WIE DAS ICH IN DEN KOPF KOMMT
Wie kommt es, dass wir beim Anblick einer roten Kirsche Rot empfinden? Dass sich Haut fĂŒr uns weich und warm anfĂŒhlt? Viele Forscher glauben, sie mĂŒssten nur immer weiter ins Dickicht der Nervenzellen vordringen, um den Kern unseres Ich-GefĂŒhls zu finden. Der Hirnforscher Giulio Tononi geht neue Wege. Vergesst die alten Ideen, sagt er. Und behauptet: Bewusstsein ist eine Grundeigenschaft der Materie und entsteht nicht nur im menschlichen Gehirn
Von Christian SchwÀgerl
Manchmal wacht Giulio Tononi auf und weiĂ nicht, wer er ist, wo er ist und wie er heiĂt, ob er Mann ist oder Frau. Meist erwischt es ihn auf Reisen, im Dunkel eines fremden Hotelzimmers. Dann sind da nur SchwĂ€rze und Stille. FĂŒr einen Augenblick ist alles verschwunden, was ihn ausmacht: seine IdentitĂ€t, das Wissen um den eigenen Platz in der Welt. Die meisten Menschen finden es schrecklich, wenn ihnen so etwas widerfĂ€hrt. Weil sie glauben, es stimme etwas nicht mit ihnen. Tononi dagegen, ein international angesehener Hirnforscher, freut sich: âDas ist genau das, wonach ich sucheâ, sagt er. Momente einer besonders reinen Form des Seins. Reduziert auf die allereinfachste Empfindung: Ich bin. Ich bin hier. Und sonst nichts.
Diese Vorliebe ist nicht etwa nur ein Tick. Sie steht fĂŒr einen neuen wissenschaftlichen Blick auf eines der grundlegendsten PhĂ€nomene unseres Daseins: das Bewusstsein. FĂŒr Tononi, der seit 2001 einen Lehrstuhl fĂŒr Schlaf- und Bewusstseinsforschung an der UniversitĂ€t von Madison in Wisconsin leitet, ist Bewusstsein, und damit vor allem unsere ganz subjektive Erfahrung, nicht einfach nur irgendein interessanter Forschungsgegenstand. Es ist der Startpunkt von allem, der entscheidende Blickwinkel auf die Welt. Oder auf das, was wir fĂŒr die Welt halten. Im Morgengrauen im Hotelzimmer, wenn er nichts empfindet als sich selbst in Dunkelheit und Stille, erfĂ€hrt Tononi das besonders klar.
Der in Italien aufgewachsene Forscher sitzt in der Sonne am Tisch auf seiner Veranda, inmitten eines Eichenwalds. Ein prĂ€chtiges Haus aus Holz hat er sich auĂerhalb von Madison auf die Lichtung bauen lassen. Das warme Braun der Balken, den Sound seiner gigantischen Stereoanlage, den lichtdurchfluteten Wintergarten, das Singen der WaldsĂ€nger und Drosseln in den BĂ€umen, den herben Duft des Bodens nimmt er aber anders wahr als wohl die meisten Menschen: Giulio Tononi sieht das, was er wahrnimmt, nicht primĂ€r als Ă€uĂere Umwelt, sondern als Produkt seines Bewusstseins. Entstanden in seinem eigenen Gehirn.
Tononi klopft mit den Knöcheln auf das Holz des Tisches: âWir werden geboren mit der Ăberzeugung, dass es diese Ă€uĂere Welt, diesen Tisch hier, gibt. Und es gibt sie ja wirklich. Wir haben mit der Naturwissenschaft phĂ€nomenale Erfolge erzielt, die Welt da drauĂen immer genauer zu beschreiben. Trotzdem sind wir Gefangene unseres Bewusstseins. Alles, was wir wissen, entsteht innen.â
Die groĂe Frage aber ist: Wie kommt man ran an dieses âInnenâ? Mit welchen Tricks können Wissenschaftler das Wesen und Wunder des Bewusstseins begreifen â wenn doch alle menschenmögliche Erkenntnis zwangslĂ€ufig vom Bewusstsein selbst geprĂ€gt, gefiltert, aufbereitet wird? Ăber dieses Dilemma, diesen Teufelskreis der Wahrnehmung, streiten Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Und darĂŒber, welcher der beiden möglichen Wege in unser âInneresâ der bessere wĂ€re.
Da gibt es, erstens, die sogenannten Reduktionisten. Sie glauben, dass unser Bewusstsein irgendwann sein Geheimnis preisgeben muss, wenn wir nur die âMaschineâ, die es erschafft, endlich in all ihren Einzelteilen verstehen: das Gehirn. Kompliziert ist es, ja! Aber warum sollte der menschliche Forscherdrang am Ende nicht auch aus vielen Milliarden Einzelteilen eine schlĂŒssige ErklĂ€rung fĂŒr unser Ich-GefĂŒhl, fĂŒr unser Bewusstsein, zusammensetzen â genau wie das bei Ă€hnlich komplexen RĂ€tseln wie der Evolution, der Fotosynthese oder der DNS bereits gelungen ist.
Die Haltung der Reduktionisten hat eine lange Tradition. Die Wissenschaft soll sich die Natur Detail fĂŒr Detail vorknöpfen â dann werde sich das groĂe Gesamtbild quasi automatisch einstellen. Und objektiv soll es zugehen, bitte schön: Zu viel GefĂŒhlsduselei stört da nur. Esoterik sowieso.
Schon Galileo Galilei, einer der GrĂŒndervĂ€ter der modernen Naturwissenschaften, verbannte alle subjektiven Empfindungen aus dem, was er als Forschung durchgehen lieĂ. âAlles messen, was messbar ist â und messbar machen, was noch nicht messbar istâ â ein GroĂteil der heutigen Gehirnforschung folgt noch immer getreu diesem Galilei-Prinzip: Die Forscher messen Hirnströme und Neurotransmitter und versuchen, aus den Ergebnissen die UrgrĂŒnde dessen zu destillieren, was wir Bewusstsein nennen.
Klingt vernĂŒnftig, sagen die einen. Hat aber einen Haken, sagt Tononi. Denn wie tief sich die Forscher auch in die Materie des Hirns vorarbeiten, sie finden dort immer nur: Materie. Aber keinen Aufschluss ĂŒber das Wesen des Bewusstseins.
Wie kommt es zustande, dass wir beim Anblick einer roten Kirsche wirklich Rot empfinden? Dass beim Hören von Bachs Orgelwerken eine tiefe Resonanz in uns mitschwingt? Dass sich das Holz des Esstisches glatt und warm anfĂŒhlt? Wie kann dieser graue Schwamm aus drei Pfund Fett, EiweiĂ und Wasser in unserem Kopf wissen, dass es ihn selbst gibt und um ihn herum eine Welt?
Auf diese gröĂte Frage unserer Existenz, glaubt Hirnforscher Giulio Tononi, finden wir die Antwort nicht im Klein-Klein der Synapsen und Neuronen. Die Wissenschaft mĂŒsse die Welt deshalb direkt vom Bewusstsein her betrachten.
âSchlieĂlich ist das Bewusstsein das Einzige, was wirklich real istâ, sagt Tononi. Allein die Tatsache, dass ich wahrnehme, dass in meinem eigenen Bewusstsein ein Bild, ein Erlebnis entsteht, nur diese Tatsache ist unbestreitbar wahr.
Alles darĂŒber hinaus? Spekulation. Schon die Frage, ob sich das Rot einer Kirsche fĂŒr einen anderen Menschen so Ă€hnlich âanfĂŒhltâ wie fĂŒr einen selbst, entzieht sich jeder Messbarkeit. Es könnte eine reine Konvention sein, etwas als rot zu bezeichnen.
Ein âDuo neuronaleâ sorgt fĂŒr mĂ€chtig Wirbel
Mit seinem Ansatz stellt Tononi die bisherigen PrĂ€missen auf den Kopf und sorgt gerade fĂŒr mĂ€chtig Wirbel in der Gehirnforscher-Szene. Und hat es doch geschafft, einen einflussreichen Mann ins GrĂŒbeln zu bringen, der eigentlich sein heftigster Widersacher hĂ€tte sein mĂŒssen.
Seit einiger Zeit weià der Italiener einen mÀch...