1. Einleitung
Idee und Konzeption der Arbeit
Die Idee zu dieser Arbeit entstand aus den Erfahrungen und Begegnungen innerhalb meiner eigenen Lebenswelt. Ich lebe in Berlin-Neukölln und arbeite sowohl an einer Neuköllner Schule als auch im deutsch-französischen Jugendaustausch mit jugendlichen Migranten. Im Rahmen meines Studiums stieĂ ich immer wieder auf Literatur im Zusammenhang mit den Themen Jugend und Migration und belegte gezielt Seminare, die sich mit der Thematik auseinandersetzten. Vier ausgewĂ€hlte, da reprĂ€sentative Werke, die an geeigneter Stelle durch unterstĂŒtzende oder grundlegende Zitate weiterer Autoren ergĂ€nzt werden, legen den Grundstein fĂŒr diese Analyse jugendlicher Lebenswelten. Nicht zuletzt ist die aktuelle gesellschaftliche Diskussion ein Ausgangspunkt fĂŒr diese Arbeit, schlĂ€gt doch sowohl in Frankreich als auch in Deutschland die Integrationsdebatte politisch hohe Wellen, begleitet von einer ĂŒberwiegend negativen Berichterstattung der Medien, die oftmals im schroffen Kontrast zu den von mir erlebten LebensrealitĂ€ten der Jugendlichen stehen. Diesen Eindruck zu bestĂ€tigen oder zu widerlegen ist ein Anliegen dieser Arbeit. DarĂŒber hinaus wird sie einen Einblick in jugendlich-migrantische Lebenswelten geben, indem in ihr verschiedene Perspektiven, nĂ€mlich die Darstellung in Deutschland vs. die Darstellung in Frankreich und andererseits die Fremd- vs. die Selbstwahrnehmung der jugendlichen Lebenswelten verschrĂ€nkend analysiert werden.
Ich bin mir völlig darĂŒber im Klaren, dass sich die Thematik an der Schnittstelle zu einer Menge anderer (vor allem kontrovers diskutierter) Themen befindet, enthĂ€lt sie doch Verweise auf die (grundlegend unterschiedliche) Geschichte der Immigration nach Frankreich und Deutschland und die damit einhergehenden Konzepte der Assimilation bzw. Integration, stellt sie die Konzepte der citoyennetĂ© und des deutschen StaatsbĂŒrgerschaftsrechts implizit gegenĂŒber, streift das Thema der jugendlichen Suche nach eigener IdentitĂ€t und das weite Feld der Literatur âmit Migrationshintergrundâ. Viele dieser Bereiche werden hier nur anklingen und nicht im Detail zur Sprache kommen können, der Fokus liegt vielmehr auf den Fragen, wie der Alltag junger Menschen, der in Medien und Gesellschaft zunĂ€chst mit Gewalt und Integrationsproblemen assoziiert wird, in Literatur und soziokulturellen Studien dargestellt wird und wie er von den Jugendlichen selbst wahrgenommen wird.
Die Arbeit baut sich dabei folgendermaĂen auf: In einem ersten Teil werden vorweg die zentralen Begriffe dieser Analyse jugendlicher Lebenswelten definiert. Dabei handelt sich zunĂ€chst um den Begriff der Lebenswelt selbst, darĂŒber hinaus auch um die Termini Jugend, Migrationshintergrund und das hier angewendete VerstĂ€ndnis von Literatur. Im Folgenden werden nach dem Lebensweltbegriff von Alfred SchĂŒtz und Edmund Husserl einige typische, durchweg in der Literatur beschriebene Sozialisationsinstanzen analysiert und in oben genannter zweifacher VerschrĂ€nkung gegenĂŒbergestellt. Eine grundlegende Komponente der Lebensweltanalyse ist die Verankerung im Raum, die Darstellung und Wahrnehmung dessen wird in Kapitel 3.1 vorangestellt. Es folgen die Analyse der Sozialisationsinstanzen Familie, Kapitel 3.2, Freundeskreis und Peer-Groups, Kapitel 3.3, und Schule, Kapitel 3.4. Um die zeitliche Entwicklung mit einzubeziehen wird in Kapitel 3.5 die Darstellung unterschiedlicher Zukunftsperspektiven der Jugendlichen Thema sein. AbschlieĂend folgt in Kapitel 4 eine Zusammenfassung der Ergebnisse Bezug nehmend auf die zuvor analysierten Einzelaspekte von Sozialisationserfahrungen, die schlussendlich in den Zusammenhang der aktuellen, deutschfranzösischen Debatte gestellt werden.
2. Grundlegende Begriffe â Lebenswelt, Jugend, Migration und Literatur
Wie eingangs bereits erwÀhnt, verlangt die Themensetzung dieser Arbeit durch die Ansammlung vielfach auslegbarer Begriffe im Titel geradezu zwangsweise die Eingrenzung der Kernthemen der hier vorliegenden Fragestellung.
Lebenswelt
Unter Lebenswelt wird im Folgenden nach Edmund Husserl âdie raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und auĂerwissenschaftlichen Leben erfahrenâ,1 sowie nach Alfred SchĂŒtz die âfĂŒr den Menschen selbstverstĂ€ndliche Wirklichkeitâ2 seines Alltagslebens verstanden. Husserl bezieht sich dabei auf die Natur - SchĂŒtz auf die Sozialwissenschaften, seine Definition Ă€hnelt dem VerstĂ€ndnis Max Webers, der die Soziologie als âeine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursĂ€chlich erklĂ€ren willâ3, definiert. SchĂŒtzâ weiterfĂŒhrende Definition von Lebenswelt lautet folgendermaĂen: âDie Lebenswelt ist der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch eine Wirklichkeit, die im Tun bewĂ€ltigt wird, und die Wirklichkeit, in welcher - und an welcher - unser Tun scheitert.â4 Die BewĂ€ltigung dieser Herausforderung des Alltags soll in den folgenden Kapiteln Thema sein. SchĂŒtz stellt in seiner Definition jedoch ebenfalls klar, dass die Lebenswelt der âWirklichkeitsbereich, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmĂ€Ăiger Wiederkehr teilnimmtâ5, ist.
Die Lebenswelt, in der sich ein jeder fraglos bewegt, bildet dem zu Folge den âunbefragten Boden der natĂŒrlichen Weltanschauungâ6 unseres Alltages. Die Analyse von Lebenswelten hat zum Ziel, âformale Grundstrukturen [...] des Handelnden [...] durch einen tĂ€glichen oder wissenschaftlichen Beobachter zu beschreibenâ.7 Ihr Ziel ist das Verstehen, der Einblick in Alltagswelten. Die Lebensweltanalyse ist keine Erkenntnistheorie. Es geht ihr vielmehr darum, Grundstrukturen der Sinnkonstitution im subjektiven Bewusstsein des Handelnden durch einen alltĂ€glichen oder wissenschaftlichen Beobachter zu beschreiben.8
Auf den Begriff der Lebenswelt beziehen sich in der Wissenschaftsgeschichte auch andere Geisteswissenschaftler: David Lockwood9 unterteilt die lebensweltliche Sozialisation in verschiedene Dimensionen der gesellschaftlichen Integration:10 Die der Vergemeinschaftung und die der Vergesellschaftung, eine Unterteilung auf die im weiteren Verlauf der Arbeit noch Bezug genommen werden wird; auch JĂŒrgen Habermas benutzt mit Bezug auf Husserl den Begriff der Lebenswelt in seinen AusfĂŒhrungen zu den Kategorien des Sinns und des verstĂ€ndigungsorientierten Handelns.11
Das Verwenden des wissenschaftlichen Konzeptes der Lebenswelt hat auch methodische Folgen:
âDer lebensweltliche Ansatz unterscheidet sich [...] von anderen korrespondierenden AnsĂ€tzen [...] vor allem dadurch, dass mit ihm essentiell [...] ein radikaler Perspektivenwechsel verbunden ist - [...] hin zum Relevanzsystem desjenigen, dessen Lebenswelt beschrieben, rekonstruiert und, wenn möglich, verstanden werden soll.â12
Das Verstehen und der Einblick in die Welten der Jugendlichen (an Hand von Texten von und ĂŒber diese) sollen hier folglich im Vordergrund stehen.
Jugend
In der vorliegenden Arbeit wird folgende Definition von Jugend angenommen: Aus pĂ€dagogischer Perspektive ist âJugendlicher [âŠ], wer die Kindheit verlassen hat, aber nach wie vor als erziehbar und erziehungsbedĂŒrftig giltâ,13 sich also in seiner individuellen Entwicklung in einer Phase des Ablösens und Suchens befindet. Grundlegend sind nach Lockwood zwei Richtungen innerhalb des jugendlichen Sozialisationsprozesses zu unterscheiden: die der Vergemeinschaftung ĂŒber die Familie und die Gleichaltrigengruppe und die der Vergesellschaftung ĂŒber die Institutionen (in dieser Arbeit die Institution Schule). In der Kindheit erbrachte Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Normen werden in dieser Phase des psychodynamisch angestoĂenen Aufbruches14 in Frage gestellt, zugleich beginnt und vollzieht sich der Prozess der sozialen Abnabelung von der Herkunftsfamilie. Mario Erdheim spricht daher von der Jugend als âPhase der zweiten, soziokulturellen Geburtâ.15 Die hier beschriebenden Prozesse mĂŒnden in der âSuche nach einer eigenen sozialen und individuellen IdentitĂ€tâ,16 die einstweilen die in Gesellschaft und Medien dargestellten Problematiken mit begĂŒnstigt, zugleich jedoch eine gewisse KreativitĂ€t freisetzt (die wiederum auch literarische Texte als Produkt haben können, die hier betrachtet werden). Ein weiterer Aspekt der Definition besagt, Jugendliche seien âinnergesellschaftlich Fremdeâ,17 denen die Normen der Gesellschaft noch nicht / nicht mehr selbstverstĂ€ndlich sind; an dieser Stelle kann eine Verbindung zur Migrationsproblematik geschlagen werden, denn auch vielen zwischen unterschiedlichen Kulturen stehenden Migranten wird nachgesagt, sie seien âFremde im eigenen Landâ.18 MĂŒssen sich Jugendliche mit Migrationshintergrund demnach mit einer doppelten Fremdheit auseinandersetzen?19
Migrationshintergrund
Im politisch korrekten Sprachgebrauch der letzten Jahre mit wiederkehrender RegelmĂ€Ăigkeit verwendet, werden nach der offiziellen Definition des Statistischen Bundesamtes Deutschlands als Personen mit Migrationshintergrund
âalle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen AuslĂ€nder und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als AuslĂ€nder in Deutschland geborenen Elternteilâ20
bezeichnet. Diese Definition umfasst einen Anteil von ca. 18%21 der in Deutschland lebenden Menschen. In Frankreich ist es unwesentlich schwieriger den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund auszumachen, erhielt - nach dem französischen Ius Soli â doch ein GroĂteil der Menschen mit Migrationserfahrung von Geburt an die französische StaatsbĂŒrgerschaft.22 Dort liegt der Anteil der Menschen mit Mi...