Neuropsychologie
Was ist Intelligenz?
Seit jeher zĂ€hlt der Verstand zu den stĂ€rksten TriebkrĂ€ften der Gesellschaft: Ohne Scharfsinn hĂ€tten unsere Vorfahren keine technischen Innovationen hervorgebracht, wĂŒsste niemand Bescheid ĂŒber die Gesetze der Physik oder die biochemischen VorgĂ€nge in unserem Körper. Doch noch immer streiten Forscher darĂŒber, was genau sich hinter dem Wesensmerkmal Intelligenz verbirgt, wie es entsteht â und was scharfsinnige von weniger klugen Menschen unterscheidet
Von Ute Eberle
Schleimpilze sind denkbar simple Geschöpfe: Sie besitzen weder Kopf noch Glieder, manche bestehen nur aus einer riesigen Zelle und sehen aus wie schmierige Farbkleckse, die ĂŒber den Waldboden kriechen. Und obwohl sie kein Gehirn haben, ja nicht einmal eine einzige Nervenzelle, scheinen sie dennoch recht komplexe Probleme lösen zu können.
Das zeigte sich, als der Japaner Toshiyuki Nakagaki einen Schleimpilz in den Eingang eines Labyrinths setzte. An dessen Ausgang platzierte er Haferflocken, ein begehrtes Futter. Wie geschickt sich ein Wesen in diesem Test dabei anstellt, den Weg durch die verzweigten GĂ€nge zu finden, gilt in der Verhaltensbiologie als guter Indikator dafĂŒr, wie intelligent es ist.
Der hirnlose Einzeller meisterte die Aufgabe mit Bravour: Er fand den Weg zu den Haferflocken â und wĂ€hlte sogar die kĂŒrzeste Route.
Sind Schleimpilze also intelligent? VerfĂŒgen sie demnach ĂŒber eine Eigenschaft, die wir gemeinhin nur bei hoch entwickelten Geschöpfen erwarten? Wohl eher nicht.
Oder doch?
Es ist erstaunlich, dass die meisten Menschen diese Frage nicht auf Anhieb beantworten können. Im Alltag denken wir offenbar selten darĂŒber nach, wie Intelligenz definiert wird â was verblĂŒffend ist: Denn kaum ein anderes Wesensmerkmal prĂ€gt unser Leben so machtvoll, lenkt unseren Werdegang so entscheidend. Ob ein Mensch fĂŒr intelligent gehalten wird oder nicht, bestimmt heutzutage in modernen Gesellschaften meist, welche Schule er besuchen darf, ob er studiert, welchen Beruf man ihn ausĂŒben lĂ€sst, ob er Karriere macht. Oftmals auch, mit wem er verkehrt, welchen Freundeskreis er aufbaut, welchen Partner er findet.
Mit anderen Worten: welches Dasein er fĂŒhrt.
So trafen in den 1920er Jahren Tausende, die wegen der Wirtschaftskrise in die USA emigrieren wollten, auf US-Einwanderungsbeamte, die von den Behörden den Auftrag erhalten hatten, die potenziellen Immigranten auf deren Intelligenz zu prĂŒfen â und jeden, den sie fĂŒr âzu dummâ hielten, zurĂŒckzuschicken.
Der Verstand eines Menschen kann sogar ĂŒber Schuld und Unschuld, ĂŒber Leben und Tod entscheiden. So wird in manchen Staaten, in denen es noch die Todesstrafe gibt, eine Hinrichtung mitunter ausgesetzt, wenn der Verdacht besteht, der TĂ€ter sei nicht intelligent genug gewesen, um seine Tat richtig einzuschĂ€tzen.
SEIT JEHER ZĂHLT DER VERSTAND zu den wichtigsten Werten der Gesellschaft â und zu einer ihrer stĂ€rksten TriebkrĂ€fte. SchlieĂlich grĂŒndet unsere Zivilisation auf der Denkleistung intelligenter Menschen. Ohne Scharfsinn hĂ€tten unsere Vorfahren weder Ackerbau noch Viehzucht erfunden, hĂ€tten keine StĂ€dte erbaut, keinerlei technische Innovation hervorgebracht.
Niemand hĂ€tte sich je kluge Gedanken gemacht ĂŒber den Sinn des Seins, niemand wĂŒsste etwas ĂŒber die Gesetze der Physik, den Aufbau des Universums, ĂŒber die Wirkkraft von Arzneimitteln, die biochemischen VorgĂ€nge in unserem Körper. Oder ĂŒber die Evolution â also letztlich unsere Herkunft.
Wohl kaum eine andere Eigenschaft begehren Menschen daher mehr als Intelligenz. âMan darf fast alles ĂŒber die Kinder anderer Leute sagen â dass sie faul, frech, aggressiv, nervös, zerfahren oder schĂŒchtern sindâ, schreiben die Kognitionsforscher Rolf Pfeifer und Josh Bongard: âAber bloĂ nicht, dass sie unintelligent sind!â
All dies setzt eines voraus: dass wir ĂŒberhaupt wissen, was Intelligenz eigentlich ist.
Die Antwort darauf mag zunĂ€chst recht einfach erscheinen. Der Begriff Intelligenz leitet sich vom lateinischen Verb âintellegereâ (âeinsehenâ, âverstehenâ) ab. So kann man diese Eigenschaft vereinfachend als die Gabe ansehen, möglichst schnell Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, ZusammenhĂ€nge herzustellen, Probleme zu lösen â kurz: schlussfolgernd zu denken.
Doch was genau verbirgt sich hinter dieser FÀhigkeit? Wie entsteht Intelligenz? Was unterscheidet scharfsinnige von weniger klugen Menschen? Wo in unserem Kopf ist der Verstand untergebracht? Und beschrÀnkt er sich allein auf unser Gehirn?
Seit Langem schon beschÀftigen sich Psychologen und Bildungsexperten, Biologen, Informatiker und Neurowissenschaftler mit diesen Fragen. Das aber stellt sie vor Probleme. Denn Intelligenz kann man weder greifen noch riechen, weder schmecken noch ertasten oder sehen.
Daher gestaltet sich ihre Erforschung so kompliziert wie die des Bewusstseins. Die Experten versuchen gewissermaĂen nichts Geringeres, als das Wesen von etwas Wesenlosem zu ergrĂŒnden. Einer strukturlosen Macht Struktur zu verleihen. Zudem ist Intelligenz nicht bloĂ eine unsichtbare Erscheinung â sondern eine der vielschichtigsten ĂŒberhaupt.
Und schlieĂlich urteilen Menschen in verschiedenen Kulturen höchst unterschiedlich darĂŒber, ob ein MitbĂŒrger ĂŒber einen hohen Verstand verfĂŒgt; nicht jeder, der beispielsweise in der westlichen Welt als schlau gilt, wird auch ĂŒberall sonst so angesehen.
âBei den BuschmĂ€nnern in Australienâ, so der renommierte Intelligenzforscher Detlef Rost von der UniversitĂ€t Marburg, âwĂŒrde ein in unserer Gesellschaft hochgeschĂ€tzter und als besonders intelligent angesehener Informatiker vermutlich jĂ€mmerlich versagen und wĂ€re kaum lebenstĂŒchtig.â
Selbst bestimmte CharakterzĂŒge werden je nach Kulturkreis gĂ€nzlich anders ausgelegt. Tratschen etwa gilt in der westlichen Welt zwar als unhöflich, aber nicht unbedingt als dumm. Bei manchen Völkern dagegen schon: Dort zeichnet es intelligentes Verhalten unter anderem aus, wie geschickt jemand innerhalb einer Gruppe fĂŒr Harmonie sorgt.
Beim Volk der Luo in Kenia gibt es gleich vier Wörter, die sich auf Intelligenz beziehen. Dabei bezeichnet allein der Begriff rieko eine der westlichen Vorstellung Ă€hnliche intellektuelle Kompetenz. Die Worte luoro und winjo dagegen beschreiben, wie respekt- und rĂŒcksichtsvoll jemand mit seinen Mitmenschen umgeht. Und paro, ob er begonnene Vorhaben auch zu Ende fĂŒhrt.
Chinesische Taoisten wiederum sehen Selbsterkenntnis und Bescheidenheit als wichtige Intelligenzfaktoren. Und fĂŒr Menschen in Estland zĂ€hlt dazu, wie emotional stabil jemand ist, wie gewissenhaft und weltoffen.
Was exakt sich hinter dem PhĂ€nomen Intelligenz verbirgt, ist deshalb eine der verwirrendsten Fragen der modernen Wissenschaft. Mittlerweile aber gewinnen Forscher ein immer genaueres Bild davon, was unseren Verstand â zumindest aus westlicher Sicht â kennzeichnet.
DAMIT EIN WESEN ĂŒberhaupt eine Form von Intelligenz besitzt, darin sind sich die Wissenschaftler einig, muss es EindrĂŒcke aufnehmen und speichern, es muss Informationen abrufen und verknĂŒpfen können. Zudem stellt es seinen Verstand gewöhnlich unter Beweis, indem es Probleme löst.
Vor einigen Jahren einigten sich 52 international angesehene Experten auf folgende Beschreibung der menschlichen Geisteskraft: âIntelligenz ist eine sehr allgemeine geistige KapazitĂ€t, welche die FĂ€higkeit zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zur Problemlösung, zum abstrakten Denken, zum VerstĂ€ndnis komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung umfasst.â
Dieser Auffassung liegt ein PhĂ€nomen zugrunde, das Wissenschaftlern bereits vor mehr als 100 Jahren auffiel: War ein SchĂŒler in einem bestimmten Bereich talentiert â konnte er beispielsweise mĂŒhelos Zahlenkolonnen addieren â, offenbarte er hĂ€ufig auch andere geistige FĂ€higkeiten, er drĂŒckte sich etwa besonders gewandt aus. Es fiel ihm leicht, eine Fremdsprache zu erlernen, oder er fand flink Wege, um komplizierte Knoten zu lösen.
Sprach ein SchĂŒler dagegen holprig, dann rechnete er oft auch schlecht, konnte sich schwer Vokabeln einprĂ€gen und zeigte hĂ€ufig ein unzureichendes VerstĂ€ndnis fĂŒr GesetzmĂ€Ăigkeiten.
Aus dieser Beobachtung erwuchs schlieĂlich eine Theorie, die bis heute unter Wissenschaftlern die mit Abstand gröĂte Zustimmung findet. Sie besagt, dass jeder Mensch eine Art geistige Energie besitzt â die allgemeine (oder âfluideâ) Intelligenz â, die jedoch individuell unterschiedlich stark ausgeprĂ€gt ist.
Daraus speist sich die kognitive LeistungsfĂ€higkeit jedes Einzelnen â also die Schnelligkeit und EffektivitĂ€t, mit denen jemand Informationen verarbeitet: Wie leicht er lernt, wie rasch er logische ZusammenhĂ€nge herstellen kann oder wie verlĂ€sslich er sich neues Wissen einzuprĂ€gen vermag.
Die allgemeine Intelligenz wiederum bildet die Basis fĂŒr die bereichsspezifische (oder âkristallineâ) Intelligenz. Darunter verstehen Wissenschaftler unsere spezifischen Begabungen oder Talente, zum Beispiel verbale Fertigkeiten wie etwa SprachgefĂŒhl, mathematisches Geschick oder rĂ€umliches Vorstellungsvermögen â also die von Mensch zu Mensch unterschiedliche Gabe, in bestimmten Bereichen Kenntnisse zu erwerben, Kompetenz zu entwickeln und schlieĂlich eine Art Expertenwissen (âkristallines Wissenâ) aufzubauen.
Man kann dieses gĂ€ngigste aller Intelligenzmodelle mit dem Wachstum eines Baumes vergleichen. Die allgemeine Intelligenz entspricht demnach einem fruchtbaren Humusboden, aus dem gewissermaĂen der Strunk des Verstandes sprieĂt. Von dessen Dicke hĂ€ngt die AusprĂ€gung der bereichsspezifischen Intelligenz ab. Denn der Stamm verzweigt sich in die Talente und Begabungen. Freilich sind nicht alle Ăste exakt gleich dick, alle Begabungen gleich stark ausgeprĂ€gt. Doch wer ĂŒber viel allgemeine Intelligenz verfĂŒgt, der bildet einen krĂ€ftigeren Stamm und damit auch dickere Ăste, die wiederum eine mĂ€chtigere Krone entwickeln.
Menschen mit wenig allgemeiner Intelligenz bilden einen vergleichsweise schlanken Stamm, aus dem dĂŒnnere Ăste ragen. Die Krone bleibt schlichter, karger.
VOR ALLEM UNTER BILDUNGSFORSCHERN und Psychologen genieĂt dieses Modell eine breite UnterstĂŒtzung und stellt das Fundament fĂŒr die meisten gebrĂ€uchlichen Intelligenztests. In diesen Tests wird die GeistesstĂ€rke unter anderem dadurch gemessen, dass Probanden Rechenaufgaben lösen, Reimwörter finden, Buchstabenfolgen ergĂ€nzen oder eine Reihe unterschiedlicher Muster sinnvoll um ein weiteres Symbol vervollstĂ€ndigen.
Dabei hat sich gezeigt, dass wir uns Daten und ZusammenhĂ€nge je nach Tagesform mal besser, mal weniger gut merken können. Sind wir beispielsweise mĂŒde, vermögen wir uns schlechter zu konzentrieren, und unser Verstand lĂ€sst nach.
FĂŒhlen wir uns ĂŒberarbeitet, ist unser âArbeitsgedĂ€chtnisâ kleiner: Wir können dann nicht mehr so viele Informationen wie sonst gleichzeitig im Kopf behalten â was dazu fĂŒhrt, dass uns komplexe DenkvorgĂ€nge mehr MĂŒhe bereiten.
Ansonsten aber ist die allgemeine Intelligenz eines Menschen verblĂŒffend stabil: Studien belegen, dass sich die Werte im Laufe eines Lebens nur wenig Ă€ndern.
DarĂŒber hinaus haben Forscher herausgefunden, dass ein Intelligenztest ĂŒberraschend verlĂ€sslich voraussagen kann, wie sich das Leben des Probanden entwickeln wird: Wie empirische Studien belegen, ĂŒben Menschen mit hoher allgemeiner Intelligenz eher als durchschnittlich begabte MitbĂŒrger angesehene Berufe aus, genieĂen höhere Einkommen und leben in sozial stabileren VerhĂ€ltnissen.
Menschen mit niedrigerer allgemeiner Intelligenz dagegen sind der Statistik nach hĂ€ufiger arbeitslos und von Armut bedroht, leben ĂŒberdurchschnittlich oft in Scheidung. Sie werden zudem eher kriminell, verbĂŒĂen mehr GefĂ€ngnisstrafen. Und sie sterben jĂŒnger â möglicherweise, weil sie weniger auf ihre Gesundheit achten und sich schwerer tun, im Krankheitsfall die RatschlĂ€ge eines Arztes umzusetzen.
Aufgrund all dieser Erkenntnisse, so der Marburger Forscher Detlef Rost, sei das Konzept einer allgemeinen Intelligenz âdas am besten gesicherte Ergebnis der Intelligenzforschungâ.
Und doch: Manche Wissenschaftler halten diese Theorie fĂŒr zu einseitig. Denn, so ihr Argument, neben den allseits talentierten Menschen gebe es ja durchaus solche, die allein in einem einzigen Bereich brillieren, in etlichen anderen dagegen keine besondere Begabung zeigen. Einen Extremfall solch begrenzter FĂ€higkeiten finden Forscher bei autistischen Menschen, die sich mitunter im Leben kaum zurechtfinden â und doch auf manchen Gebieten mental unschlagbar sind.
Deshalb haben Intelligenzforscher Alternativmodelle entwickelt, um die Geisteskraft eines Menschen zu definieren, das bekannteste stammt von dem US-Psychologen Howard Gardner. Der an der Harvard University lehrende Wissenschaftler behauptet, es gebe mehr als nur einen NĂ€hrboden, aus dem sich unsere Begabungen speisen.
Vielmehr verfĂŒge der Mens...