Krieg im Westen
Verdun
Am 21. Februar 1916 attackieren deutsche Truppen die stärkste Festung Frankreichs. Zehn Monate wird diese Schlacht dauern, mehr als 200.000 Tote lässt sie zurück – doch am Frontverlauf hat sich danach fast nichts verändert. So wird die „Knochenmühle“ in den Argonnen zum Symbol für den Stellungskrieg im Westen, für das sinnlose Sterben im Schützengraben. Und sie wird für zwei Nationen zum Trauma, dessen Schrecken Jahrzehnte nachwirkt
Von Cay Rademacher
„Verdun – das hätte niemand geahnt, das ist das Unglaubliche.«
Franz Marc, 27. Februar 1916, Brief an seine Frau Maria. Der Maler, Freiwilliger bei einer Artillerieeinheit, stirbt sechs Tage später durch Granatsplitter
Paris im Frühling 1916: Elegant gekleidete Damen und ihre Kavaliere promenieren durch den Bois de Boulogne und über die Champs-Elysées. In den Cafés werden frische Croissants serviert, abends ist in den guten Restaurants, im Weber’s etwa oder im Bœuf à la Mode, kaum ein freier Tisch zu haben. In der Opéra Comique wird „Manon“ vor ausverkauften Rängen gegeben, die Mistinguett tanzt in den Folies-Bergères, Sarah Bernhardts Film „Jeanne Doré“ feiert Premiere.
In diesem Wirbel fallen die Männer mit den verschlossenen Gesichtern kaum auf, die wie verirrte Geister für ein paar Tage über die Boulevards und Plätze streifen und dann plötzlich wieder verschwinden. Männer wie Capitaine Charles Delvert, permissionaire, Soldat auf Heimaturlaub.
Delvert betrachtet die Flaneure, die erleuchteten Theater und die überfüllten Restaurants mit dem fassungslosen Staunen, das eine absurde Welt bei einem Betrachter auslöst – eine Welt, zu der er nicht mehr gehört und in die er vielleicht nie wieder in seinem Leben hineinfinden wird.
Denn der 37-jährige Hauptmann der Reserve weiß, dass sich nur 240 Kilometer vom Eiffelturm entfernt eine Hölle aufgetan hat, und diese Hölle hat einen Namen: Verdun.
Die erste Station auf dem Weg zur Hölle ist für Delvert wie für Tausende, Zehntausende, Hunderttausende französischer Soldaten das Städtchen Bar-le-Duc. In diesem Provinzort am Südwestrand der Argonnen entladen Züge und Lastwagen ihre Menschenfracht. Delvert ist bereits im April 1916 nach Verdun abkommandiert worden, nun, im Mai, zum zweiten Mal.
Die Landschaft war einmal schön. Die Argonnen sind die südwestliche Begrenzung der Eifel, eines weitgespannten Mittelgebirgszuges: Der erhebt sich westlich des Rheins und bis zur Mosel, setzt sich durch Belgien, Luxemburg und Nordfrankreich fort und endet schließlich am Ufer der Maas, die mitten durch Verdun fließt.
Die meisten Hügel hier sind kaum ein paar Hundert Meter hoch, die Hänge steil, die Täler eng. Eichenwälder und dichtes Unterholz bedecken Kuppen und Schluchten, nur wenige Bauerndörfer liegen wie Inseln dazwischen. Fast noch eine Wildnis mitten in Europa; düster und schroff, nass, neblig und kalt drei Viertel des Jahres, heiß und trocken im Sommer.
Jetzt aber leuchtet und grollt dieses Land, als wäre es das Innere eines riesigen Ofens.
Von Bar-le-Duc sind es 75 Kilometer bis Verdun. Schon von hier hört Delvert ein dumpfes Rumpeln, an- und abschwellend, niemals aufhörend: die Kakophonie des Feuers von mehr als 2000 schweren und schwersten Geschützen, die Detonation Zehntausender Granaten. Nachts leuchtet der Himmel über Verdun vom Mündungsfeuer und von Geschossexplosionen, von roten, grünen und weißen Leuchtraketen, von Bränden irgendwo, von Suchscheinwerfern. Tagsüber scheint er jede Farbe verloren zu haben, außer einem fahlen Graublau: Staub von zermahlener Erde treibt in der Luft, aber auch Rauch von der Artillerie – und Giftgas, das in Nebelwänden stundenlang in Tälern wabert.
Ein einziger noch nicht von den Deutschen kontrollierter Weg führt nach Verdun, eine kleine Landstraße, von den Soldaten la route genannt. (Nach dem Krieg, als man dem Schrecken mit Pathos gerecht werden will, wird man sie Voie Sacrée nennen, „heiliger Weg“.)
Delvert und seine Soldaten marschieren los, rund 170 Mann, die 6. Kompanie des 101. französischen Infanterieregiments. Sie stolpern durch den Graben neben dem nur sieben Meter breiten Fahrstreifen, denn die Straße ist den Lastwagen vorbehalten. Pausenlos rumpeln sie in beiden Richtungen vorbei, bringen zentnerschwere Granaten, Gewehre, Helme, Brot, Verbandsmaterial an die Front. Manche Fahrer sitzen seit 48 oder 72 Stunden hinter dem Steuer, Fahrzeugwracks säumen die Straße. Überall sind Soldaten abkommandiert, die ständig Schotter auf die Fahrbahn schaufeln, damit diese unter dem Druck der Lastwagen nicht zermalmt wird.
Delverts Soldaten kommen langsam voran. Jeder Mann schleppt rund 25 Kilogramm Gepäck – vom Gewehr bis zum Stahlhelm, von Decken, Brot- und Weinrationen bis zum Tornister.
Mehr noch als der Lärm und das Leuchten des fernen Geschützfeuers wird vielen Neuankömmlingen wohl der Anblick ihrer abgelösten und stumm zurückmarschierenden Kameraden eine erste Ahnung vom Schrecken Verduns geben: Die einst horizontblauen Uniformen der Männer sind zerrissen, schlammüberkrustet, übersät von Läusen und Flöhen. Die Gesichter grau von Müdigkeit, Hunger und Angst. Das Furchterregendste an den Entgegenmarschierenden aber ist deren geringe Zahl: Von Kompanien, die mit 170 Mann nach Verdun gezogen sind, kehren nach ein oder zwei Wochen mitunter nur 20 oder 30 Soldaten zurück.
So fließt auf dieser erbärmlichen Landstraße ein großer Menschenstrom nach Verdun, ein kleiner tröpfelt zurück. Die Stadt selbst, einst eine liebliche Provinzgemeinde, ist von fast allen seiner 15.000 Einwohner verlassen worden; nur wenige sind geblieben, drei Ältere etwa betreiben eine Kantine für die Garnison. Viele Gebäude sind beschädigt, Wände sind zu Trümmerhaufen zusammengefallen und geben den Blick frei in verlassene Schlafzimmer und Küchen.
Die Deutschen beschießen die Stadt mit weit reichenden, schweren Kanonen – einst entworfen für des Kaisers Schlachtschiffflotte, doch jetzt in den Hängen jenseits der Maas aufgestellt. Von nun an tickt die Uhr für Delvert und seine Soldaten: Fortan kann jede Sekunde die letzte sein, kann irgendwo ein tödliches Geschoss niedergehen.
Noch sind es rund zehn Kilometer bis zur Front.
Bald hinter Verdun öffnet sich ein Land, in dem jegliches Leben erloschen zu sein scheint: Der Boden ist zernarbt von Granattrichtern. Krater an Krater liegen kilometerweit neben- und ineinander – kreisrunde Mulden, manche nur wenige Zentimeter, andere mehrere Meter tief. In einigen steht fauliges Wasser. Die Erde, immer wieder zerwühlt von Geschossen, ist weich geworden wie Treibsand.
Nur die zerfetzten, entrindeten Torsi weniger Bäume und grotesk verbogene Stacheldrahtrollen bieten dem Auge noch Halt und Orientierung. Verschwunden aber sind die Wälder, verschwunden alle Wege und Straßen und Bahnlinien, verschwunden die Dörfer der Umgebung – so zerschossen, dass die Piloten der Aufklärungsflugzeuge sie nur noch als weißliche Flecken Mörtelstaubes in der braunen, pockennarbigen Landschaft erkennen können.
Und pausenlos Granaten. Sie scheinen von überallher heranzuheulen, manchmal zehn, zwanzig pro Minute auf wenigen Quadratmetern. Die größten deutschen Geschosse, fast eine Tonne schwer und so hoch wie ein Mann, kann man tagsüber sekundenlang durch die Luft rasen sehen, ehe sie mit einem infernalischen Geheul niedergehen. Sie explodieren in einem Feuerball, reißen Erde hoch in die Luft, die Druckwelle ihrer Detonationen schlägt auf Lunge und Trommelfell.
Manche Berge sind so umkämpft, dass ihre Gipfel stundenlang hinter Schleiern aus Feuer und Qualm verborgen sind – gleich „Vulkanen“, schreibt ein französischer Soldat. Eine Anhöhe haben Granaten derart zerrissen, dass sie nun um sechs Meter niedriger ist. Und doch harren selbst dort noch irgendwo Menschen aus.
Tagsüber kann Delvert seine Position an der vordersten Front nicht einnehmen – zu schutzlos ist man in der Mondlandschaft. Jeder, der sich hier unter dem trüben Sonnenlicht zeigte, würde unweigerlich starkes Granat- und vielleicht auch Maschinengewehrfeuer auf sich lenken. Also nachts.
Anfangs, vielleicht drei, vier Kilometer hinter der Kampflinie, kommen die Männer noch in Laufgängen voran – in Schützengräben, wie sie hier typisch sind. Gräben, kaum breiter als die Schulter eines Mannes (damit sie den Geschossen wenig Zielfläche bieten), anderthalb bis über zwei Meter tief, abgestützt und gesichert mit rohen Holzbohlen und Sandsäcken.
Im Gefechtsstand herrscht Chaos. Delvert soll zum Bois Fumin marschieren, zum Fumin-Wald. Seine Stellung ist irgendwo an einem steilen Hang am rechten Maas-Ufer, nur rund 400 Meter entfernt von Fort Vaux, einer der mächtigsten Festungen Frankreichs. Es gibt im Hauptquartier niemanden, der ihm den Weg dorthin zeigen könnte. Er soll sich selbst zurechtfinden.
Im letzten Abendlicht glänzen die Helme der Soldaten. Delvert kommt nur mühsam voran, denn immer wieder blockieren erschöpft niedergesunkene Verwundete den Weg. Dann endet der Graben. Näher an der Front gibt es keine Deckung mehr. Die Soldaten müssen weiter, zwischen heulenden Granaten, ungeschützt durch das zernarbte Land. Weiter!
Wer zurückweicht, gar flieht, den erwartet der Tod. Noch in den ersten Kriegswochen hat Frankreichs Armee Schnellgerichte eingerichtet, in denen Soldaten selbst wegen kleinster Vergehen zum Tod durch Erschießen verurteilt werden. Nicht zurückweichen also, nur weiter!
Viele haben sich schon verlaufen, nachts, in der Wüste der Krater. Beim ersten Morgenlicht fanden sie sich dann im Niemandsland, ohne Deckung, als ideales Ziel fürs feindliche Feuer. Nur weiter!
Wer mit seinem schweren Gepäck in einen der tiefen, wassergefüllten Krater stürzt, der kann darin ertrinken. Und wenn ihm jemand helfen will, dann ertrinken zwei. Nur weiter!
Ein Militärgeistlicher, auch er auf dem Weg zur Front, berichtet später von einem Packpferd, das, noch vor seinen Karren gespannt, seit zwei Tagen im Kraterschlamm verzweifelt kämpfte, doch immer nur tiefer und tiefer sank. Kein Soldat kümmerte sich um das Tier. Nur weiter!
Delvert sieht einen Soldaten im Dreck liegen, ein Bein ist zerschmettert. „Niemand half ihm“, wird er später schreiben. „Man fühlte, dass die Männer brutalisiert worden waren durch ihr Bemühen, ihre Kompanie nicht zu verlassen und sich nicht aufzuhalten an einem Ort, an dem der Tod herniederregnet.“ Nur weiter!
Überall liegen Tote: Leichen mit fast intakten Körpern, kopf- und gliedlose Leiber auf einem Baumstumpf, undefinierbare Fetzen Fleisch. In allen Stadien der Verwesung. Niemand wagt es, die Toten zu bergen. Und begraben werden sie von den Granaten, die Erde aufwühlen und auf die Körper werfen. Und dafür andere Leichen wieder freilegen. Und zerfetzen. Und wieder zudecken. Und wieder aufdecken. (Ein Offizier sieht vor seinem Unterstand die blaue Uniform eines gefallenen französischen Soldaten. Eine Granate schlägt ein. Nun liegt die verstümmelte Leiche eines Kämpfers aus den Kolonien dort, kenntlich an seiner khakifarbenen Uniform. Wieder eine Granate. Wieder eine neue Leiche im schaurigen Reigen. Ein anderer Offizier entdeckt nach einem Granattreffer einen seiner Männer, der Körper „lag offen von den Schultern bis zur Hüfte wie ein zerteiltes Stück Fleisch in der Auslage eines Metzgers“. Er fotografiert den Toten als Souvenir.) Nur weiter!
Endlich – nach rund zwei Stunden Nachtmarsch – sind sie in dem zernarbten Landstrich, wo Frankreich endet. Der Fumin-Wald ist hier verschwunden. Der schwere Boden ist, notiert der Offizier in seinem Tagebuch, „von Granaten so sehr zermahlen, dass er zerkrümelt ist wie Sand und die Granattrichter Dünen ähneln“. Aus Granattrichtern besteht auch seine Stellung – „R.1“, Retranchement 1.
Sie soll er halten. Das war vor Kurzem noch eine mit Beton befestigte Position, doch Artilleriefeuer hat sie fast völlig zerschmettert. Delvert richtet sich „in einer Nische unter einer Platte aus Spezialbeton ein, die von einer 38-Zentimeter-Granate zerrissen worden war“. Seine Soldaten suchen in Granattrichtern so gut es geht Deckung.
Zur Rechten von R.1, auf der Kuppe des Abhangs, erhebt sich ein unförmiges Gebilde, das man für einen Steinbruch halten könnte: Fort Vaux, eine Festung hinter Gräben und Stacheldrahtverhauen, mit tief eingegrabenen Bunkern, aus deren Schießscharten Maschinengewehre feuern, mit stählernen, braun korrodierten Panzerplatten, die weitere, aber inzwischen zerstörte Geschützstellungen verbergen. Die Granaten haben Erde und Beton auf der Festung aufgewühlt, die Gräben teilweise verschüttet – und doch wird Delvert durch diese düstere Masse beruhigt, denn das Fort ist die stärkste Stellung an diesem Frontabschnitt.
Weiter vorn an den Hängen, ein paar Hundert Meter entfernt, hat sich der boche verschanzt, der deutsche Feind.
Die Männer, die von Delverts Soldaten abgelöst werden, verschwinden nach hinten in der Nacht. Falls sie durchkommen sollten, werden sie sich morgen, übermorgen in den dünnen Zug der graugesichtigen Soldaten auf der route einreihen. Ehe sie gehen, berichtet einer von ihnen, dass sie in den vergangenen vier Tagen 15 Mann durch fehlgeleitetes Feuer eigener Geschütze verloren haben.
Delverts Männer, erschöpft und verängstigt, haben keine Minute Ruhe. Sie graben sich tiefer ein. Große Granattrichter, Bodenwellen – alles ist recht, um sich darin einzuwühlen wie ein Insekt. Mit fast jedem Spatenstich fördern die Männer Leichenteile empor. Bald ist die Erde um die Unterstände übersät mit Fleisch und Knochen.
Im Morgengrauen erstarrt jede Bewegung. Wer sich jetzt rührt, ist tot. Also hocken die Soldaten in den Gräben, manchmal haben sie die nur einen halben Meter oder weniger tief anlegen können, ziehen die Köpfe ein und halten ihre Tornister schützend darüber. Wer sich erleichtern muss, tut dies an Ort und Stelle. So hocken sie im Schlamm, stundenlang, in Regen und Hitze, umgeben von Verwesung und Schmutz.
Und pausenlos fallen Granaten vom Himmel (rund drei Viertel aller Verstümmelten des Ersten Weltkriegs werden ihre Opfer sein). Wer genau im Aufschlagpunkt eines Geschosses liegt, verschwindet in einem Feuerball. Nichts bleibt mehr von ihm, doch immerhin ist es ein schneller Tod. Qualvoller ist es, von der hochgeschleuderten Erde eines detonierenden Geschosses lebendigen Leibes begraben zu werden – und dann zu ersticken.
Ersticken kann auch, wer nach niedergehenden Granaten keine Detonation hört, sondern nur ein sattes, im Lärm fast untergehendes „Plopp“. Dann verbreiten sich Phosgen oder andere Giftgase – und dem, der sich nicht schnell genug seine Schutzmaske aufzerrt, verätzt es die Lunge. (Das Gas, immerhin, tötet auch die großen schwarzen Fliegen, die in dunklen Wolken über den Kadavern summen.)
Noch fürchterlicher aber sind die Wunden, welche die Fragmente der zerplatzenden Granaten rei...