Jugendkulturarbeit 2.0
von Herbert Scherer
Die Zeiten sind glĂŒcklicherweise vorbei, in denen Jugendkulturarbeit unter Generalverdacht der âechtenâ Kulturschaffenden stand. Gottfried Benns geflĂŒgeltes Wort âKunst ist das Gegenteil von gut gemeintâ lieferte die Orientierung und ein Totschlagargument gegen alles vermeintlich nur âgut Gemeinteâ. Heute wird kaum noch bestritten, dass Jugendkulturarbeit nicht nur eine pĂ€dagogische, sondern auch eine kulturelle Bedeutung haben kann.
Das wurde nicht zuletzt dadurch erreicht, dass weltbekannte KĂŒnstler wie Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Projekte im Grenzbereich zwischen (hoher) Kunst und PĂ€dagogik umgesetzt haben, die von beiden Seiten hohe Anerkennung fanden. Durch die filmische Dokumentation âRhythm is itâ (2004) wurde insbesondere die AuffĂŒhrung des Balletts âSacre du Printempsâ bekannt, die von den Berliner Philharmonikern mit 250 Berliner SchĂŒlerInnen realisiert wurde. FĂŒr Simon Rattle hat diese Ăberwindung der Grenzen zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit programmatische Bedeutung:
âDiese Musik ist fĂŒr jeden. Die Berliner Philharmonie ist keine Diva, die du anbeten musst, sie ist ein Platz, wo die auĂergewöhnlichste Musik gemacht wird, und jeder sollte daran teilhaben. Und wenn ich an irgendetwas glaube, wenn ich ĂŒberhaupt eine Religion habe, dann die, dass Musik fĂŒr jeden ist.â
(Simon Rattle in âRhythm is itâ).
Die intensive tanzpĂ€dagogische Arbeit mit den Jugendlichen wurde von dem Choreographen Royston Maldoom angeleitet, der als MitbegrĂŒnder der weltweiten Community Dance Bewegung diesem Medium groĂartige Wirkungsmöglichkeiten zutraut. Sein Motto âYou can change your life in a dance classâ wurde dem Film âRhythm is itâ als Untertitel beigegeben. In einer Rezension heiĂt es ĂŒber diese Dokumentation: âEiner der besten Filme, die je ĂŒber Fragen der Erziehung gedreht wurden. ⊠Dem Film geht es darum, eine ursprĂŒnglich deutsche Diskussion zu beleben â eine Diskussion um die Methoden von Bildung. Der Film stellt das Prinzip von Leistung und Wille der Idee von VerstĂ€ndnis und Kumpelhaftigkeit gegenĂŒber.â1
Durch diese und vergleichbare GrenzĂŒberschreitungen anerkannter AkteurInnen ist die Jugendkulturarbeit aus dem Zwielicht (weder richtige Kunst noch richtige PĂ€dagogik zu sein) herausgetreten, um sich fortan gegenĂŒber zwei AnsprĂŒchen legitimieren zu mĂŒssen: einem kĂŒnstlerischen und einem pĂ€dagogischen QualitĂ€tsanspruch. Das macht das Leben fĂŒr die AkteurInnen in der Jugendkulturarbeit nicht leichter, ermöglicht es aber, ihre Potenziale im Sinne formulierbarer QualitĂ€tsmerkmale weiter zu entwickeln.
Beide, Kunst und Jugendarbeit, spielen sich nicht im luftleeren Raum ab. Es ist deswegen notwendig, einen Blick in ihren Kontext zu werfen.
Walter Benjamin hat sich 1935 in seinem grundlegenden Aufsatz âDas Kunstwerk im Zeichen seiner technischen Reproduzierbarkeitâ Gedanken darĂŒber gemacht, wie sich durch die damals neuen Medien wie Fotographie und Film das Wesen der Kunst verĂ€ndere, und das lange vor dem digitalen Zeitalter, das die damals festgestellten Entwicklungen in unerhörtem AusmaĂ weiter vorangetrieben hat. In mancherlei Hinsicht ist die letzte Differenz zwischen Original und Kopie gĂ€nzlich verschwunden. In anderer Betrachtung könnte man vom âKunstwerk im Zeichen seiner vollstĂ€ndigen technischen Manipulierbarkeitâ reden, was die Frage nahe legt, ob es ĂŒberhaupt noch so etwas wie ein âOriginalâ gibt bzw., wo es zu lokalisieren ist: vor oder nach vollendeter Manipulation?
FĂŒr die Jugendkulturarbeit von heute hat das ambivalente Konsequenzen. Zum einen bekommt der Arrangeur die Möglichkeit, Kleines groĂ erscheinen zu lassen und mit diesem Bluff den pĂ€dagogischen Wert der Arbeit zu unterlaufen, auf der anderen Seite kann Jugendkultur in einen Wettstreit mit den âGroĂenâ treten, bei dem sie nicht von vornherein den KĂŒrzeren ziehen muss.
Die neuen technischen Möglichkeiten haben auch Einfluss auf das SpannungsverhÀltnis zwischen Prozess und Produkt, das in der Jugendkulturarbeit schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Es ist möglich, Ergebnisse zu erzielen, ohne dass es im Vorlauf einen nennenswerten Prozess gegeben hat.
Es kann deswegen bei der Bewertung der QualitĂ€t von Jugendkulturarbeit weniger um die Frage gehen, ob ein âansehnliches Produktâ entstanden ist. Viel wichtiger wird die Frage, was in ihm steckt bzw., wie weit es gelingt, junge Leute zu ihrem eigenen Ausdruck finden zu lassen. Daran bemisst sich nicht nur der kĂŒnstlerische, sondern auch der pĂ€dagogische Wert von Jugendkulturarbeit.
Einige (kritische und ermutigende) Gedankensplitter: Superstars
Wenn Jugendliche Erwachsenen die Show stehlen âŠ
Castingshows wie DSDS (Deutschland sucht den Superstar), Popstars, X-Faktor, Germanys Next Topmodel oder Das Supertalent ĂŒben eine erhebliche Anziehungskraft auf junge Menschen aus. Zehntausende bewerben sich Jahr fĂŒr Jahr. Die Shows sind attraktiv, weil sie versprechen, âunentdeckte Talenteâ ausfindig zu machen. Und welcher Jugendliche kann sich nicht gut mit dem Gedanken identifizieren, ein verkanntes Talent zu sein. FĂŒr 99,9 Prozent der TeilnehmerInnen endet die Veranstaltung allerdings eher negativ. Ihnen wird in einem genĂŒsslich zelebrierten Ritual deutlich gemacht, dass sie ârausâ sind, dass sie keine Chance haben, weil sie nicht der oder die Allerbeste sind. Diese Nachricht erreicht auch die ZuschauerInnen, die es gar nicht erst versucht haben und darin bestĂ€tigt werden, dass es fĂŒr die groĂe Masse keine Chance gibt.
FĂŒr die Jugendkulturarbeit ist das eine groĂe Herausforderung. Zum einen sprechen diese TV-Formate Sehnsuchtspotentiale an: d. h. Jugendliche zeigen sich vor diesem Hintergrund eher motivierbar, es âauch einmal zu versuchenâ. Zum anderen hat Jugendkulturarbeit die Aufgabe, eine diametral entgegen gesetzte Botschaft auszustrahlen: In jedem steckt ein Talent, das es zu entdecken und zu entwickeln gilt. Jeder hat eine Chance.
Mini-Playback-Show
Acht Jahre lang, von 1990 bis 1998, lief bei RTL eine Show, mit der schon den Kleinsten die heimliche Botschaft mit auf den Weg gegeben wurde: Du bist nur dann etwas Wertvolles, wenn du nicht so bist wie du bist. Die Grundidee der Show bestand darin, Kindern durch KostĂŒm und Maske das Aussehen eines prominenten Stars zu geben, um sie in dieser Verkleidung einen Hit des betreffenden Stars im Playback-Verfahren zum Besten geben zu lassen. Es war manchmal durchaus verblĂŒffend, wie âechtâ das Ergebnis aussah â nicht ganz verwunderlich, wenn man weiĂ, dass auch die ârichtigenâ Stars im Fernsehen in der Regel nur Playback singen.
Die Message der Jugendkulturarbeit muss demgegenĂŒber lauten: Du bist am wertvollsten, wenn du ganz du selbst bist.
The Young Americans
Mehrere Gruppen junger KĂŒnstlerInnen aus den USA touren durch viele LĂ€nder der Welt, um Jugendliche in Mitmach-Workshops fit fĂŒr die Beteiligung an einer BĂŒhnenshow zu machen, die nicht nur ihnen selbst, sondern auch dem Publikum, Eltern und Freunden, zeigt, dass mehr in ihnen steckt. Nach eigenen Worten geht es ihnen darum, âkĂŒnstlerische Impulse zu gebenâ und das âVertrauen in die eigenen kreativen KrĂ€fte zu entwickelnâ. Diese hohen Ziele sollen allerdings in einem Tempo erreicht werden, das an der Ernsthaftigkeit des BemĂŒhens Zweifel weckt: Die eineinhalbtĂ€gigen Workshops, die schon einen Tag spĂ€ter mit der âPremiereâ der fertigen Show gekrönt werden, können kaum mehr als AppetithĂ€ppchen sein. Es geht in Wahrheit weniger um die Förderung der âeigenen kreativen KrĂ€fteâ der Teilnehmenden als um ihre Komparsen-Ă€hnliche Rolle in einem Produkt, das die AnimateurInnen aus Amerika schon fertig im GepĂ€ck haben.
Eine gute Sache, wenn die Sache als das gesehen wird, was sie durchaus sein kann: eine ermutigende Selbsterfahrung, eine Anregung, sich in Zukunft intensiver mit den âeigenen kreativen KrĂ€ftenâ zu betĂ€tigen. Kontraproduktiv ist es allerdings, wenn die Illusion verbreitet wird, das sei es schon â oder: Erfolg und tosender Beifall seien auch auf Dauer ohne weiter gehende Anstrengungen zu erreichen.
Hauptrolle(n)
Ein Berliner Kinderzirkusprojekt, das in den ersten Jahren vor allem als BeschĂ€ftigungsprojekt fĂŒr arbeitslose KĂŒnstlerInnen und ArtistInnen gefördert wurde, musste sich mit dem Wunsch dieser AnleiterInnen auseinandersetzen, in den Shows selbst aufzutreten, weil sie darin doch ihre eigentliche Berufung sahen. Sie hĂ€tten gerne gezeigt, was sie konnten. Den Kindern und Jugendlichen hĂ€tten sie dabei allerdings âdie Show stehlenâ können. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie begriffen hatten, dass ihre ProfessionalitĂ€t darin liegen musste, den Kindern und Jugendlichen einen möglichst guten sicheren Rahmen fĂŒr deren Auftritte zu geben. So waren sie fortan (gĂ€nzlich unschĂ€dlich) nur noch in den Pausen zwischen einzelnen Nummern als Fachleute fĂŒr den schnellen BĂŒhnenumbau zu sehen.
Es gibt gelungene Ausnahmen, in denen das Zusammenspiel zwischen Erwachsenen und Jugendlichen selber zum Thema gemacht wird. Ein schönes Beispiel dafĂŒr hat der Kinderzirkus Upsala aus St. Petersburg mit seinem StĂŒck âNachtwĂ€chterâ gezeigt, das er auf seiner JubilĂ€umstour zum zehnjĂ€hrigen Bestehen im Sommer 2010 in der Schweiz und in Deutschland aufgefĂŒhrt hat.2
Ăsthetik
Ein vergleichbares Problem kann auftauchen, wenn die JugendkulturarbeiterInnen zwar nicht selbst auf der BĂŒhne stehen wollen, aber unausgelebte Ambitionen als RegisseurInnen mit sich herumtragen. Sie können der Versuchung erliegen, den jungen Leuten ihre eigenen Ă€sthetischen Vorstellungen ĂŒberzustĂŒlpen, wo es doch eigentlich darauf ankĂ€me, in produktivem Mit- und Gegeneinander etwas zu entwickeln, mit dem die jugendlichen AkteurInnen sich auch dann identifizieren können, wenn es nicht nur ihren eigenen Ă€sthetischen Vorlieben entspricht. Die Erwachsenen können und sollen sich durchaus selbst in den Prozess mit einbringen, sich als Widerstandspotential, Reibe- oder ProjektionsflĂ€che zur VerfĂŒgung stellen, aber sie sollten nicht dominieren und damit dem Produktergebnis einen GroĂteil seiner potentiellen Kraft entziehen.
Klassische Vorbilder
Am Anfang eines Theaterprojekts, das vom Berliner Streetworkverein Gangway initiiert wurde, stand die Idee, Jugendlic...