ReichsgrĂŒndung
Der Lotse des neuen Deutschland
Im Herzen Frankreichs, im Spiegelsaal von Versailles, wird der PreuĂenkönig Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Dieser Akt ist das Werk eines Mannes: des preuĂischen MinisterprĂ€sidenten Otto von Bismarck. Mit Intrigen und Kriegen â zuletzt gegen Frankreich â hat der skrupellose Politiker sein Ziel erreicht und aus 25 Einzelstaaten eine geeinte Nation geformt. FĂŒr Jahrzehnte bestimmt vor allem er die Geschicke der Deutschen
Von Heinrich Jaenecke
Er war ein Gewaltmensch. In der hĂŒnenhaften Gestalt mit dem massigen SchĂ€del brannte eine vulkanische Energie, die aus seinem Leben eine Kette unaufhörlicher KĂ€mpfe machte. Blut schreckte ihn nicht. Als Student schlug er in drei Semestern 28 scharfe Mensuren und kam bei allen glimpflich davon. Als Staatsmann brach er in sechs Jahren drei Kriege vom Zaun, die er alle gewann. Er stapfte mit seinen KĂŒrassierstiefeln durch das Jahrhundert und lieĂ ganz Europa erbeben in Schrecken und Bewunderung.
Er war kein Gewaltmensch. In der hĂŒnenhaften Gestalt mit dem massigen SchĂ€del hauste eine empfindsame, harmoniebedĂŒrftige Seele. Er litt unter schweren Depressionen und wurde in Lebenskrisen von WeinkrĂ€mpfen geschĂŒttelt. Seiner Frau schrieb er von jeder Reise, jedem Feldzug, jeder Konferenz die zĂ€rtlichsten Briefe, ĂŒber 40 Jahre hinweg. Er konnte kaltblĂŒtig ĂŒber Schlachtfelder reiten, aber er geriet in Panik, wenn er drei Tage lang keine Post von ihr bekam.
Er hasste seine Mutter, eine schöne, gebildete, ehrgeizige Frau, die ihn mit sechs Jahren aus seinem Kinderparadies, dem vĂ€terlichen Gut, riss und nach Berlin in ein Internat steckte. âMeine Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, die mir wie ein Zuchthaus vorkam.â
Die Frauen seiner Dienstherren, Kaiserin Augusta und ihre englische Schwiegertochter Victoria, verabscheuten ihn. âFĂŒrst Bismarck hat so viel Brutales und Zynisches, so wenig AnstĂ€ndiges und Ehrliches in seiner Natur; er ist ein Mensch aus einem ganz anderen Jahrhundertâ â so Victoria, die Gemahlin Kaiser Friedrichs III.
Er polarisierte und hatte ein VergnĂŒgen daran. Er machte Bewunderer zu Feinden und Feinde zu Bewunderern. Theodor Fontane, anfangs ein Bewunderer, nannte ihn eine âMischung von Ăbermensch und Schlauberger, von Heros und Heulhuberâ.
Die preuĂische Kardinaltugend, der Gehorsam, war Bismarcks Sache nicht. âIch habe nie Vorgesetzte vertragen könnenâ, bekannte er. âNicht zu gehorchen, sondern zu befehlenâ sei sein Ehrgeiz. Als Behördenchef war er gefĂŒrchtet. âDie Zitrone ausdrĂŒcken und wegwerfen, das ist seine Politikâ, sagte ein Diplomat, der unter ihm arbeitete.
Er war der erfolgreichste Machtmensch der deutschen Geschichte, aber er verlor nie den Boden unter den FĂŒĂen. âDas lernt sich in diesem Gewerbeâ, schrieb er seiner Frau, âdass man so klug sein kann wie die Klugen dieser Welt und doch jederzeit in die nĂ€chste Minute geht wie ein Kind ins Dunkle.â
Er hatte nichts ĂŒbrig fĂŒr einen deutschen Nationalstaat. Doch als dieser nicht zu verhindern war, setzte er sich an die Spitze der Bewegung und zimmerte ihn nach seinem Gusto zusammen. âAn GrundsĂ€tzen hĂ€lt man nur fest, solange sie nicht auf die Probe gestellt werden.â
Lange Zeit wusste er nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. âIch habe manche Stunde trostloser Niedergeschlagenheit mit dem Gedanken zugebracht, dass mein und anderer Menschen Dasein zwecklos und unersprieĂlich seiâ, sagte er mit 31 Jahren.
Er musste sich nicht nach oben durchboxen. Er gehörte der Kaste an, die die tragende SĂ€ule des preuĂischen Staates war, und als er entdeckte, wozu er auf der Welt war â nĂ€mlich einzugreifen in den Lauf der Dinge, Schicksal zu sein statt zu erleiden â, brauchte er nur die BĂŒhne zu betreten. Das StĂŒck, das auf dem Spielplan des Jahrhunderts stand, hieĂ âWas soll aus Deutschland werden?â.
Die Welt ist im Umbruch, als Otto von Bismarck 1815 im vĂ€terlichen Schloss Schönhausen in der Altmark, 100 Kilometer westlich von Berlin, geboren wird. Napoleon ist geschlagen, Europa atmet auf nach einem Vierteljahrhundert Krieg und Tyrannei. Eine Welle der Hoffnung geht durch Deutschland. Das alte âHeilige Römische Reich Deutscher Nationâ, ein amorphes Gebilde, das sich wie ein Gespenst durch die Jahrhunderte schleppte, ist fĂŒr immer untergegangen. Die Befreiungskriege haben das Tor zu einem neuen Zeitalter aufgestoĂen. âEinheit und Freiheitâ heiĂt die Losung â Nationalstaat und Demokratie.
Die deutschen FĂŒrsten haben ihren Untertanen wĂ€hrend der Erhebung gegen Napoleon freiheitliche Verfassungen versprochen. Doch nur wenige halten Wort. Ăsterreich und PreuĂen, die beiden deutschen GroĂmĂ€chte, denken nicht daran, dem Volk Mitbestimmung einzurĂ€umen. Klemens FĂŒrst von Metternich, der österreichische Staatskanzler, dreht das Rad der Geschichte zurĂŒck und etabliert im BĂŒndnis mit PreuĂen ein rigoroses UnterdrĂŒckungssystem.
Auch von âEinheitâ ist keine Rede mehr. An die Stelle des alten Reiches tritt der âDeutsche Bundâ, ein loser Zusammenschluss der 39 Einzelstaaten (35 Erbmonarchien und vier Freie StĂ€dte), die ihre volle SouverĂ€nitĂ€t behalten. Einzige gesamtdeutsche Institution ist der âBundestagâ in Frankfurt â kein Parlament, sondern ein Delegierten-Club der Regierungen.
Der preuĂische Landjunker Otto von Bismarck wĂ€chst auf in der Zeit der âDemagogenverfolgungâ, der UnterdrĂŒckung der national-demokratischen Bewegung. Er hat nichts ĂŒbrig fĂŒr die Idealisten und SchwĂ€rmer, die von einem geeinten und freien Deutschland trĂ€umen. Sie stellen eine Bedrohung seiner Welt dar â der fest gefĂŒgten preuĂischen Ordnung, die auf dem Prinzip von Dienen und Herrschen beruht und KRONE und KĂNIG verpflichtet ist. Eine Ordnung, in der die Armee das Fundament des Staates ist und der Zweck des Staates die Aufrechterhaltung seiner selbst.
Der junge Herr hat gerade sein Jurastudium in Göttingen begonnen, als im April 1832 die erste Massendemonstration fĂŒr âEinheit und Freiheitâ in Deutschland stattfindet â das Hambacher Fest: Mehr als 20.000 Menschen protestieren unter schwarz-rot-goldenen Fahnen gegen das System Metternich. Ein Jahr spĂ€ter stĂŒrmen Studenten die Frankfurter Hauptwache in einer putschartigen Erhebung.
âDiese Erscheinungen stieĂen mich abâ, schreibt Bismarck spĂ€ter. Er schlieĂt sich nicht den demokratischen Burschenschaften an, sondern einer konservativen schlagenden Verbindung. Er fordert sechs Kommilitonen auf einmal, weil âsie so auf unseren König geschimpft habenâ.
Stets begleitet von einer schwarz-gelben Dogge, ist der preuĂische Junker bald eine markante Erscheinung an der Georgia-Augusta-UniversitĂ€t, trinkfest und groĂmĂ€ulig. âIch werde entweder der gröĂte Lump oder der erste Mann in PreuĂen seinâ, verkĂŒndet er.
Vorerst gibt er sich jedoch dem Rausch des Lebens hin. Den gröĂten Teil seiner Referendarzeit absolviert er bei der Provinzialverwaltung in Aachen. Die Stadt ist damals ein mondĂ€ner Kurort, der bevorzugt vom englischen Hochadel besucht wird. Bismarck, den die Aktenarbeit anödet, findet reichlich Gesellschaft.
âIch bin fortwĂ€hrend exzessiv verliebtâ, berichtet er in einem Brief. Mal ist es die Nichte eines englischen Herzogs, mal eine verheiratete âgemme de qualitĂ©â, dann die 17-jĂ€hrige Tochter eines Geistlichen. Ohne Urlaub reist er ihr quer durch Deutschland nach, das Geld mit vollen HĂ€nden bei Champagner-Diners und am Spieltisch ausgebend. Als er nach Wochen an seinen Arbeitsplatz zurĂŒckkehrt, wirft ihn der RegierungsprĂ€sident kurzerhand hinaus â Bismarcks Beamtenlaufbahn ist beendet.
âArm im Beutel und krank am Herzenâ kehrt er auf die heimatliche Scholle zurĂŒck. Nach dem Tod seines Vaters ĂŒbernimmt er die ausgedehnten FamiliengĂŒter in Brandenburg und Pommern und ist damit einer der GroĂen unter den ostelbischen Agrarmagnaten.
Aber auch unter den Standesgenossen bleibt er das Enfant terrible: Der âtolle Junkerâ veranstaltet die wĂŒstesten Saufgelage und wildesten Jagden. Eine groĂe Liebe bringt ihn auf den Pfad der Tugend. Sie heiĂt Marie von Thadden, ist 21 Jahre alt, Gutsherrentochter in Hinterpommern, sehr religiös und gerade verlobt â Bismarcks Sehnsucht muss unerfĂŒllt bleiben. Dennoch macht Marie aus ihm einen ernsthaften Menschen: Sie fĂŒhrt ihn zum Glauben.
Ihr Tod, drei Jahre spĂ€ter, erschĂŒttert Bismarck zutiefst. Marie hatte sich gewĂŒnscht, dass er ihre beste Freundin heiratet: Johanna von Puttkamer, Tochter des benachbarten GroĂgrundbesitzers. Bismarck erfĂŒllt der Toten den Wunsch; 1847 findet die Trauung statt. Johanna wird der âAnker seines Lebensâ. Er zieht mit ihr nach Schönhausen, in das Schloss seiner VĂ€ter.
StĂŒrmische Zeiten kĂŒndigen sich an. Der Ruf nach demokratischen Reformen und nationaler Einheit ist nicht mehr zu ignorieren. König Friedrich Wilhelm IV. beruft den Vereinigten Landtag ein, der aus Vertretern der acht preuĂischen Provinziallandtage besteht. Bismarck, Deichhauptmann in Schönhausen, zieht als NachrĂŒcker fĂŒr einen erkrankten Abgeordneten in das Pseudo-Parlament ein â ein Zufall, der eine Lebenswende einleitet: Bismarck entdeckt seine wahre Leidenschaft, die Politik.
âDie Sache ergreift mich viel mehr, als ich dachteâ, schreibt er aus Berlin. Er befinde sich âin einer ununterbrochenen Aufgeregtheit, die mich kaum essen und schlafen lĂ€sstâ. Schon mit seiner ersten Rede profiliert sich der 32-jĂ€hrige Parlamentsneuling als rabiater Konservativer und Verfassungsgegner. Es sei eine âLegendeâ, ruft er mit seiner schneidenden hohen Stimme aus, dass es der Volkserhebung von 1813 um eine Verfassung gegangen sei, als hĂ€tte âdie Nation dafĂŒr, dass sie sich selbst befreit habe, dem König eine in Verfassungsparagrafen zahlbare Rechnung ĂŒberreichen wollenâ. (Nach Jahren der französischen Fremdherrschaft in Deutschland ĂŒberzeugen Patrioten wie Freiherr vom Stein und Ernst Moritz Arndt den preuĂischen König Friedrich Wilhelm III., gegen Napoleon Bonaparte 1813 einen Freiheitskrieg zu fĂŒhren, der mit der Völkerschlacht bei Leipzig erfolgreich ausgeht. Schon vor dem Befreiungskampf hat der König seinem Volk eine Verfassung in Aussicht gestellt â ein ZugestĂ€ndnis, an das er sich spĂ€ter nicht hĂ€lt.)
Ein Sturm der EntrĂŒstung schlĂ€gt ihm entgegen. âIch blieb auf der TribĂŒneâ, so Bismarck, âblĂ€tterte in einer Zeitung und brachte, nachdem der LĂ€rm sich ausgetobt hatte, meine Rede zu Endeâ â noch am Ende seines Lebens ist er stolz auf diesen Tag.
Sein Auftritt macht ihn auf einen Schlag im politischen Berlin bekannt. Der König Ă€uĂert allerhöchstes Wohlwollen. Als er Bismarck und dessen junger Frau auf ihrer Hochzeitsreise in Venedig begegnet, lĂ€dt er ihn zu Tisch und befiehlt Bismarck, sich âim Laufe des Winters bei ihm zu meldenâ. Damit ist Bismarck bei Hofe eingefĂŒhrt.
Wenig spĂ€ter, im MĂ€rz 1848, fegt die Revolution durch Deutschland. Von Wien bis Berlin gehen die Menschen auf die StraĂe und fordern nationale Einheit und demokratische Verfassungen. Das System Metternich bricht wie ein Kartenhaus zusammen, der allmĂ€chtige Wiener Staatskanzler flieht nach England. Der Frankfurter Bundestag hebt die Zensur auf und erklĂ€rt Schwarz-Rot-Gold zur Bundesflagge. Ăberall beugen sich die deutschen FĂŒrsten den Forderungen der Revolution. Nur in Berlin kommt es zu einem Blutbad.
Friedrich Wilhelm IV. â ein weicher, wankelmĂŒtiger Mensch â versucht, der Revolution die Kraft zu nehmen, indem er sich die nationale Sache zu eigen m...