„Mein Markt ist die Tonne.“
Moe, 22, Student, containert.
Tja, Moe, wir treffen uns heute, um vor allem über das Containern zu sprechen, weil du das ja ausführlich betreibst. Sag doch mal kurz: Was bedeutet „containern“ eigentlich?
„Containern“ ist der Begriff dafür, dass man hinter den Supermärkten im Müll wühlt, so steht‘s in Wikipedia zumindest noch drin. Naja: Es bedeutet eigentlich, dass man im Müllcontainer nach Lebensmitteln sucht, die im Laden schon aussortiert wurden und weggeschmissen worden sind. Es sind Sachen, die man sich sozusagen hinter dem Laden besorgt, indem man sie wieder aus dem Container holt.
Okay, und wann hast du damit angefangen?
Also hier in Stuttgart mach ich das seit ungefähr ‘nem halben Jahr. Ich hab‘s auch schon an meinem vorigen Wohnort gemacht – allerdings nicht so ausführlich und so regelmäßig jede Woche, wie wir das hier in Stuttgart betreiben. Die erste Erfahrung damit hab ich vielleicht vor anderthalb Jahren oder so gemacht. Ich kam drauf durch ‘ne Reportage, über die ich aufmerksam geworden bin. Seitdem hab ich das dann immer mehr verfolgt. Bedeutsam war sicher auch meine zweite Reise nach Mittelamerika. Ich war in Costa Rica und Guatemala. Ich hab in Guatemala einen Einheimischen kennengelernt. Der wurde mein Freund über ‘ne Zeit. Der wohnt in ‘nem kleinen Bergdorf, seine Familie stammt aus der Maya-Kultur. Sehr ärmlicher Typ, also nicht viel Geld, krasse Wohnverhältnisse. Das hat mein Bild vor allem auf Konsum geprägt, weil ich gesehn hab, wie das da läuft. Der hat in einem Zimmer gewohnt mit seiner Frau und mit seinen Kindern. Der hat noch nie ein Auto besessen, der hat ja noch nicht mal ‘n Bett. Für ihn ist es manchmal auch so, dass er morgens aufwacht und nicht weiß, wie er seinen Sohn ernähren soll. Und da ist es in dem Dorf halt wie so ein soziales Netzwerk. Das heißt, man geht an dem Tag zu einem und sagt, „hey, ich brauch jetzt heut Kartoffeln – ich könnt dir in zwei Tagen was geben“ oder so. Also das läuft in einem Austausch, weil jeder hilft dem anderen. Das ist also ein soziales Gefüge, vielleicht auch aus der Not heraus. Der überlegt fünfmal, ob er was kauft. Als Backpacker hatte ich mehr Klamotten dabei, als er besaß. Und das war nicht mal ‘n Viertel von meinem Kleiderschrank. Also es hat mir schon zu denken gegeben, mit welchen Luxusproblemen wir leben. Damals ist mir zum ersten Mal aufgefallen: Ich bin noch nie morgens aufgewacht und hatte das Gefühl, nicht zu wissen, wo ich heute Geld herbekomm. Unsere Probleme sind: „Wie wird meine Karriere?“, aber nicht: „Wo kriege ich Essen her?“ Wenn man das sieht, dann werden die Probleme, die man hier hat, vielleicht auch gar nicht so extrem. Also es hilft einem selber, über sich zu reflektieren, was eigentlich wichtig ist im Leben.
Kannst du dich noch an das erste Mal Containern erinnern?
Ja, auf jeden Fall. Allerdings: Es gibt für mich zwei erste Male: Das eine Mal ist, als ich es noch an meinem vorherigen Wohnort gemacht hab – das zweite erste Mal war hier. Denn das war noch mal ein neues Erlebnis, ein neues erstes Mal sozusagen, denn für mich war es in einem anderen Kontext. Ich war beim ersten Mal nur dabei – so wie du bei uns dabei warst. Und das war ‘ne Mega-Erfahrung, weil da war ich noch jünger und hatte wirklich ‘n bisschen Schiss. Es war sehr dunkel, es gab komische Geräusche und ich konnte nicht wirklich erwarten, was dabei rauskommen würde. Wir waren auch nicht wirklich erfolgreich. Es war mehr ein Im-Müll-Wühlen ohne Erfolg. Aber wenn ich an das erste Mal in Stuttgart denk, dann waren das Glücksgefühle. Denn es hat uns unheimlich inspiriert. Wir sind rumgelaufen, haben Läden gesucht, und schon auf dem Weg haben wir uns über sehr viele Themen unterhalten. Dann haben wir beim ersten Laden hinten was gefunden. Und dann hat uns das auch schon wieder so beschäftigt, auch das Ablaufdatum, dass uns auf dem Weg Gedanken gekommen sind, einfach mehr darüber nachzudenken: Warum liegt das jetzt hier? Warum wird das nicht verkauft? Oder: Warum kauft das der Konsument nicht? Auch: Warum gibt‘s nicht ‘nen Markt, wo die Sachen hinkommen? Warum ist es so schwer für den Laden, das zur Tafel zu bringen, oder warum tut er‘s nicht? Warum holen wir das raus – und warum ist es überhaupt da drin? Das hat mich in Stuttgart so inspiriert, weil wenn man im Dezember so extreme Sachen findet, wie zum Beispiel einen Schafskäse, der noch bis März 2014 haltbar ist, dann denkst du: Warum muss das jetzt sein? War das ein Versehen? Da findest du Knoppers-Riegel, die noch ein Jahr haltbar sind! Da denkst du: Hä? Das macht doch gar keinen Sinn!
Und wie kam‘s zu diesem ersten Mal in Stuttgart? Gab‘s irgendein Schlüsselerlebnis oder war es mehr ein schleichender Prozess?
[Grinst.] Ich saß einfach abends mit zwei Kommilitonen bei einem von denen, und irgendwie hab ich beiläufig erwähnt: „Hey, ich fang jetzt echt an zu containern!“ Ich wollt die eigentlich nur fragen, was die davon halten, ob sie‘s cool finden. Hab gar nicht drüber nachgedacht, sie zu fragen, ob sie mitmachen wollen. Und die beiden haben sofort gesagt: „Wir machen mit!“ Dann haben wir uns donnerstags getroffen, ausgerüstet mit Taschenlampe und Handschuhen. Aber wir hatten noch kein Feeling dafür. Wir sind einfach auf die Suche gegangen. Es war ja nicht so, dass wir schon Orte hatten. Du suchst, wo Läden sind, und läufst entlang und schaust, ob sie zugänglich sind. Ja, so war das. Und seitdem haben wir das jede Woche gemacht. Es gab keine Woche, wo das ausgefallen ist.
Immer zu dritt?
Genau, immer zu dritt.
Und so findet man halt Sachen, die auf jeden Fall noch fünf, sechs Tage haltbar sind.
Könntest du dir auch vorstellen, alleine loszuziehen?
Schon, aber ich glaube, es würde mich deprimieren, wenn ich sehe, wie viel da drin liegt und wie wenig ich nur rausnehmen kann. Es ist schon geschickt, wenn einer ‘ne Taschenlampe hinhebt und ein anderer das rausholt. Dabei zu dritt zu sein, ist perfekt. Auch die Konversation dabei ist einfach ‘ne gemeinsame … Es ist vielleicht wie beim Reisen: So schön das Allein-Reisen ist, so schön ist es doch auch, Sachen zu teilen. Die Freude an was Schönem zu finden, macht viel Spaß.
Also ihr zelebriert das dann richtig sozusagen?
Ja, aber nicht nur auf der Feier-Ebene, sondern wir denken auch sehr viel drüber nach, wie so konsumiert wird.
Was, denkst du, sind die Gründe dafür, dass so viele gute Lebensmittel weggeschmissen werden? Habt ihr da bei euren Container-Gesprächen schon Antworten gefunden?
Ich kann das von Lidl sagen zum Beispiel. Da gibt‘s ‘ne Geschäftsverordnung und da steht drin, wann welche Lebensmittel weggeschmissen werden. Zum Beispiel, keine Ahnung, Eier sollen im Schnitt zwischen acht und zehn Tagen vor dem Ablaufdatum weggeschmissen werden. Ich würd mal sagen, nicht jeder Lidl macht das so. Da gibt‘s bestimmt auch noch Leute, die ethische Werte vertreten und das irgendwie nicht einsehen. Aber zum Beispiel beim Fleisch ist es beim Lidl so: Da ist kein Fleisch im Laden, das in fünf Tagen abläuft. Weil der Kunde will das frisch und neu. Das ist die Devise. Und so findet man halt Sachen, die auf jeden Fall noch fünf, sechs Tage haltbar sind, vor allem bei Fleisch ist es so. Wobei das Ablaufdatum ja wohlgemerkt eigentlich ein Mindest-Haltbarkeitsdatum ist! Somit sind viele Dinge auch darüber hinaus haltbar.
Dementsprechend spielen auch die Konsumenten ‘ne große Rolle …
Auf jeden Fall. Ich hab mich schon öfters gefragt, inwieweit wir als Verbraucher damit zu tun haben. Wir lassen die Bananen liegen, wenn sie dunkel sind, statt genau die zu nehmen, weil die in zwei Tagen oder so weggeschmissen werden. Wir wollen immer die maximale Ware. Zudem denk ich aber, dass bei vielen Lebensmitteln die Konzerne einfach auch die Auswahl nicht herstellen. Also ein Beispiel: Würd‘s ‘ne Kartoffel Klasse C geben, wo die kleinen, verkrümmten Kartoffeln angeboten werden, ich hab keine Ahnung, was die Konsumenten machen würden, wenn die preisgünstiger wären. Ich weiß nur: Wenn Brot beim Lidl vom vorigen Tag für 50 % angeboten wird, dass es sofort ratzeputze weg ist. Aber durch die Monopolstellung von den großen Konzernen können die das alles steuern. Eigentlich könnten die wie bei Bio – Bio ist ja ein Trend – genauso sagen: „Hey, jetzt wollen wir mal auch die unschönen Obst- und Gemüsesorten anbieten. Mal sehn, ob das nicht doch gekauft wird.“
Ich kann zwar nicht die Strukturen ändern, aber ich merk, dass da Potenzial da hinten im Mülleimer ist.
Gut. Aber ganz genau hab ich‘s jetzt immer noch nicht verstanden, wie du zum Containern gekommen bist. Du hast gesagt, du hast ‘ne Reportage geschaut. War das der entscheidende Wendepunkt? Oder wie kam‘s?
Also ein Bewusstsein für Ernährung hab ich schon sehr lange. Ich bin sehr interessiert daran, wie was ernährungsmäßig zusammengestellt ist. Ich versuche, mich gesund zu ernähren. Ich les darüber viel. Das ist das eine. Das andere ist: Mir fällt‘s auch schwer, was übrig zu lassen. Bei mir wird selten was schlecht im Kühlschrank. Jedes achte Lebensmittel, das in Deutschland im Kühlschrank liegt, wird nämlich weggeschmissen: Wir kaufen acht Stück ein und eins schmeißen wir immer weg, jedenfalls im Durchschnitt auf alle Bürger umgerechnet. Und jeder achte Mensch auf der Welt hungert. Das hört sich jetzt vielleicht sehr moralisch an, auch wenn ich selbst manchmal etwas wegschmeiße. Aber mir ist schon bevor ich containert habe, aufgefallen: Hey Moe, du echauffierst dich manchmal, aber du machst nix! Und du bist auch derjenige, der vorne bei den großen Supermärkten reinläuft und irgendwelche Sachen kauft, statt die Regionalen zu unterstützen. Ich hab halt gemerkt, dass ich viele Dinge auch nicht richtig mach, obwohl ich vielleicht vermeintlich mehr drüber weiß oder es mir eigentlich wichtig ist. Und da hab ich gedacht: Es geht nicht, dass man es nicht cool findet und selber in dem System steckt. Ich sollte da versuchen, ein bisschen einzukaufen mit einem anderen Blick. Am Anfang hab ich hinten auf die Ware drauf geguckt mit meinem Zettel oder mit meinem Handy mit dem Internet, hab verglichen und mich gefragt: Okay, was bedeutet dieser Konservierungsstoff? Und später hab ich gemerkt: Ich will nicht mehr bei den großen Supermärkten einkaufen, um diesen Konsum zu unterstützen. Und: Ich weiß, dass viel weggeschmissen wird, also will ich das vorher da rausholen. Die Utopie, das größer auszubauen, hat bisher noch nicht geklappt. Aber, die Erfahrung, die ich jetzt hab von den paar Läden in Stuttgart, stimmt mich traurig. Wenn man darüber nachdenkt, dass ein Lebensmittel wie etwa Getreide verbrannt wird, um Biodiesel oder so herzustellen, es aber Menschen auf der Welt gibt, die verhungern, dann ist das eigentlich wie jemanden verhungern zu lassen, ist eigentlich wie ermorden. Weil wir haben genug Güter, um alle zu ernähren. Für mich ist das menschenverachtend, mehr Lebensmittel herzustellen als wir brauchen – und dann aber viele zu verbrennen, um sich unabhängig zu machen vom Ölpreis oder wie auch immer. Und gleichzeitig verhungern Leute! Das ist schlimm. Ich kann zwar nicht die Strukturen ändern mit dem, was ich mach, aber ich merk, dass da Potenzial da hinten im Mülleimer ist. Und klein anfangen ist auf jeden Fall gut. Es fühlt sich für mich auch einfach besser an.
Weil du so persönlich aus diesem System ausbrechen kannst?
Ja, ein Stück weit. Ganz gelingen wird mir das sicher nicht und es gibt viele andere Bereiche, wo das sicher auch nicht funktioniert. Aber ja, wenn ich meine Einkäufe und die meiner zwei Kumpanen hochrechne, also ich meine das, was wir nicht vorne einkaufen, sondern stattdessen hinten nehmen … Gut, das ist nichts im Vergleich zu dem, was insgesamt schlecht wird, aber wenn es nochmal zwei und nochmal zwei tun würden … Ich glaube, man sollte in einer Demokratie n...