1 Arbeitsorientiertes Lernen: Bedeutung, Charakteristik und Gegenstand
1.1 VerĂ€nderte Umfeldbedingungen und ZielgröĂen
1.1.1 VerÀnderungen in der Arbeitswelt
1.1.2 ZielgröĂen arbeitsorientierten Lernens
1.2 Arbeitsorientiertes Lernen: Integration von Arbeit und Lernen
1.2.1 Ăberlegungen zum Arbeitsbegriff
1.2.2 Ăberlegungen zum Lernbegriff
1.2.3 Charakteristik arbeitsorientierten Lernens
1.3 Entwicklungslinien der Integration von Arbeit und Lernen
1.3.1 Arbeitsplatz als Lernort in der Aus- und Weiterbildung
1.3.2 Ăbungen zur Erzielung bestmöglicher Leistungen
1.3.3 Kompetenzentwicklung durch Training und Arbeitsgestaltung
1.4 Aufbau und Themen des Lehrbuchs
1.1 VerĂ€nderte Umfeldbedingungen und ZielgröĂen
1.1.1 VerÀnderungen in der Arbeitswelt
Die Arbeitswelt unterliegt kontinuierlichen VerÀnderungsprozessen. Dies ist nichts Neues. Allerdings mehren sich die Zeichen, dass VerÀnderungen an IntensitÀt, Dauer und HÀufigkeit zunehmen.
Seit geraumer Zeit befinden sich insbesondere die IndustrielÀnder in einem dynamischen, sozioökonomischen und technologischen Strukturwandel mit hohen Anforderungen an das Innovations- und Lernpotenzial der Organisationen und ihrer Mitglieder. Nicht mehr nur die BeschÀftigten in klassischen Wirtschaftsorganisationen sind davon betroffen, verstÀrkt sind es nun auch die Organisationsmitglieder im non-profit Bereich, in Verwaltungen und Hochschulen.
Die Organisationen sehen sich aufgrund verschiedener Entwicklungen, wie beispielsweise Wettbewerbserfordernissen oder KundenansprĂŒchen, einem hohen Druck ausgesetzt, ihre strategische Positionierung und operative Performance zu optimieren. Solche Optimierungen bewirken oder sind das Ergebnis von Lernprozessen. Letztendlich geht es dabei immer um die Erhaltung und Weiterentwicklung psychischer und physischer Leistungsvoraussetzungen des Menschen zur BewĂ€ltigung neuer, teilweise anspruchsvollerer Aufgaben und Anforderungen der ArbeitstĂ€tigkeit.
Die GrĂŒnde fĂŒr diese Entwicklungen sind vielfĂ€ltig:
- Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft geht der Anteil an BeschĂ€ftigten im produzierenden Bereich zurĂŒck, neue ArbeitsplĂ€tze vor allem im Dienstleistungssektor entstehen. Angesichts der hohen Technologiedynamik wird die Halbwertszeit von Wissen, das BeschĂ€ftigte fĂŒr ihre Arbeit benötigen, immer kĂŒrzer. Das Bildungssystem kann dieses Wissen nicht mehr »auf Vorrat« vermitteln. Insofern sind Konzepte zu thematisieren, die Arbeiten und Lernen integrieren, damit die Organisationsmitglieder sich erforderliches Wissen zeitnah und bedarfsgerecht aneignen können.
- Klassische, stabile BerufsverlĂ€ufe mit geordneten Ausbildungsmustern werden zunehmend obsolet. Patchwork-Biographien mit unterschiedlichen beruflich und zeitlich limitierten Einsatzfeldern treten an deren Stelle. Formale AusbildungsgĂ€nge liegen fĂŒr solche variablen TĂ€tigkeitsmuster nicht vor, mit der Konsequenz, dass Mitarbeiter sich in verstĂ€rktem MaĂe Wissen und Kompetenzen fĂŒr die jeweiligen Arbeitsumgebungen selbstorganisiert aneignen mĂŒssen.
- Um flexibel und wettbewerbsgerecht positioniert zu sein, organisieren sich Unternehmen zunehmend dezentral, setzen auf flache Hierarchien, Netzwerke, Projekt- und Teamarbeit. Diese Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen bewirkt, dass einmal Erlerntes hÀufig nicht mehr relevant ist und im Hinblick auf verÀnderte Aufgabenmuster und Anforderungen (neu) ausgerichtet werden muss.
- Alterung der Gesellschaft, bei gleichzeitiger VerlĂ€ngerung der Lebensarbeitszeit bedeutet fĂŒr Organisationen, dass deren Belegschaften zunehmend Ă€lter werden. Entsprechend personalpolitische Ăberlegungen gehen dahin, Mitarbeitern altersdifferenzierte Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten in der Arbeit anzubieten.
Fazit: Die Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechniken, die Auflösung stabiler BerufsverlĂ€ufe sowie die strukturellen VerĂ€nderungen der Arbeitsorganisationen bewirken in kĂŒrzer werdenden ZeitabstĂ€nden verĂ€nderte Lernerfordernisse und aktualisierte WissensbestĂ€nde der Organisationsmitglieder.
Die Bedeutung und damit auch die AttraktivitÀt des Lernorts Arbeitsplatz wird nun darin gesehen, dass die DisponibilitÀt entsprechender Kompetenzmuster und die Motivationen zum »stÀndigen Lernen« am ehesten durch Lern- und Entwicklungspotenziale in der ArbeitstÀtigkeit oder durch LerntÀtigkeiten im arbeitsbezogenen Umfeld erreicht werden können.
Neben der Sicherung von AktualitĂ€t, Relevanz und Anforderungsbezug ist ein weiterer, mehr evaluations- und transferbezogener Aspekt arbeitsorientierten Lernens anzufĂŒhren. Wie aus Untersuchungen zum allgemeinbildenden und naturwissenschaftlichen Unterricht bekannt, »verpufft« Gelerntes hĂ€ufig in seiner Wirkung; produziert wird sogenanntes trĂ€ges Wissen, also scheinbar vorhandenes Wissen, das bei Bedarf in der Anwendungssituation nicht abgerufen werden kann. Dieses PhĂ€nomen zeigt sich insbesondere dann â so das ErklĂ€rungsmuster der Instruktionspsychologen â, wenn Wissen, das unverbunden und unzusammenhĂ€ngend reprĂ€sentiert ist, aus dem natĂŒrlichen, authentischen Kontext herausgehoben ist.
Damit rĂŒcken theoretische Konzepte und Modelle zur ErklĂ€rung und Beschreibung arbeitsimmanenter Lernprozesse und zur Gestaltung problemorientierter authentischer Lernumgebungen in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses.
1.1.2 ZielgröĂen arbeitsorientierten Lernens
Arbeitsorientiertes Lernen zielt auf die Förderung von Kompetenz und Leistung (vgl. Abb. 1.1). Nachfolgend werden beide Konstrukte ausfĂŒhrlich charakterisiert.
Abb. 1.1: ZielgröĂen arbeitsorientierten Lernens
Kompetenz
Ziel arbeitsorientierten Lernens ist es, durch geeignete MaĂnahmen Kompetenzen der Organisationsmitglieder zu erhalten, aufzubauen oder weiterzuentwickeln, die zur leistungskritischen »Meisterung« beruflicher Situationen und ArbeitstĂ€tigkeiten befĂ€higen (vgl. Abb. 1.1).
Arbeitsorientiertes Lernen geschieht in Organisationen auf vielfĂ€ltige Art und Weise: Durch die Bearbeitung anregender und abwechslungsreicher Aufgabenstellungen; durch das gemeinsame BewĂ€ltigen von Problemen in Arbeitsgruppen; durch das Beobachten erfolgskritischer Verhaltensweisen erfahrener Kollegen und Vorgesetzter; durch Wissensvermittlung in realen oder computergestĂŒtzten, simulierten Anwendungskontexten usw.
In den genannten FÀllen ist der Ort der Erfahrungsbildung, also des Lernens, der Arbeitsplatz mit seinen spezifischen Aufgaben, Inhalten und Strukturen (arbeitsintegriertes Lernen); oder es finden Lernprozesse in möglichst authentisch gestalteten Lernumgebungen statt (arbeitsbezogenes Lernen).
Um erfolgreich in Organisationen handeln zu können, benötigen ihre Mitglieder entsprechende Kompetenzen. Der Kompetenzbegriff im Kontext beruflichen Handelns umfasst die erforderlichen psychischen und physischen Leistungsvoraussetzungen des Menschen. Sie ermöglichen die leistungsgerechte AusfĂŒhrung einer ArbeitstĂ€tigkeit. Wie Infobox 1.1 zeigt, werden Kompetenzen zumindest im angloamerikanischen Sprachraum hĂ€ufig mit Eignungsmerkmalen gleichgesetzt.
Infobox 1.1: Kompetenzbegriffe
Kompetenzbegriffe
- Competency as a measurable pattern of knowledge, skill, abilities, behaviors, and other characteristics that an individual needs to perform work roles or occupational functions successfully (United States Office of Personnel Management, in Rodriguez, Patel, Bright, Gregory & Gowing, 2002).
- A knowledge, skill, ability, or characteristic associated with high performance on a job (Mirabile, 1997).
- A combination of motives, traits, self-concepts, attitudes or values, content knowledge or cognitive behaviour skills; any individual characteristic that can be reliably measured, counted and that can be shown to differentiate superior from average performers (Spencer, McClelland & Spencer, 1994).
Als ZielgröĂe fĂŒr arbeitsorientiertes Lernen ist bei der begrifflichen Auslegung von Kompetenz insbesondere der Anforderungsbezug und die IntentionalitĂ€t zu berĂŒcksichtigen. So versteht man im ersteren Falle unter Kompetenzen im allgemeinen Sinne Wissen, FĂ€higkeiten, Motivation, Interesse, Fertigkeiten, Verhaltensweisen und andere Merkmale, die im Zusammenhang mit den Anforderungen einer bestimmten Arbeitsaufgabe stehen (vgl. Schmidt-Rathjens, 2007). Daraus resultiert der Einsatz von Aufgaben und Anforderungsanalysen, auf deren Basis Kompetenzen modelliert werden (vgl. Abschnitt 5.3.1; Sonntag & Schmidt-Rathjens, 2004), die als Kriterium arbeitsorientierten Lernens GĂŒltigkeit besitzen. FĂŒr die Gestaltung und Evaluation arbeitsorientierter Lernprozesse sind vorangehende Anforderungsanalysen somit eine zentrale Voraussetzung.
Weitere Kompetenzdefinitionen berĂŒcksichtigen die Handlungsintention und Selbstorganisation. So versteht Sonntag (2006) unter Beruflicher Handlungskompetenz »die BefĂ€higung eines Mitarbeiters die zunehmende KomplexitĂ€t seiner beruflichen Umwelt zu begreifen und durch zielgerichtetes, selbstbewusstes, reflektiertes und verantwortliches Handeln zu gestalten« (S. 56). Erpenbeck & v. Rosenstiel (2003) stellen das Prinzip der Selbstorganisation in den Vordergrund. Berufliche Handlungskompetenz zeigt sich dann, wenn Organisationsmitglieder ihre Leistungsvoraussetzungen angesichts verĂ€nderter Aufgaben und Anforderungen selbstorganisiert weiterentwickeln und anpassen. Kompetenzen charakterisieren danach auch die FĂ€higkeit zu innovativem Lösungsverhalten angesichts neuartiger Problemstellungen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Konstrukte Anpassungs- und VerĂ€nderungsbereitschaft sowie InnovationsfĂ€higkeit und KreativitĂ€t (vgl. Gebert, 2004; Herscovitch & Meyer, 2002; Oldham & Cummings, 1996; Oreg, 2003; Tierney & Farmer, 2002).
Letztendlich ist es Ziel arbeitsorientierten Lernens solche Kompetenzen aufzubauen, die Organisationsmitglieder befĂ€higen, Handlungen zielgerichtet und weitgehend selbstorganisiert umzusetzen, gestĂŒtzt auf fachliches und methodisches Wissen, auf Erfahrungen und Expertise sowie unter Nutzung kommunikativer und kooperativer Möglichkeiten.
Leistung
Leistung stellt die evaluative Komponente, der durch MaĂnahmen arbeitsorientierten Lernens entwickelten Kompetenzen dar. In der Leistungssituation einer konkreten ArbeitstĂ€tigkeit »aktiviert« das Organisationsmitglied seine FĂ€higkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse usw. FĂŒr die Beurteilung dieser Kompetenzen sind differenzierte Betrachtungen erforderlich (vgl. auch Marcus & Schuler, 2006).
Nach Klehe und Kleinmann (2007) ist die Leistung einer Person eine Funktion ihrer FĂ€higkeiten (Wissen, kognitive und interpersonelle FĂ€higkeiten) und ihrer Motivation (AusmaĂ und Ausdauer von Anstrengung), die nicht ĂŒber Situationen hinweg konstant gezeigt werden kann. So wird zwischen typischen und maximalen Leistungssituationen unterschieden. In typischen Leistungssituationen ist das VerhĂ€ltnis von Motivation und FĂ€higkeiten im allgemeinen variabel und die Leistenden können einen Mangel an FĂ€higkeiten hĂ€ufig durch verstĂ€rkte Motivation ausgleichen und vice versa. In maximalen Leistungssituationen dagegen ist die Varianz der Motivation stark eingeschrĂ€nkt mit dem Ergebnis, dass die gezeigte Leistung vor allem mit dem AusmaĂ an vorliegenden FĂ€higkeiten variiert. Diese auf Studien von Sackett, Zedeck und Fogli (1988) zurĂŒckgehenden Differenzierungen zeigen den relationalen und kompensatorischen Charakter einzelner Kompetenzen bei deren Beurteilung in unterschiedlichen Leistungssituationen.
Ein stĂ€rker auf den Inhalt beruflicher Leistung konzentriertes Modell liefern Borman und Motowidlo (1993). Sie unterscheiden zwischen aufgabenbezogener (task performance) und umfeldbezogener Leistung (contextual performance). Aufgabenbezogene Leistung zeigt sich darin, wie gut eine Person ihre eigentliche Kernaufgabe erfĂŒllt (jobspezifisch; direkt ergebnisbezogen) und inwieweit sie beitrĂ€gt, die organisationalen Ziele zu erreichen. Bei der umfeldbezogenen Leistung geht es um AktivitĂ€ten, die zwar auĂerhalb der Kernaufgabe liegen (allgemeingĂŒltig, indirekt ergebnisunterstĂŒtzend), jedoch ebenfalls wichtig sind, um das Organisationsziel zu erreichen. Unterschieden werden dabei zum einen stabilisierende AktivitĂ€ten (z. B. Kollegen helfen, LoyalitĂ€t gegenĂŒber der Organisation, sich an die Regeln halten), die dazu beitragen, dass die bewĂ€hrten Routinen und Prozesse der Organisation funktionieren. Zum anderen geht es um proaktive dynamisierende AktivitĂ€ten (z. B. Verbesserungen vorschlagen, Probleme offen aussprechen), die dazu dienen, die Arbeitsweise der Organisation zu verĂ€ndern.
Als Kompetenzen zur Erbringung aufgabenbezogener Leistung werden von Borman und Motowidlo...