1. EINLEITUNG
Die Argumente nahezu jeder sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnostik lehnen sich in vielgestaltigen Ableitungen an die schon fast schlagwortartig hervorgebrachten Prozesse der gesellschaftlichen Individualisierung und Pluralisierung an. Der Mensch der wie auch immer zu bezeichnenden Moderne sieht sich aus vormalig vertrauten, traditionalen SelbstverstĂ€ndlichkeiten der bestimmten Arbeits-, Sozial- und Lebensformen entlassen. Der Verlust verlĂ€sslicher, gleichermaĂen umfassender wie alltĂ€glicher Orientierungsmuster geht mit seiner (potenziellen) biografischen Alleinstellung einher. Gleichzeitig sieht sich der moderne Akteur nun einer Vielzahl unterschiedlichster Weltanschauungen und möglichen Handlungsweisen gegenĂŒber. Welchen Berufsweg man etwa einschlĂ€gt, welche persönliche Lebensform man wĂ€hlt, was in den Alltagsinteraktionen als richtig, was als falsch gelten kann, welches Wissen, welche Kenntnisse, welche FĂ€higkeiten sich spĂ€ter als notwendig erweisen sollen â all diese Entscheidungen sind potenziell aus dem vormals verlĂ€sslichen Definitionsbereich gesellschaftlicher Garantien in den unmittelbaren Aushandlungsbereich (biografischer Bastlerei) des Einzelnen verschoben und damit prinzipiell in Disposition. Individuelle Freisetzung und Entscheidungs- bzw. Positionierungszwang sind somit als zwei unmittelbar verschrĂ€nkte Prozesse zu verstehen.
Diese unbedingte Freisetzung stöĂt jedoch an ihre Grenzen, indem sie offenbar zu einer Sehnsucht nach Sicherheit in neuem gemeinschaftlichem Zusammenleben fĂŒhrt. Denn die allumfassende Erosion der lange Zeit unhinterfragten SelbstverstĂ€ndlichkeiten betrifft ganz nachhaltig auch die frĂŒheren Garanten der individuellen gesellschaftlichen Orientierung, vor allem die dominierenden klassenkulturellen und konfessionellen Institutionen. Die aus den individualisierten Lebenslagen erwachsenden Unbestimmtheiten und Unsicherheiten des Einzelnen gehen also ĂŒber die nun unĂŒberschaubare PluralitĂ€t der Lebensformen und -stile, mit der Entscheidung fĂŒr unterschiedliche Gesellungsformen einher. Ăber jene binden sich die Menschen in zunehmendem MaĂe an neue Gemeinschaftsprojekte, neu abgesteckte Sinnwelten unterschiedlichster Couleur, welche durch die individuelle, freiwillige Zuordnung zu mehr oder weniger verlĂ€sslichen Koordinaten der alltagsweltlichen Handlungs- und Deutungsversicherung avancieren.
Vor diesem Hintergrund erfahren die westlichen Gegenwartsgesellschaften einen regelrechten Boom dieser partiellen, freizeitlichen Gesinnungsgemeinschaften. Sie vermögen, hĂ€ufig ĂŒber maĂgeblich Ă€sthetisch-konsumptorische Angebote, den ungewissen Zustand der Einzelstellung des Menschen (sinnhaft) regelrecht zu ĂŒberfĂ€rben. Das bedeutet, diese Gemeinschaftsprojekte verleihen eine zumindest zeitweilige Gewissheit. Der Begriff der Szenen ist hierbei ein prominenter Verweis auf eine charakteristische Form jener gegenwĂ€rtigen Gemeinschaftsprojekte. Beispiele sind dabei die Techno-Szene, die Rollenspieler oder die Sportkletterer. Die mitunter sogar mehrfachen Zugehörigkeiten in diesen Gemeinschaften bzw. zumindest die Orientierungen an kulturellen SymbolvorrĂ€ten und Verhaltensmustern appellieren an eine notwendig eigenverantwortliche Selbstorganisation. Somit lĂ€sst sich treffend von einer individualisierten Vergemeinschaftung sprechen.
Wir leben also in einer Zeit, welche infolge der individuellen Freisetzung und der massiv pluralisierten Lebensstile und Weltanschauungen die selbstbestimmte Entscheidung, personale Einzigartigkeit und (inter)aktive Autonomie zum kulturellen Leitbild schlechthin kĂŒrt. Mit Blick auf die zahlreichen Szenestudien scheint es jedoch ganz besonders verwunderlich, dass ausgerechnet jenes Gemeinschaftsprojekt, welches sich die eigene und gleichermaĂen kollektive IndividualitĂ€t expressis verbis auf die eigene Namensfahne schreibt, noch keiner sozialwissenschaftlichen Untersuchung unterzogen wurde.
Was ist in einer Zeit unzĂ€hliger Lebensstile und Moden ĂŒberhaupt noch individuell und populĂ€r?
Gemeint ist das sich selbst, in AbkĂŒrzung des englischen Wortes Independent, als Indie-Szene bezeichnende Gemeinschaftsprojekt. Dieses drĂŒckt sich durch einen relativ einheitlichen Lebensstil und eine charakteristische Alltagspraxis aus, spĂ€testens seit seinem Durchbruch in Deutschland mit etwa der Jahrtausendwende. Dabei basiert interessanterweise die Mitglieds- und Kollektivzuordnung, nĂ€mlich Indie zu sein, entlang des Kodes der UnabhĂ€ngigkeit ausdrĂŒcklich auf EigenstĂ€ndigkeit, Selbstorganisation und SelbststĂ€ndigkeit. MaĂgeblich ĂŒber den thematisch zentralen Musikdiskurs wird sich hier von allem abgegrenzt, was szeneintern als nicht authentisch, nicht unabhĂ€ngig, massenhaft, allseits bekannt und demnach als nicht eigenstĂ€ndig gedeutet wird. Jedoch, was ist in einer Zeit unzĂ€hliger, differenzierter, paralleler Weltanschauungen, Lebensstile und Moden, WertevorrĂ€te und Verhaltensweisen ĂŒberhaupt noch bzw. schon nicht mehr individuell und populĂ€r? Nun ist es zudem so, dass diese mannigfachen kulturellen âTaktgeberâ ganz und gar nicht nur âunter sichâ oder gar verdeckt existieren. Vielmehr muss man sich auĂerdem das allgegenwĂ€rtige Wirken (massen)medialer PrĂ€sentationen, Inszenierungen und Selbstdarstellungen dieser verschiedenartigen Anschauungen vor Augen halten, um das AusmaĂ der beschriebenen PluralitĂ€t halbwegs zu fassen. Und vor all dem erlegt sich die Indie-Szene, scheinbar vermessen, den Zwang stetiger Grenzrealisierung gegenĂŒber einem derartig vielgestaltigen Antipoden auf, welcher jedoch unmittelbar aus der FlĂŒchtigkeitslogik der Gegenwartsgesellschaft selbst erwĂ€chst: dem Mainstream.
Vor diesem faszinierenden Kontext der Selbstpositionierung der Indie-Szene interessierte die vorliegende Forschungsarbeit in allererster Linie, was ĂŒberhaupt in dieser Gemeinschaft vor sich geht. Dabei sollte mit gleichsam kultivierter NaivitĂ€t und vor allem möglichst unbeeinflusst von betreffenden Konzeptionen aus der soziologischen Literatur das Handlungsfeld der Indie-Szene erschlossen werden. Diese sollte, mit Blick auf die Mitglieder, in ihren wichtigen Merkmalen detailliert beschrieben und hinsichtlich zentraler Mechanismen bzw. typischer Handlungspraktiken erklĂ€rbar werden.
Daher ist der in der Ergebnisdarstellung verwendete Szenebegriff zunĂ€chst nicht an das existente, soziologische Begriffskonstrukt angelehnt, sondern entspringt in erster Linie der Eigenbeschreibung der Handlungsfeldakteure. Es ist also ausdrĂŒcklich keine Ausgangshypothese der vorliegenden Forschung, dass es sich bei Indie um eine Szene nach den in der einschlĂ€gigen Literatur spezifizierten Definitionsmerkmalen handelt. Die Verwendung des Begriffs im PrĂ€sentationsteil der Studie orientiert sich zwangslĂ€ufig an einer Minimaldefinition, welche die Indie-Szene als ein aktuelles teilkulturelles GesellungsphĂ€nomen auffasst. In diesem Ansinnen ist es dabei fast schon Indie, dass hierbei eine Literatur-unabhĂ€ngige und dem PhĂ€nomen eigenstĂ€ndig beikommende, nicht-standardisierte methodische Vorgehensweise zur Anwendung kommen musste. Denn vielmehr soll erst in einem zweiten Schritt in einem eigenstĂ€ndigen Zusatz, und dann mit fundiertem Blick auf das eigenstĂ€ndig erforschte Gemeinschafts-PhĂ€nomen, ein Abgleich mit der bekannten Vergemeinschaftungs- bzw. Szenekonzeption im Fach angedeutet werden.
Die vorliegende Arbeit besteht im Kern aus der vorzustellenden empirischen Studie, d. h. aus den gewonnenen Erkenntnissen zum PhĂ€nomen Indie. DarĂŒber hinaus ist eine theoretische Klammer eingefĂŒgt worden, welche versucht, den Leser bereits im Vorfeld mit dem einschlĂ€gigen Diskurs der soziologischen Gemeinschafts- und Vergemeinschaftungskonzeptionen im Allgemeinen und dem spezifischen Modell der Szenen als eine Form gegenwĂ€rtiger Vergemeinschaftung im Besonderen, vertraut zu machen. Im Rahmen einer Ergebnisbesprechung soll dann ein kritischer Abgleich zwischen den empirisch gewonnenen Erkenntnissen und den im Vorfeld vorgestellten Diagnosen und Modellen der soziologischen Literatur versucht werden. Hauptaugenmerk liegt jedoch klar auf der empirischen Studie und der entsprechenden Ergebnisdarstellung.
I. THEORETISCHE GRUNDLAGEN & AKTUELLE PERSPEKTIVE
2. ZUGANG ZUM BEGRIFFSFELD: GESELLSCHAFT, GEMEINSCHAFT, SZENE
Dieses Kapitel soll den gemeinschafts- und gesellschaftstheoretischen Bezug der vorliegenden Arbeit erörtern. Im Aufbau dieses Kapitels wird zunĂ€chst dem Begriff der Gemeinschaft bzw. der Vergemeinschaftung nachgegangen. Ausgehend von der Konzeption Ferdinand Tönnies werden dabei neuere Sichtweisen und Kritiken eingeflochten. Daran anschlieĂend werden gesellschaftliche Tendenzen erörtert, welche sich auf die Bildung aktueller Gemeinschaftsformen auswirken. Hierbei sind Zygmunt Bauman, Ulrich Beck und Anthony Giddens zentrale Bezugsautoren. AnschlieĂend soll es um den Einfluss der gesellschaftlichen Konstitution auf Formen der Vergemeinschaftung gehen, wobei die Analysen von Gerhard Schulze eingearbeitet werden. Dies fĂŒhrt schlieĂlich dazu, Szenen als eine charakteristische Form der Vergemeinschaftung in der Gegenwart zu beschreiben. In Bezug auf die aktuelle Szeneforschung soll dabei besonders auf die theoretischen und praktischen AusfĂŒhrungen Ronald Hitzlers eingegangen werden. Es sei dabei darauf hingewiesen, dass die dargelegten Ăberlegungen fĂŒr die Studie selbst, entsprechend der Forschungslogik (vgl. Kap. 6), nicht leitend waren. Vielmehr dienen die Betrachtungen der kontrastreichen Darstellung der Arbeit, das heiĂt, der theoretischen Kontextualisierung der vorliegenden Studie in Bezug zur aktuellen, soziologischen Forschung. In der vorliegenden Arbeit wurde sich explizit an einer autonomen, kritischen Diagnose des PhĂ€nomens orientiert, was auch zur Wahl der Grounded Theory fĂŒhrte.
2.1 DAS PROJEKT DER VERGEMEINSCHAFTUNG â EINE HINFĂHRUNG
Die Indie-Szene beschreibt zunĂ€chst eine Gruppe von Menschen, die ihr angehören und als ihr zugehörig wahrgenommen werden. Es ist also davon auszugehen, dass eine Verbindung zwischen diesen Akteuren besteht, die ĂŒber eine systematische, theoretische Zusammenschau hinausgeht, also von diesen selbst realisiert wird (vgl. Tönnies 1988: 3). Demzufolge ist es nahe liegend, dass die Szenezugehörigen in einem VerhĂ€ltnis zueinander stehen, welches die gegenseitige Wahrnehmung als Gruppe sowie Beziehungen untereinander ermöglicht. Diese grundsĂ€tzlichen Vorannahmen werden als uneingeschrĂ€nkt gĂŒltig eingestuft, um sich dem Feld Indie im Rahmen einer soziologischen Studie zu widmen. In diesem Sinne ist es zunĂ€chst hilfreich, sich der Gemeinschaftskonzeption der klassischen Soziologie zuzuwenden, um ein einfĂŒhrendes VerstĂ€ndnis der Indie-Szene zu erlangen. Die Darstellung zielt nicht darauf ab, die theoretischen AusfĂŒhrungen einzeln und erschöpfend zu erörtern, sondern eine synthetische Zusammenschau dessen zu geben, was unter Gemeinschaft verstanden werden kann und was fĂŒr die hier vorliegende Arbeit in ihrer Betrachtung hilfreich ist.
Festzuhalten ist, dass die Indie-Szene zunĂ€chst eine Form der Gesellung ist, in der sich Gesellende ein âVerhalten, das auf Zusammensein mit anderen Menschen ausgerichtet istâ (Schlichting 1994: 242), aufweisen. Doch darĂŒber hinaus soll die Frage aufgeworfen werden, ob es sich um eine Form der Vergemeinschaftung handelt. Die vergemeinschaftende Verbindung der Menschen beruht auf âsubjektiv gefĂŒhlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligtenâ (Weber 1984: 69) und wird in der klassischen Soziologie von der Vergesellschaftung unterschieden. WĂ€hrend nĂ€mlich Vergesellschaftung prospektiv, also in die Zukunft gerichtet ist und auf das rational motivierte Aushandeln individueller Anliegen zielt, welche von voneinander verschiedenen Einzelnen geĂ€uĂert werden, zielt Vergemeinschaftung auf einen Glauben an die Zusammengehörigkeit, der sich auf retrospektive, also vergangenheitsbezo-gene Erfahrungen der Einheitlichkeit der Gruppe grĂŒndet (vgl. Bauman 1997: 87; Tönnies 1988: 73, 153). Die dichotome GegenĂŒberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie sich in den AusfĂŒhrungen von Tönnies darlegt (vgl. Tönnies 1988: 3, 19), verstellt jedoch den Blick auf die gesellschaftliche Eingebundenheit gemeinschaftlicher Formen des Sozialen, also die gesellschaftliche Bedingung dieser (vgl. Bonacker 2007: 165f), ihre anthropologische Begrenztheit (vgl. Gebhardt 1999: 169, 179) sowie die instrumentelle Nutzung gemeinschaftlicher Lebensformen fĂŒr selbstorientierte Zwecke (vgl. Sennett 1998: 316).
Dennoch orientiert sich die Vergemeinschaftung an einer tendenziell positiv aufeinander eingestellten Beziehung. Weber spricht auch von dem gemeinten Sinn der Vergemeinschaftung, wenn er diese in Opposition zum Kampf bzw. zu negativ aufeinander eingestellten sozialen Beziehungen stellt (vgl. Weber 1984: 70). In VerschĂ€rfung der Spannung zwischen realisierter und gemeinter Vergemeinschaftung kann von postulierten Gemeinschaften gesprochen werden. Diese zeichnen die Gemeinschaft als Projekt aus, das aufgrund individueller Entscheidungen der Mitglieder verteidigt und damit reaktualisiert werden muss (vgl. Bauman 2003: 199). Vergemeinschaftung vollzieht sich also durch eine Verhaltensorientierung an dem GefĂŒhl der Zusammengehörigkeit (vgl. Weber 1984: 71), das der individuellen Vorstellung von der Gemeinschaft entspringt. Dieses GefĂŒhl wird als Eigenwert angesehen und von einem Gefallen und Vertrauen begleitet, welches ein gemeinsames VerstĂ€ndnis erzeugt (vgl. Tönnies 1988: 3, 14, 19). Dieses Vertrauen bzw. die Einheit der Gemeinschaft wird zum Teil auch erst durch die Gemeinschaft, z. B. durch einheitliche Kleidung, konstruiert (vgl. Maffesoli 1996: 90f; Mestrovic 1997: 115).
Die konkrete Gemeinschaft als solche zeigt sich maĂgeblich an einer gegenseitigen, positiv bewerteten Resonanz der einzelnen Handlungen in der Wahrnehmung und Anerkennung durch andere Gemeinschaftszugehörige. Sie kann sich so allerdings nur aus Interaktionen bilden, d. h. aus den BestĂ€tigungen des eigenen Handelns und eigener ĂuĂerungen durch andere Gemeinschaftszugehörige. Und nur darauf kann sich schlieĂlich aufbauen, worum sich die Zusammengehörigkeit abspielt (vgl. Tönnies 1988: 3, 195), was also der konkrete Inhalt der Vergemeinschaftung ist.
Realisieren kann sich eine Gemeinschaft nach Ferdinand Tönnies als eine des Blutes, des Ortes und des Geistes (vgl. ebd.: 12). Im Rahmen dieser Arbeit ist die Gemeinschaft des Geistes besonders anschlussfĂ€hig. Diese Gemeinschaftsform konstituiert sich durch Gleichheit und Ăhnlichkeit, welche in zugĂ€nglichen, leicht verfĂŒgbaren und regelmĂ€Ăigen Reaktualisierungsmöglichkeiten gegeben ist. Der Eigenwert der Gemeinschaft ermöglicht die rĂ€umliche und teilweise zeitliche Loslösung, denn eine derartige Gemeinschaft erwĂ€chst aus der selbst gewĂ€hlten Zugehörigkeit, welche dem Einzelnen innerhalb dieser Gruppe individuelle Freiheiten garantiert. Dies resultiert in einem geteilten VerstĂ€ndnis bzw. geteilten Vorstellungen ĂŒber die Gemeinschaft, welche die gegenseitige Orientierung aneinander und darin die Orientierung an der Gemeinschaft reaktualisieren (vgl. ebd.: 13-18).1 Gemeinschaft ist zwar nicht direkt aushandelbar oder bestimmbar, wohl aber von Aushandlungsprozessen begleitet und stark auf diese angewiesen. Zentral ist, dass die Gemeinschaft bestehen bleibt, soweit sie im Handeln prozessiert wird.
2.2 DIE ANDEREN âMODERNENâ UND DIE FOLGEN FĂR DEN MENSCHEN
Eingangs wurde auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Gemeinschaften verwiesen, der sich nun zugewandt werden soll. Es soll erörtert werden, wie gesellschaftliche Entwicklungen, auch in den âinternen Nebenfolgen der Nebenfolgen industriegesellschaftlicher Modernisierungâ (Beck, Giddens, Lash 1996: 10), auf die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung einwirken. BezĂŒglich einer diagnostischen Charakteristik werden dabei in der Literatur die unterschiedlichsten Eigenschaftswörter verwendet. In Bezug auf die hier zugrunde liegenden Werke wird u. a. von der âzweiten Moderneâ (Beck, Giddens, Lash 1996) oder von der âPostmoderneâ (Bauman 1997; 1998) gesprochen. Es soll hier allerdings nicht um eine Positionierung gegenĂŒber dieser Unterscheidung gehen. Vielmehr sollen hier Tendenzen aktueller gesellschaftlicher ZustĂ€nde und Entwicklungen in der Zusammenschau betrachtet werden, um daraus SchlĂŒsse fĂŒr die Konstitutionen von Gemeinschaften ziehen zu können.
Bei der Betrachtung der verschiedenen Gegenwartsdiagnosen sticht hervor, dass die aktuelle Gesellschaft eine moderne ist, welche sich in ihrer Verfassung jedoch radikal anders darstellt, als es vorherige moderne Gesellschaften getan haben (vgl. Beck 1996b: 30, 45). Dabei wird konstatiert, dass die Gegenwartsgesellschaft sich vor allem durch eine gesteigerte InkohĂ€renz (vgl. Bauman 1997: 140f) auszeichnet, welche gesellschaftliche Basisverbindlichkeiten frĂŒherer Modernen (vgl. Beck 1996b: 19) verwirft. Als Ursache dieses Auflösungsprozesses werden massive Individualisierungs- und Globalisierungstendenzen2 angegeben (vgl. ebd.: 20f; Beck 1998: 303f; Giddens 1996: 115).
Betrachtet man diese Auflösungstendenzen nĂ€her, so werden vor allem nicht intendierte Nebenfolgen, mit teils erheblichen Bedrohungspotentialen, ersichtlich (vgl. Hitzler 1998: 81). Hierunter fĂ€llt z. B. die massive Ausweitung von gesellschaftlichen und individuellen Unsicherheiten durch die Auflösung von Klassen und das Aufkommen ökologischer Krisen. Es sind nahezu gesellschaftliche SelbstgefĂ€hrdungen, ausgelöst durch nichtlineare RationalitĂ€tssteigerungen, welche desintegrativ auf der Ebene von Institutionen und Systemen wirken (vgl. Beck 1996b: 45-53). Diese Desintegrationseffekte, die also aus den unerwarteten Nebenfolgen der RationalitĂ€tssteigerung erwachsen, zeitigen massive Risiken und erzeugen Unsicherheiten. Stabilisierende gesellschaftsstrukturelle Verbindlichkeiten, wie sie etwa Religion, Klasse und NationalitĂ€t bereitstellten, sind weggefallen. Im Sinne fehlender Verbindlichkeiten kann von einer âposttraditionalen Gesellschaftâ (Giddens 1996) gesprochen werden (vgl. Beck 1996a: 139f). In der Orientierung an Traditionen, sprich der Vergangenheit, können Gesellschaften die BewĂ€ltigung der Gegenwart organisieren. Traditionen wandeln sich zwar, weisen aber auf eine emotional bindende Referenz hin, die das Handeln moralisch normiert, legitimiert, ritualisiert und darin letztlich begrĂŒndet. In Rekurs auf Traditionen erzeugen diese Handlungen ergo Sicherheit und Gewissheit (vgl. Giddens 1996: 122-129).
Jede Wahl unter den möglichen Orientierungen stellt ein Risiko dar.
Die posttraditionale Gesellschaft stellt dem nun einen Pluralismus an möglichen Interpretationen und Orientierungen gegenĂŒber, an denen soziales Handeln orientiert sein kann. Damit gerĂ€t das Individuum, als TrĂ€ger sozialen Handelns, in eine hohe Entscheidungsspannung. Denn...