Demenz: Das große Vergessen (GEO eBook Single)
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Demenz: Das große Vergessen (GEO eBook Single)

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Demenz: Das große Vergessen (GEO eBook Single)

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"Ein halber Held". Dieser ironische Begriff stammt von Horst Wenderoth, denn so empfindet er sich, seit ihm der Alltag entgleitet. Sein Sohn schildert berührend, was geschieht, wenn Demenz in eine Familie einbrichtDie großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.

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Information

EIN HALBER HELD

Dieser ironische Begriff stammt von Horst Wenderoth, denn so empfindet er sich, seit ihm der Alltag entgleitet. Sein Sohn schildert berührend, was geschieht, wenn Demenz in eine Familie einbricht
Von Andreas Wenderoth
Wie geht es dir heute?
Bin ein bisschen wirrwarrig. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie ich mit dem Auto zum Arzt gekommen bin.
Der Arzt ist zu dir gekommen. Du bist nicht Auto gefahren.
Ach, der ist zu mir gekommen? Ja, welcher Arzt denn? Wie dem auch sei, ich hab mich jedenfalls ins Bett geworfen und mir gesagt, in deinem Bett ist solches Chaos, du wirst doch in Ruhe nachher mal aufräumen, zunächst mal in deinem Kopf. Das ist das Wichtigste.
An einem schneelosen Sonnabend im November 2013 verliert mein Vater sich selbst. Wir sind gegen Mittag verabredet, ich fahre nach Berlin-Lichterfelde und rufe aus der S-Bahn an. Meine Mutter ist am Telefon, aufgelöst: Der Vater sei aggressiv gegen sie. Er rede wunderlich, eigenartigerweise wünsche er, dass die Arbeiter von der Baustelle nebenan ihm seine Medizin reichten.
„Hilfe, Hilfe“, ruft er aus dem Hintergrund, meine Mutter reicht den Hörer weiter. „Papa, was ist mit dir?“ – „Ich sterbe!“ Und: „Die Mama will mich umbringen!“ Ich versuche ihn zu beruhigen. „Nein, das will sie nicht, sie möchte dir helfen. Aber du musst dir von ihr helfen lassen.“ Ich setze mich in ein Taxi, meine Mutter öffnet schließlich die Tür, ich sehe, sie hat nicht geschlafen. Sie deutet mit dem Finger nach oben. Mit angsterfüllten Augen sitzt dort mein Vater in seinem Arbeitszimmer, seltsam zusammengekrümmt auf dem alten beigefarbenen Ohrensessel, weint, als er mich sieht. Ich streichle ihm den Kopf und sage: Es ist gut. Er müsse sich nicht mehr sorgen. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Und auch er wird es ahnen.
Später bugsieren wir ihn irgendwie ins Bett. Als meine Mutter sagt, er müsse seine Position verändern, schaut er sie gereizt an. Er mag es nicht, wenn man an ihm herumzerrt.
Sein Schlaf ist unsere Erholung.
Am nächsten Morgen versucht er, im Bad das Fenster zu öffnen. Weil es ihm nicht gelingt, nimmt er seinen Spazierstock und will das Glas einschlagen. Meine Mutter versucht ihm den Stock zu entwenden. Er wehrt sich nach Leibeskräften, schafft es, das Fenster zu öffnen, und brüllt auf die Straße: „Hilfe! Meine Frau will mich umbringen!“ Passanten bleiben stehen, verfolgen die Szene. Ein Nachbar ruft die Feuerwehr.
IN DER ZWISCHENWELT
So hat es angefangen. Jedenfalls kam es uns damals so vor, weil sich die Krankheit zum ersten Mal mit Nachdruck offenbarte. In Wahrheit hatten wir ihren Beginn versäumt. Weil wir zu wenig wussten. Weil wir die Zeichen nicht gelesen hatten. Natürlich hatte es Hinweise gegeben. Zum Beispiel im Urlaub ein paar Monate zuvor, der unser letzter gemeinsamer werden sollte. Zum ersten Mal hatte mein Vater darauf verzichtet, selbst Auto zu fahren. Weil er immer wieder an seine Grenzen kam, wenn es darum ging, ein entferntes Ziel zu erreichen. Entweder verfuhr er sich hoffnungslos, oder er wusste nicht mehr, wie das Navi zu programmieren war. Er vergaß, das Licht auszumachen. Oder rechtzeitig zu tanken.
In jenen drei Wochen auf Usedom wollte er nichts tun, aber verlangte oft ängstlich nach unserer Gesellschaft. Ein Strandspaziergang? Ausgeschlossen, er könne nicht gehen. „Ich will nach Hause“, sagte er immer wieder. Sehr bald würde er nun auch zu Hause sagen, dass er nach Hause wolle. Zu Hause war für ihn kein Ort mehr, sondern eine Befindlichkeit, die er verloren hatte. Er war in sich selbst nicht mehr zu Hause. Würde sich bald mit Toten, die er im Raum wähnte, unterhalten oder von ihnen gestört fühlen. Es machte ihm Angst, wenn er seinen Freund Herbert im Zimmer stehen sah. Wir sagten ihm dann, weil wir schnell merkten, dass es in erster Linie um seine Beruhigung ging, Herbert habe sich sicher nur nach ihm erkundigen wollen. Vielleicht aber war Herbert der Vorbote eines Reiches, das bereits nach meinem Vater gerufen hatte. Auf der Erde war er nicht mehr hinreichend verwurzelt, aber noch hatte er zu viel Kraft, sie zu verlassen. Er bewegte sich in einer Zwischenwelt, voller Ängste und Irritationen.
Meine Mutter sagt, er müsse sein Insulin spritzen. Aber wie, bitte schön, spritzt man Insulin? 15 Jahre lang hat er jeden Tag in einen Finger gestochen, ein Blutströpfchen ausgedrückt auf einen Streifen, den er in ein Messgerät steckte. Aber nun hat er alles vergessen. Es ist ihm unmöglich, sich selbst zu piksen, und da er immer wieder zurückzuckt, will es auch uns nicht gelingen. Meine Mutter gibt ihm schließlich auf Verdacht eine ungefähre Dosis Insulin. Besser, als wenn er nichts bekommt.
Er sagt, er müsse auf die Toilette. Ich stütze ihn. Bis zu diesem Tag habe ich nicht gewusst, wie schwer mein Vater ist. Ich hake ihn unter, öffne die Tür, und er lässt mit großer Selbstverständlichkeit seine Hosen herunter.
DIE DIAGNOSE
Vaskuläre Demenz ist nach Alzheimer die zweithäufigste Form der Demenz und oft die Folge kleiner, stummer Infarkte im Gehirn. Während Alzheimer sich in der Regel sehr langsam zeigt, beginnt die vaskuläre Demenz oft mit plötzlicher Verwirrung als Folge eines solchen Infarktes. Nach kleinen Besserungen folgt Verschlechterung, sie zerschlägt die Hoffnung, die Krankheit könne verschwinden. Anders als bei Alzheimer ist sich der Kranke oft länger seines Zustandes bewusst. Sein Verstand leistet mehr als sein Gedächtnis. Er weiß zumindest vage, was er eigentlich wissen müsste. Das ist das Problem meines Vaters.
Die Computertomografie, der er sich unterzieht, weist keinen frischen Hirninfarkt aus, das heißt jedoch nicht mit letzter Sicherheit, dass es keinen gab. Klar ist ein massiver Gehirnschwund, vor allem auf der linken Schädelseite, sowie vaskuläre („die Gefäße betreffende“) Schädigungen in den tief sitzenden Stammganglien. Dadurch wird das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Glucose versorgt; es kommt zu dem, was Hirnforscher einen „neuronalen Untergang“ nennen. Hirnwasser, das normalerweise eine Schutzschicht zwischen Schädeldecke und Hirn bildet, füllt im Falle meines Vaters nun auch die Leerräume, in denen keine Hirnsubstanz mehr ist.
Der Stationsarzt sagt, nichts sei außergewöhnlich am Fall meines Vaters. Ich frage, ob ich ihm sagen darf, woran er leidet. Das, sagt der Arzt, liege sehr am Charakter des Patienten. Vielleicht müsse man mit dem Wort „Demenz“ zurückhaltend sein. Es ist abzuraten von allem, was die Panik des Patienten verstärkt.
Als mein Vater mich fragt: „Was fehlt mir denn? Bin ich verrückt?“, antworte ich: „Nein, dein Kopf spielt dir nur ein paar Streiche.“ „Du meinst, ich bin ein Halbidiot?“, fragt er und schaut mich dabei ernst an.
Neurowissenschaftler sagen, dass jede Erinnerung nur eine Erinnerung an eine Erinnerung ist. Fehlt ein Glied in dieser Kette oder gleich mehrere, ist die Erinnerung an sich selbst unvollständig. Die Geistesprozesse erodieren, die Identität des Betroffenen löst sich langsam auf. So ist der Demente ein Mensch, der im Verschwinden begriffen ist. Man möchte ihn festhalten, verzweifelt erhalten, aber er verflüchtigt sich.
Weißt du, wie alt du bist?
Wie alt ich bin, ja, ich glaube, mmh, also im Moment, ich muss 48 sein.
Ich bin 48, und ich bin dein Sohn …
Das hätt ich jetzt nicht gedacht. Dann steck ich ja schon tief in der 49.
Du bist doch schon in Rente. Soll ich’s dir sagen?
Na, wenn du’s mir so aufdrückst, werd ich wohl 50 sein.
Du bist 87!
Das wirft mich völlig zurück.
Der Schrank mit den Erinnerungen ist für ihn verhängt von einem großen Kleidungsstück, das keinerlei praktischen Wert mehr besitzt. Es ist nur noch dazu da, den Zugriff zu verhindern. Vor dem Schrank steht ratlos mein Vater und fragt sich, wie er ins Innere gelangen könnte. Manchmal gelingt es ihm unter großer Kraftaufwendung, die Tür einen Spalt zu öffnen. Aber wie gewaltig sein Erschrecken, wenn er bemerkt, dass sich in diesem Schrank gar nichts befindet. Er ist sich sicher, im Laufe seines Lebens viel darin abgelegt zu haben. Aber nun starrt er in verstörende Leere.
Das zuletzt Erlebte wird zuerst vergessen. Eine ungewollte Regression, eine zweite Kindheit, wie oft behauptet wird, wobei es das Bild, wie Arno Geiger in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“ feststellt, eigentlich nicht trifft, weil dem Kind ja die positive Entwicklung innewohnt, der Weg des Dementen aber beharrlich nach unten weist. Eine Krankheit ohne Chance auf Heilung, von der in Deutschland mehr als 1,4 Millionen Menschen betroffen sind. 2030 werden es bereits etwa 2,2 Millionen sein. Wenn ich meinem Vater ins gequälte Antlitz blicke, schaue ich in die Zukunft dieser Gesellschaft. Vielleicht in meine eigene. Die Krankheit ist ganz nahe. Zu wem sie kommt, ist nicht ausgemacht, aber man muss mit ihr rechnen. Je älter man wird, desto mehr.
Die Krankheit, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, sei ein „Stück weit schicksalhaft“. Zuverlässig vorbeugen könne man nicht. Gesunde Ernährung, Bewegung, soziale Interaktion und sinnstiftende Tätigkeiten können zu einem gewissen Grad vor der Krankheit schützen. Gedächtnistraining bringe nichts.
Bei Alzheimer gibt es inzwischen vier zugelassene Mittel, mit deren Hilfe der Krankheitsverlauf leicht verzögert werden kann; aufhalten lässt er sich nicht. Ähnlich schwierig sind die Prognosen, wer eine Demenz entwickeln wird. Nur in etwa einem Prozent aller Fälle wird Alzheimer vererbt, vaskuläre Demenz ist grundsätzlich nicht erblich. Woh...

Table of contents

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Inhalt
  4. Ein halber Held
  5. Was passiert, wenn der Geist streikt
  6. Was Angehörigen Mut machen kann
  7. Info-Adressen
  8. Mehr eBooks von GEO