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Ukraine: Die Wahrheit über den Staatsstreich
Aufzeichnungen des Ministerpräsidenten
- 256 pages
- English
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About this book
Die Ukraine ist seit anderthalb Jahren ein Dauerthema in den Medien. Der Machtwechsel in Kiew führte zum Bürgerkrieg.Nikolai Asarow trat im Januar 2014 als ukrainischer Ministerpräsident zurück. Zwanzig Jahre lang hatte er an maßgeblicher Stelle gearbeitet und sukzessive zu einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beigetragen. Dazu gehörte auch die Durchsetzung rechtsstaatlicher Normen. Dieser demokratische Prozess wurde durch die illegale politische Intervention namentlich der USA gestoppt - so nur eine von Asarows Thesen in seinem im Februar 2015 in Moskau vorgestellten Buch, das in der Ukraine auf dem Index steht. Die deutsche Ausgabe hat Asarow ergänzt und aktualisiert.
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Information
Wie die Ukraine den Staatsbankrott vermied
Ich kann mich des Gefühls noch gut erinnern, das sich meiner bemächtigte, als ich am 11. März 2010 das Büro des Premierministers betrat. In den vergangenen fünfzehn Jahren war ich, in unterschiedlichen Funktionen, schon häufig in diesem Zimmer gewesen. Ich hatte dort mit verschiedenen Ministerpräsidenten konferiert: mit Massol (1994/95), Martschuk (1995/96), Lasarenko (1996/97), Pustowoitenko (1997–1999), Juschtschenko (1999–2001), Kinach (2001/02), Janukowitsch (2002–2005, 2006/07), Timoschenko (2005, 2007–2010) und Jechanurow (2005/06). Ehrfurcht vor dem Amt, gar Verehrung für deren Inhaber waren mir fremd. Versessen darauf, diesen Stuhl selbst zu besetzen, war ich nie. Im Gegenteil.
An jenem ersten Tag ergriff mich Beklemmung, ich spürte eine unglaubliche Last auf meinen Schultern, die Verantwortung, die ich übertragen bekommen hatte, wog schwer. Ich schaute mich an meinem neuen Arbeitsplatz um, entdeckte aber nirgendwo eine Ikone, die ich hier erwartet hatte. Ohne Segen des Himmels wollte ich nicht beginnen. Ich rief Metropolit Pavel an und bat ihn, er möge mein Büro segnen, sonst mache ich hier keinen Handschlag, sagte ich. Der Vorsteher des Kiewer Höhlenklosters erschien umgehend und zelebrierte die Weihe. Ich verspürte sofort Erleichterung, als ob ein Mühlstein von meinen Schultern gefallen wäre.
Die Aufgaben, die vor uns standen, waren gewaltig. Die Ukraine steckte in einer tiefen Krise, das Bruttoinlandsprodukt war um sagenhafte 15 Prozent zurückgegangen. Die gesamte Baubranche lag am Boden wie die Verwaltung des Landes. Es gab kaum noch funktionierende Banken, die Inflation galoppierte. Selbst das Dienstfahrzeug des Premierministers war im Eimer, es drehte sich kein Rad. Nun war das kein großes, staatswichtiges Problem, doch selbst dieses Detail zeigte anschaulich, wie runtergewirtschaftet das ganze Land war. Dieses Auto war eine Metapher.
Einige Tage diskutierte ich mit dem Präsidenten die Zusammensetzung der Regierung. Einerseits mussten wir die Wünsche unserer Koalitionspartner vom »Block Lytwyn« und »Starke Ukraine« berücksichtigen, die aus irgendwelchen Gründen die Kontrolle über den Zoll und das staatliche Alkoholmonopol Ukrsprit übernehmen wollten. Andererseits zwang die Lage im Lande dazu, auf jeden Posten einen gleichermaßen qualifizierten, kompetenten und verantwortungsvollen Mann (oder Frau) zu setzen. Experimente bei den Personalien waren nicht erlaubt, und Platzhalter noch viel weniger. Vetternwirtschaft und Freundesdienste schloss ich kategorisch aus. Es blieb allerdings beim Vorsatz. Es kamen auch Personen ins Kabinett, die ich dort nicht brauchte. Es war eben eine Koalitionsregierung, und das letzte Wort hatte der Präsident. Am Ende waren es mit dem Vorsitzenden des Sicherheitsdienstes 30 Kabinettsmitglieder. Und alles Männer.
So wurde Michailo Eshel Verteidigungsminister. Ich lehnte den Vorschlag des Präsidenten ab, weil Admiral a. D. Eshel Marineoffizier war – die ukrainische Armee besteht in erster Linie aus dem Landheer. Zudem erinnerte ich Janukowitsch daran, dass sein Vorgänger, Präsident Kutschma, Eshel als Befehlshaber der Schwarzmeerflotte wegen ernsthafter Fehler abberufen hatte.
Doch Janukowitsch bestand auf seinem Vorschlag. Um dann drei Monate später, bei einer Sitzung des Nationalrates für Sicherheit und Verteidigung, die Abberufung von Eshel zu fordern. Nun musste ich erneut widersprechen. Nicht, weil mir Eshel plötzlich ans Herz gewachsen war, sondern weil ich meinte, dass auch ihm die Chance gegeben werden müsse, sich in die Materie einzuarbeiten. Wenn ihm das nicht gelingen sollte, könnte man über seine Abberufung entscheiden.
Zwei prinzipielle Gründe trieben mich zum Widerspruch. Erstens waren spontane Ernennungen und Entlassungen schädlich für jede Leitungsarbeit. Ein Minister, der ständig ein Damoklesschwert über sich schweben sah, war nicht souverän und frei, sondern gefesselt von Furcht. Und zweitens sollte jeder meiner Kollegen wissen, dass ich mich, indem ich mich schützend vor sie stellte, ihr Verbündeter war.
Ich konnte mich in diesem Falle gegen Präsident Janukowitsch durchsetzen.
Nach Jahresfrist feuerte er Eshel dennoch. Er kam mit dem Admiral nicht klar. (Präsident Poroschenko ernannte Eshel im April 2013 zum Botschafter der Ukraine in Belarus.)
Im August 2010 setzte das Verfassungsgericht die Verfassung von 2004 außer Kraft und erklärte die von 1996 als die gültige. Beide unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt: Die 2004er Verfassung sah die Ernennung des Ministerpräsidenten durch das Parlament vor, die 1996er durch den Präsidenten. Dieser bestimmte fortan nun wieder den Premier und die einzelnen Minister. Die Werchowna Rada durfte lediglich seine Personalentscheidungen bestätigen.
Damit verlor die Regierung die Personalhoheit, sie durfte nicht einmal mehr Stellvertreter von Leitern zentraler Behörden der Exekutive berufen. Selbst die Chefs zweitrangiger Ausschüsse oder staatlicher Agenturen fielen nicht mehr unter ihre Hoheit. Die gesamte Personalpolitik lag in den Händen des Präsidenten.
Die Verwaltung der Regierung wurde von den realen Personalfragen ausgeschlossen. Eine gewisse Zeit blieb dieser Einflussfaktor der Regierung dank meiner Autorität und administrativen Erfahrung erhalten. Nachdem aber 2012, nach den Parlamentswahlen, die Regierung zurückgetreten war und ein neues Team an ihre Stelle trat, wurde diese Arbeit wesentlich komplizierter.
An der 96er Verfassung hatte ich mitgearbeitet, sie war ein Kompromiss zwischen dem Präsidenten Kutschma und seinem Umfeld, das die Präsidialmacht zu stärken wünschte, und den Politikern, die die Macht des Parlaments zum Zentrum der Republik machen wollten. Am Ende war ein starker Präsident herausgekommen mit einigen parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten, die Regierung bildete gleichsam einen dem Präsidenten vorgeschalteten Puffer. Der Ministerpräsident war Blitzableiter für alles, weshalb auf diesem Platz nahezu im Jahrestakt die Personen wechselten. Dennoch hielt ich die Verabschiedung dieser Verfassung für einen großen Schritt in Richtung Rechtsstaat, und ich verstand, weshalb manchem Abgeordneten die Tränen in den Augen standen, als wir nach langer Debatte das Grundgesetz 1996 verabschiedeten.
Die Regierung – das erste Asarow-Kabinett – besprach in der ersten Sitzung 2010 das Maßnahmenprogramm zur Krisenbekämpfung.
Zur Überwindung der Krise wurde Folgendes geplant und beschlossen:
1. die Nutzung des Binnenmarktes als wichtigsten Wachstumshebel der Wirtschaft. Dazu werden Gehälter, Renten und alle 2008/09 eingefrorenen Sozialleistungen erhöht;
2. Erarbeitung und Umsetzung eines Programms zur Vorbereitung auf die Fußballeuropameisterschaft 2012, darin eingeschlossen Realisierung großer Infrastrukturprojekte (Straßen, Flughäfen, Krankenhäuser);
3. Verhandlungen mit Russland über den Gaspreis, der gesenkt werden muss;
4. Gespräche mit dem Internationalen Währungsfond über die Wiederaufnahme der Kreditvergabe an die Ukraine;
5. Erarbeitung eines allumfassenden Programms von Wirtschaftreformen für die Zeit von 2010 bis 2014.
Vor Finanzminister Jaroschenko und dem Leiter der Steuerbehörde Papaika standen komplizierte Aufgaben, die sie jedoch meisterten. Ab dem 1. Mai 2010 zahlten wir angehobene Renten und Sozialleistungen, seit Januar 2010 bereits höhere Löhne und Gehälter. Zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren erlebten die Ukrainer eine tatsächliche Steigerung ihres Einkommens. Wie ich erhofft hatte, machte sich dies alsbald auf dem Binnenmarkt bemerkbar. Im September verzeichneten wir zum ersten Mal nach drei Jahren einen Zuwachs beim Warenumsatz. Dieser Prozess verstetigte sich in den folgenden drei Jahren.
Im April 2010 nahmen wir die Arbeiten an den meisten darniederliegenden Bauobjekten wieder auf. Darunter befand sich auch das Verkehrskreuz auf dem Moskauer Platz in Kiew. Im November, nach einem reichlichen halben Jahr, wurde es fertiggestellt. Ein Nadelöhr im Zentrum der Hauptstadt, an dem sich der Verkehr dauerhaft staute, war beseitigt und die Verbindung nach Odessa hergestellt.
Minister wie regionale Verwaltungen im ganzen Lande sorgten auf Baustellen, in Betrieben und auf den Feldern spürbar für Schwung. Vom Führungspersonal auf allen Ebenen wurden konkrete Ergebnisse und Initiativen bei der Aufbauarbeit verlangt, um den Reformstau aufzulösen. Im Vordergrund stand die effektive Nutzung lokaler Ressourcen. Die Bemühungen zeitigten schnell Wirkung bei der Steigerung des Bruttoinlandsproduktes.
In verschiedenen Talkshows im Fernsehen zogen meine Opponenten wiederholt ironisch über meine Haltung zum BIP her. Sie meinten, dass das eine theoretische, mithin abstrakte Kennziffer sei, für die sich niemand etwas kaufen könne. Und meist erhielten sie vom Publikum, das es nicht besser wusste, dafür den erwarteten Beifall. Jeder Ökonom allerdings, der sich in der Materie auskennt, weiß um die Bedeutung dieser Ziffer: In ihr bündelt sich die Wirtschaftskraft eines ganzen Landes, sie ist der wichtigste Indikator dafür, ob es mit der Ökonomie vorangeht, ob sie stagniert oder gar rückläufig ist. Und das wird am Lebensniveau der gesamten Gesellschaft deutlich. Wenn das BIP nicht steigt, verbessert sich auch nicht die soziale Lage der Menschen.
Im Bruttoinlandsprodukt ist der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen erfasst, die innerhalb eines Jahres von der Volkswirtschaft eines Landes erzeugt bzw. geleistet werden. Und da man auch nur das verteilen kann, was zuvor erwirtschaftet wurde, war es dringend erforderlich, sich davon ein genaues Bild zu machen und mit den Erkenntnissen der Analyse zu arbeiten. So kann man mit objektiven Zahlen nachweisen, dass die in der Ukraine seit 2010 tätige politische Führung nicht nur den weiteren Niedergang der Wirtschaft verhindert, sondern deren Aufschwung organisiert hat. Das erreichten wir durch Krisenbekämpfungsmaßnahmen und ein Programm von Wirtschaftsreformen in fast allen Arbeitsbereichen und Produktionsbranchen.
Das sorgte auch im Ausland für Erstaunen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Vaclav Klaus, einst ein international renommierter Wirtschaftswissenschaftler, ehe er von 2003 bis 2013 tschechischer Staatspräsident war. »Sehr geehrter Premierminister, können Sie mir verraten, wie es Ihnen gelungen ist, aus der tiefen Grube herauszuklettern, in der sich die Ukraine 2009 befand? Wir hielten das Land bereits für verloren. Wie haben Sie den Staatsbankrott abwenden können?«
Ich habe ihm ausführlich die Maßnahmen geschildert. Dabei wurde mir bewusst, wie intensiv und mitunter langwierig um einzelne Entscheidungen gerungen worden war. Aber es hatte sich am Resultat gezeigt, wie nützlich und sinnvoll kontroverse, von Sachkenntnis getragene Diskussionen waren. Urteile und Entscheidungen »aus dem Bauch«, gar gönnerhaft getroffen nach Gutsherrenart, erwiesen sich selten als hilfreich.
Politik, auch und gerade in der Wirtschaft, muss sich Ziele setzen, auf die dann gemeinschaftlich hingearbeitet wird. Nichts geschieht von allein und im Selbstlauf. Wir hatten uns das Ziel gesetzt, in einer Legislatur d...
Table of contents
- Impressum
- Titel
- Vorbemerkungen
- Auch dieses finstere Kapitel der ukrainischen Geschichte wird einmal enden
- Der Sturz Janukowitschs. Das letzte Gespräch
- Nach dem Rücktritt
- 2014 in der Rückschau
- Ein Blick in die Geschichte
- Der untätige Präsident
- Was wir in meinen vier Regierungsjahren erreichten
- Wie die Ukraine den Staatsbankrott vermied
- Handeln statt palavern!
- So beendeten wir Timoschenkos »Gas-Krieg«
- Warum geht es den Verlierern besser als den Siegern?
- Aber ihre Vorgänger waren auch nicht unbedingt besser
- Nachhall