Der Überläufer. Letztes Kapitel
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Der Überläufer. Letztes Kapitel

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Der Überläufer. Letztes Kapitel

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Im April 2011 verstarb "der Überläufer". Obgleich das Leben Hansjoachim Tiedges in Russland endete, wo er seit 1990 Asyl genoss, und trotz der Tatsache, dass seine Erinnerungen bereits 1998 herauskamen, meldeten nicht nur deutsche Agenturen sein Hinscheiden. Selbst die Washington Post berichtete am 13. April: "Hansjoachim Tiedge, West German intelligence official who defected to east, dies at 73." Der einstige Abwehrchef des Bundesamtes für Verfassungsschutz war 1985 in die DDR übergetreten und hatte sein Wissen offenbart. Kurz vor dem Ende der DDR flog der sowjetische Nachrichtendienst den wegen Landesverrat Gesuchten aus. Seitdem erfuhr man wenig bis nichts über ihn. Robert Allertz sprach mit Tiedges ehemaligen Kollegen, die bis zu seinem Tod Verbindung zu ihm hatten. Obgleich das BfV bestritt, ihn nach seiner Ausreise observiert zu haben, kam nun auch heraus: Tiedges Telefon wurde bis 2005 abgehört.

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Information

Publisher
Spotless
Year
2012
Print ISBN
9783360020536

Anlage 1

In Berlin promovierte Hansjoachim Tiedge an der Sektion Kriminalistik der Berliner Humboldt-Universität. Deren Chef, Prof. Dr. Ehrenfried Stelzer, Oberst der VP, war Tiedges Doktorvater. In der Hinterlassenschaft des 2010 verstorbenen Juristen und Kriminalisten fand sich auch Tiedges Doktorarbeit. Als der Nachlass in den Verlag kam, lebte der Verfasser noch, der Doktorvater hingegen war bereits verstorben. Der nachfolgende Beitrag zu Stelzer, ein zorniger Nachruf seines Freundes Frank Schumann, ist dem Buch von Ralph Hartmann »DDR-Legenden« entnommen, das 2010 in der edition ost erschien.
Im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit endete, von der Öffentlichkeit nicht bemerkt, das Leben von Ehrenfried Stelzer. Der Professor bildete in mehr als drei Jahrzehnten Hunderte Kriminalisten aus, die heute – als Beamte oder Angestellte – der Bundesrepublik Deutschland treu dienen und zu deren Schutz und Wohlfahrt beitragen. Er war Doktorvater und Autor vieler Fachbücher, die noch immer gelten und genutzt werden. Auch international genoss der Ordentliche Professor für Internationale Kriminalistik, als der er 1988 berufen worden war, hohes Ansehen, weshalb sich später etliche global tätige Unternehmen seiner Mitarbeit versicherten. Letztmalig war Oberst a. D. Ehrenfried Stelzer am 15. Juni 2009 einem Hamburger Nachrichtenmagazin Gegenstand moralischer Entrüstung, als das Deutsche Institut für Anlegerschutz (DIAS), eine auf die Untersuchung unlauterer Finanzgeschäfte spezialisierte Einrichtung, Stelzer zu seinem Geschäftsführenden Vorstand berief. Denn der Ex-Polizeioberst, so wollte die Postille wissen, sei in Wirklichkeit »Offizier im besonderen Einsatz«, also OibE der »Stasi«, gewesen. »Eine von Stelzers ersten Amtshandlungen war es, den gesamten zehnköpfigen Beirat, die meisten darin Juristen, abzuberufen.« Sic!
Zu jenem Zeitpunkt war der fast 80-Jährige bereits obdachlos. Sein Vermieter hatte ihn aus seiner Wohnung in der Leipziger Straße exmittieren lassen. Dort lebte Stelzer seit Fertigstellung des Hauses, und seit den 90er Jahren befand sich in diesen Räumen auch seine Kanzlei als zugelassener Rechtsanwalt. Er war mit einigen Monatsmieten im Rückstand. Dafür gab es, natürlich, auch subjektive Gründe. Es lag nicht nur an der Höhe seiner Altersbezüge, die wegen ihrer Beschneidung und Unrechtmäßigkeit zu Recht als Strafrente bezeichnet werden mussten. Der Professor war gewiss ein Fachmann auf seinem Gebiet, nicht aber, was den Umgang mit Geld betraf. So hatte er sich auf verschiedene, zunächst erfolgversprechende Projekte als Vermittler eingelassen, was ihn wiederholt nach Russland und nach China führte. Doch ehe er seine Reisekosten und Spesen abrechnen konnte, waren die Firmen, die ihn angeheuert hatten, oft untergegangen oder zahlungsunfähig.
Von seiner Frau hatte er sich in den 70er Jahren getrennt, eine zweite ihn verlassen, und die einzige Tochter lebte am Rande des Existenzminimums in Köln, nachdem eine Ehe in Großbritannien mit einem Araber für sie mit einem finanziellen Desaster zu Ende gegangen war. Von dort konnte Stelzer also keine Hilfe erwarten.
Der Verlag Das Neue Berlin schloss mit ihm vier Verlagsverträge und zahlte ihm einige tausend Euro als Vorschuss. Doch all das half so wenig wie der juristische Beistand, den er mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hatte. Vielleicht hätte selbst ein besserer Rechtsanwalt nichts am Urteil des Gerichts ändern können, dass dem Vermieter nicht länger zuzumuten sei, aus seiner Mietsache keinen Ertrag zu schöpfen, wie es in der Räumungsklage hieß.
Stelzer nahm dies mit ironischer Gelassenheit. Seine Familie und er seien schon einmal aus der Wohnung geworfen worden, das war seinerzeit bei den Nazis, und auch damals galt alles als rechtens. In Berlin-Friedrichshagen, in einem ehemaligen Tanzsaal, wurde seine Wohnungseinrichtung deponiert, darunter ein reichliches Hundert Bücherkisten mit seiner Bibliothek respektive seinen Arbeitsmitteln.
Wir waren einmal gemeinsam dort, nach der Zwangsräumung, um das konzentrierte Elend zu besichtigen. Bis unter die Decke stapelten sich die Habseligkeiten vieler auf die Straße geworfener Berliner. Kisten, Möbel und Matratzen waren als Pfand deklariert. Der Verwalter lebte von der Verpachtung der Stellfläche und rückte das Zeug nur heraus, wenn die Lagerkosten übernommen wurden und die Zustimmung der Gläubiger vorlag, denn diese wollten aus der Versteigerung des Trödels einen Teil ihrer Forderungen begleichen. Doch wer zahlte schon für abgeschabte Sofas und Schränke aus Spanplatten, von denen sich die Folie löste, für schmiedeeiserne Gartenstühle, windschiefe Plastiklampen und billige Kunstdrucke? Das meiste, was sich in dieser Lagerhalle fand, hätte man sofort auf den Sperrmüll karren können. Doch der guten deutsche Ordnung halber mussten die Armseligkeiten den Umweg über diese Zwischenlagerung nehmen, sofern nicht jemand mit einigen bunten Scheinen oder, wie in Stelzers Falle, mit einer Schenkungsurkunde erschien, deren Ausfertigung laut Datum vor dem Tag der Wohnungsräumung erfolgt war. So kam denn Stelzers einstige Bibliothek wieder zurück in die Innenstadt.
Der Professor selbst wahrte den Schein bürgerlichen Daseins. Man sah ihm nicht an, dass er ohne Obdach war. Nun, er nächtigte ja auch nicht unter einer Brücke oder auf einer Parkbank. Doch die Besenkammer seines Vereins in der Uhlandstraße, dessen Vorstand er war und der ihm ein Campingbett zur Verfügung stellte, unterschied sich von den Freiluftquartieren allenfalls dadurch, dass Stelzer bei Regen nicht nass wurde.
Er selbst berichtete mir regelmäßig über Pläne und halbe Zusagen, angeblich stünde die Konstituierung eines Instituts in Hamburg kurz bevor, nachdem sich eine ähnlich sichere Zusage über die Gründung einer Forschungseinrichtung für Flugsicherheit in Braunschweig oder Hannover zerschlagen hatte. Möglicherweise stimmte dies alles, vielleicht aber war es auch Selbstsuggestion, denn wenn man nichts mehr besitzt, so bleiben denn immer noch der Glauben und die Hoffnung. Stelzer jedenfalls war fest davon überzeugt, schon bald sein irdisches Jammertal wieder verlassen und seinen gewohnten Tätigkeiten nachgehen zu können.
Allerdings fiel mir auf, dass seine bemerkenswerte Selbstironie zunehmend ins Sarkastische glitt. Das ist meist bei Intellektuellen so, und viele überschreiten dabei auch die Grenze zum Zynismus. Stelzer nicht. Er blieb der analysierende Kopf, der er immer war.
Es kam, wie es kommen musste. Der Professor landete im Krankenhaus, denn wenn ein Mensch nach Jahrzehnten geregelten Daseins auf einen Schlag alles verliert, was dem Leben Rahmen und Sinn gab, leiden darunter Gesundheit und Seele. Zumal in diesem Alter. Ehrenfried Stelzer meldete sich gelegentlich telefonisch aus der Bettengruft am Rande des Grunewalds, in welcher auch Helmut Kohl lag, als dieser noch in der Nähe dieses Hospitals wohnte. Die Gespräche mit Stelzer wurden stetig schwieriger. Sie verloren ihre Stringenz, die Gedanken sprangen und reihten sich bald ein wenig wirr aneinander. Dann lief das Klingeln ins Leere, und auf die Frage an der Rezeption nach dem Grund hieß es, der Patient sei entlassen worden. Wohin? Das dürfe man nicht sagen, da könne ja jeder kommen.
Auf Anfrage erhielt ich eine Melderegisterauskunft vom »Bezirksamt Mitte von Berlin, Abteilung Soziales und Bürgerdienste, Amt für Bürgerdienste – Standort Berlin«: »Die gesuchte Person ist verstorben. Letzte Meldeanschrift 10179 Berlin Mitte, Neue Grünstraße 18. Die Verwaltungsgebühr in Höhe von 5,00 EUR für eine Melderegisterauskunft wurde vereinnahmt.«
Die »letzte Meldeanschrift« – die Adresse des Verlages.
Wann und wo Prof. Dr. Ehrenfried Stelzer – geboren am 26. März 1932 in Bolkenhain in Schlesien – verstarb und wo er bestattet ist, weiß allenfalls ein amtlicher Computer. Es lebe der Datenschutz, und verflucht sei die Herzlosigkeit dieser Gesellschaft.
Die Vita Stelzers glich der vieler Menschen in der DDR. Vom Faschismus aus der Heimat vertrieben, Abitur in Zschopau im Erzgebirge, Chemiearbeiter in Berlin, Jura-Studium an der Humboldt-Universität. Seine Diplomarbeit, die mit »sehr gut« bewertet wurde, trug übrigens die Überschrift »Die rechtlichen Grundlagen für die Wiedervereinigung Deutschlands«. Danach arbeitete er bei der Kriminalpolizei, konkret in der VP-Inspektion Prenzlauer Berg, und nebenbei an seiner Dissertation. Im März 1957 promovierte Kommissar Stelzer mit »magna cum laude«, im Dezember wurde er, gerade mal 25 Jahre alt, zum Direktor des Instituts für Kriminalistik an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität berufen, und als diese 1968 zur Sektion wurde, blieb er ihr Chef – bis zum 31. Dezember 1989. Danach nahm er, wie er in späteren Bewerbungsschreiben vermerkte, ein »freiwilliges Forschungsjahr«.
Es war, wie gesagt, ein durchaus typischer ostdeutscher Lebenslauf. Auch der von Ehrenfried Stelzer begann in kleinen Verhältnissen (Vater und Mutter waren Lehrer an einer Mittelschule in der Provinz), führte über eine solide Ausbildung schon früh zu einer wichtigen Aufgabe und Funktion, die dann über Jahrzehnte mit großem Idealismus und hohem persönlichen Einsatz erfolgreich ausgeübt wurde. Menschen wie Stelzer dienten treu und selbstlos dem Staat, der ihnen eine Chance und Perspektive gab. Dafür gab es nach dem Untergang des Staates den Tritt der Nachkömmlinge und Kolonisatoren.
Auch das Ende Stelzers muss inzwischen als keineswegs atypisch gelten. Er wurde, auch wenn sich sein Leiden an die zwanzig Jahre hinzog, was etwa ein Viertel seines Lebens ausmachte, erkennbar Opfer dieser »Wiedervereinigung«. Sie nahm ihm alles: Arbeit, Anerkennung, Würde und zuletzt auch die Wohnung.

Anlage 2

Hansjoachim Tiedge wurde nach seinem Übertritt in die DDR zunächst in einem Haus in Prenden untergebracht, ab 1988 lebte er als Prof. Dr. Helmut Fischer mit seiner Frau Brigitta in Berlin-Karolinenhof. Über die letzten Jahre in der DDR schrieb er:
Noch zweimal kehrte ich nach Prenden zurück: Am 8. April 1988 heirateten Brigitta und ich in Berlin-Lichtenberg. Nach einem festlichen Essen im Hotel Johannishof, neben dem Friedrichstadtpalast, im Kreise unserer Freunde und Bekannten vom MfS, verlegten wir die eigentliche Feier in kleinerem Rahmen in mein altes Objekt. Die Ehefrauen meiner neuen Kollegen kamen hin, und am Nachmittag gab uns auch Werner Großmann die Ehre, inzwischen Generaloberst und Leiter der HV A. Brigitta hat nur bedauert, dass ihre damals 72-jährige Mutter an der Feier nicht teilnehmen konnte. Angeblich standen dem Sicherheitsüberlegungen entgegen.
Den zweiten Besuch habe ich in bedrückenderer Erinnerung. Es war mein 52. Geburtstag, den wir bei strahlendem Sonnenschein auf der Terrasse des Objektes begingen.
Beiläufig erkundigte ich mich bei Gunter nach dem Befinden von »Schneider«1, der, wie ich wusste, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Gunter druckste herum, bis er bekannte, dass »Schneider« verstorben sei.
»Ja, der ist tot«, sagte er und vermied es, mich anzusehen, »der hat Selbstmord begangen«. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Unser CM »Schneider«, der vor Optimismus und Lebensfreude sprühte, hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Schuldgefühle beschlichen mich. Hätte ich damals nicht … Aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Es war seine eigene Entscheidung gewesen, Selbstmord zu begehen, allerdings ausgelöst von tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, in die ich ihn gestürzt hatte.
Seit der Enttarnung Kurons (Regierungsoberamtsrat Klaus Kuron stellte sich im Oktober 1990R. A.) muss ich die Sache anders sehen. Selbst wenn ich unsere Verbindung zu »Schneider« verschwiegen hätte, wäre er trotzdem verhaftet und verurteilt worden. Niemand hätte mir geglaubt, dass ich ihn zu schützen versucht hätte. Seine Festnahme nach meinem Übertritt wäre in der Bundesrepublik als Beweis gewertet worden, dass ich ihn verraten habe. Aber – egal, wie ich es sehe, ich muss mit dem Gedanken leben, für den Tod eines Menschen eine wesentliche Ursache beigetragen zu haben.
Zwei Ereignisse haben mich, noch in der DDR, in schlimmer Weise an den Fall erinnert. Das eine war die reißerische Berichterstattung der Bunten, nach der die Witwe Garau glaubte, ihr Mann sei in der Strafvollzugseinrichtung Bautzen II erschlagen worden. Nach einem anderen Bericht soll die Leiche sogar blutüberströmt gewesen sein. Noch beim letzten Besuch sei Garau hingegen optimistisch und gesund gewesen, so dass ein Selbstmord auszuschließen sei.
Ich weiß nicht, was Frau Garau den Sicherheitsbehörden gesagt hat, aber dass ihr Mann beim Besuch gesund und optimistisch war und kurz darauf erschlagen wurde, das glaube ich einfach nicht. Der Strafvollzug der DDR mag kein Ort der Nächstenliebe gewesen sein, aber dass Gefangene fast im Vorübergehen totgeschlagen wurden, das schließe ich aus. Das mag es in den 50er Jahren gegeben haben, aber nicht ein Jahr vor dem Ende der DDR.
Das andere Ereignis, an das ich denke, ist eine Information, die mir mein Ostberliner Rechtsanwalt, Prof. Dr. Wolfgang Vogel, hat zukommen lassen. Er erzählte mir, dass die Bundesregierung nicht ein einziges Mal den Austausch Garaus vorgeschlagen habe, was ihn, einen der Väter des Agentenaustausches, deutlich befremdet habe. Gewiss, es ist mehr als fraglich, ob Garau vor seinem Selbstmord schon hätte ausgetauscht werden können, aber als Zeichen des guten Willens hätte es gewertet werden können. Vielleicht hielt man es dort für möglich, dass ich »Schneider« geschützt habe, und wollte ihn durch einen solchen Schritt nicht in Gefahr bringen, aber für einen Nachrichtendienst wäre eine solche Argumentation kläglich.
Unser Leben in Karolinenhof ab Anfang 1988 war so normal, so durchschnittlich, dass es darüber nichts zu berichten gibt, es sei denn meine Promotion im Mai 1988 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich hatte mich, wie in der bundesdeutschen Presse nachzulesen war, über die »Abwehrarbeit der Ämter für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland« ausgelassen und war dafür mit dem Titel eines Dr. jur. und der Bewertung »magna cum laude« belohnt worden.
Die Arbeit war sicherlich kein Produkt hochwissenschaftlicher Forschung, aber sie war eine eingehende, systematische Schilderung aller Facetten nachrichtendienstlicher Tätigkeit in der Spionageabwehr der Bundesrepublik. Ich hatte sie in einen allgemeinen, juristischen Teil und in Abhandlungen über die Verdachtsfallbearbeitung, die Suchoperationen und die Arbeit gegen legale Residenturen untergliedert. Auf eine Darstellung des Themas G-Operationen hatte ich bewusst verzichtet, da dieser Bereich einer eigenen Monografie vorbehalten bleiben sollte. Immerhin hatte der damalige BfV-Präsident Gerhard Boeden, wie ich 1996 dem Spiegel-Spezial »Geheim – Die Welt der Agenten« entnehmen konnte, im Jahr 1990 die Arbeit als »äußerst kenntnisreich und fundiert« qualifiziert, ein Urteil, dem ich nichts hinzufügen möchte. Ein vielsagendes Detail möchte ich aber der Vollständigkeit halber erwähnen: Die Reinschrift meiner Dissertation fertigte eine Fachkraft: Herta-Astrid Willner, die einstige Vorzimmerdame aus dem Kanzleramt und von mir »gerettete« Agentin der HV A.
Das Rigorosum, die mündliche Prüfung, fand in einem Saal der ehrwürdigen Humboldt-Universität statt, wobei sich das Prüfungskollegium aus vier Personen zusammensetzte. Neben den beiden akademischen Gutachtern, meinem Doktorvater Prof. Dr. sc. Ehrenfried Stelzer und Prof. Dr. sc. H. Schmidt, nahmen als Fachleute der HV A-Sicherheitschef Dr. Fritz Kobbelt und – damals noch kein General – Oberst Harri Schütt teil. Schwierig war die Prüfung nicht, da ich das Thema ohnehin von allen Anwesenden am besten beherrschte und mich auch mein mündlicher Vortrag zu »Föderalismus und Staatsschutz« vor keine unlösbaren Aufgaben stellte.
Nach eineinhalb Stunden war die Prüfung vorbei und alle Beteiligten zogen ins Restaurant »Moskau« auf der Karl-Marx-Allee, wo wir den frischen Doktortitel gebührend feierten. Die Rechnung habe ich noch heute. Sie betrug 1.384,16 Mark der DDR.
Höhepunkte für mich persönlich waren in diesen Jahren die Begegnungen mit meinen Kindern, die uns, die älteste Tochter inzwischen mit Mann und Kind, in regelmäßigen Abständen besuchten. Da sie aus den hinlänglich bekannten konspirativen Gründen weder die Identität Fischer noch unseren Wohnort kennen durften, fanden diese Treffen in Berlin entweder in dem Objekt in Wandlitz oder dem in Rauchfangswerder statt.
Da auch mein Auto mit dem Kennzeichen IB 05-12 auf »Professor Fischer« zugelassen war, musste ich jedesmal im Wald das Kennzeichen gegen ein anderes austauschen, dessen Papiere offen auf »Ministerium für Staatssicherheit« lauteteten. So bin ich sicherlich einer der wenigen Deutschen, wenn nicht der einzige, der in beiden Teilen des damals noch geteilten Landes im Wald die Kennzeichen getauscht hat und sich im Falle eines Aufplatzens jeweils auf die Obrigkeit hätte berufen können.
Ansonsten führten Brigitta und ich ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Einen großen Bekanntenkreis hatten wir nicht, nicht zuletzt durch das MfS. Brigitta kannte durch ihre langjährige Tätigkeit beim Kulturbund unter der Intelligenz im Bezirk Potsdam Kulturschaffende allgemein wie Liter...

Table of contents

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Das Buch
  5. Der Autor
  6. Tiedge ist tot
  7. Wo kam er her?
  8. Wo ging er hin?
  9. Die Liebe und der Suff …
  10. Windiges aus der Luftfahrt und aus dem Verlagswesen
  11. Und sonst?
  12. Anlage 1
  13. Anlage 2
  14. Anlage 3