich vier Jahre nach Ende der Hitlerdiktatur, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, die soeben gegründete DDR mit der braunen Mörderherrschaft. Diese Ungeheuerlichkeit wird bis auf den heutigen Tag kolportiert.
In den frühen Jahren der Adenauer-Republik, in der Exponenten des Nazi-Reiches wie Globke, Gehlen, Oberländer etc. Politik machten, entstanden Netzwerke der antikommunistischen Meinungsmacher. Eine Schlüsselstellung besaß das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (seit 1969 in Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen). Vom 20. September 1949 bis 29. Oktober 1957 führte es Jakob Kaiser (CDU). Das oben abgebildete Organigramm veranschaulicht die Vernetzung dieses Ministeriums. Seine Hauptaufgabe bestand in der Destabilisierung der DDR und der Abwehr »kommunistischer Gefahren«.4
Die Tätigkeit dieses Ministeriums gegen die DDR werden durch Materialien des MfS belegt, die heute von der BStU verwaltet werden. Hinweise darauf finden sich lediglich in Publikationen ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, so in dem 2002 erschienenen Standardwerk »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. »Das Grundgesetz, faktisch das gesamte Rechtssystem, die Staatsorgane, Einrichtungen und Organisationen, die materiellen, finanziellen und geistigen Ressourcen der BRD wurden darauf ausgerichtet und dazu eingesetzt, dem Ziel der Beseitigung der DDR näher zu kommen. Mit der Schaffung des ›Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen‹ wurde die Durchsetzung und Abstimmung der entsprechenden Aufgaben auf die Ministerebene gehoben.
Die Geheimdienste und andere zur Tarnung und Organisation der Anti-DDR-Aktionen ins Leben gerufene diverse Einrichtungen und Gruppierungen wurden auf dieses Ziel eingeschworen. Spezielle Sender wurden installiert bzw. vorhandene in ihrem Profil auf die gezielte Einwirkung ausgerichtet. Forschungseinrichtungen befassten sich mit den Formen, Mitteln und Methoden der ideologischen Wühl- und Zersetzungstätigkeit. Stiftungen wurden gegründet, Geldflüsse organisiert und verschleiert, Emissäre und Berater ausgesandt«, heißt es dort.
»Bereits im März 1952 war die Gründung eines ›Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands‹ erfolgt«, stellen die Autoren heraus. »Mitglieder des Forschungsbeirates waren Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien – außer der KPD –, Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Arbeitgeberverbände, aber auch Vertreter der ›Interessengemeinschaft der in der Ostzone enteigneten Betriebe‹, der ›Vereinigung der aus der Sowjetzone verdrängten Lehrer und Erzieher e. V.‹ sowie Vertreter der ›Grüne Farbe – Hilfsgemeinschaft zur Wahrung der Interessen und Zusammenführung der Waldbesitzer, Forstmänner und Berufsjäger aus der Sowjetzone und den deutschen Ostgebieten e. V.‹. Schon im ersten Tätigkeitsbericht 1953 formulierte der Forschungsbeirat als vorrangige Aufgabe die Erstellung eines Sofortprogramms, d. h. die Vorbereitung aller derjenigen Maßnahmen, die im Falle einer ›Wiedervereinigung‹ notwendig sein würden.
Unter Bezugnahme darauf hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits auf der Grünen Woche in Berlin am 1. Februar 1953 offenherzig erklärt, dass sie ›eines Tages dazu beitragen kännen, den Osten zu kolonialisieren. Ich habe das Wort ›kolonialisieren‹ sehr bewusst ausgesprochen. Ich glaube, man wird dieser Aufgabe diesen Namen geben müssen.‹«5
Am 9. Juli 1961 hieß es in der Bonner Rundschau«, man wolle »alle Mittel des Krieges, des Nervenkrieges und des Schießkrieges« anwenden. »Dazu gehören nicht nur herkömmliche Streitkräfte und Rüstungen, sondern auch die Unterwühlung, das Anheizen des inneren Widerstandes, die Arbeit im Untergrund, die Zersetzung der Ordnung, die Sabotage, die Störungen von Verkehr und Wirtschaft, der Ungehorsam, der Aufruhr.«
Diese Absichtserklärung korrespondierte mit den Empfehlungen des »Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands« an die Bundesregierung, die das Gremium in seiner Plenartagung Mitte März 1961 verabschiedet hatte.
Am 6. Juli 1961 wurden sie publiziert. Das Buch, in dem die Ergebnisse der Tätigkeit des Forschungsbeirates bis 1961 zusammengefasst wurden, wird wegen seines grauen Einbandes sehr häufig als »Grauer Plan« bezeichnet.
Was sah dieser Plan vor?
Eine von der BRD eingesetzte »Behörde« und Vertrauensleute der westdeutschen Monopole sollten nach der »Befreiung der Sowjetzone« das Volkseigentum privatisieren. Geplant war die Übernahme in drei Etappen:
• Zerschlagung aller zentralen Planungs- und Leitungsorgane, Beginn der Überführung der volkseigenen in privatwirtschaftlich produzierende Betriebe;
• Abschluss von Betriebsbenutzungsverträgen primär mit jenen Unternehmen, die nach 1945 enteignet worden waren oder deren Erben oder Nachfolger;
• Übergabe der Unternehmen in Privateigentum.
Was aber sollte mit den Betrieben und Kombinaten geschehen, die keine Vorbesitzer hatten? Was geschah mit dem Eisenhüttenkombinat Ost, den Werften, den Betrieben der Elektrotechnik und Elektronik, den chemischen Großbetrieben? »Betriebe, die in der SBZ zwischen dem 8. Mai 1945 und der Wiedervereinigung aus Mitteln des ›Staatshaushaltes‹ errichtet wurden, können von der Behörde (also die Treuhandstelle – H. K.) verkauft werden.«
Der Forschungsbeirat lieferte Konzepte zur Zerschlagung der staatlich organisierten Arbeiter- und Bauern-Macht, der SED und der Gewerkschaften, des FDGB. Er erarbeitete beispielsweise eine Kartei, in der er sämtliche Mitarbeiter des Staatsapparates der DDR erfasst waren. Nach dem »Tag X« sollte die Mehrzahl von ihnen abgelöst und durch eigene Vertrauensleute ersetzt werden.
Der Forschungsbeirat signalisierte darum der Bundesregierung, dass es in der Zone an »mit den Prinzipien eines freiheitlichen Systems vertrauten Fachkräften für gehobene Positionen in Wirtschaft und Verwaltung« mangele6, weshalb man ...