1 Entwicklung der Mittelstandsorientierten BWL
1.1 Begriffsabgrenzung
1.1.1 Begriffsabgrenzung und volkswirtschaftliche Bedeutung
Wolfgang Becker und Patrick Ulrich
- 1 Begriffsabgrenzung Mittelstand, KMU und Familienunternehmen
- 1.1 Historische Entwicklung des Mittelstands
- 1.2 Begriffsabgrenzungen i. e. S
- 1.2.1 Kleine und mittlere Unternehmen (KMU)
- 1.2.2 Mittelstand
- 1.2.3 Familienunternehmen
- 2 Zwischenfazit: Ableitung einer konsensorientierten Sichtweise
- Literatur
1 Begriffsabgrenzung Mittelstand, KMU und Familienunternehmen
Die folgenden Ausführungen sind an Becker und Ulrich (2011, S. 15 ff.) angelehnt und präsentieren die historische Entwicklung mittelständischer Unternehmen, angefangen vom Mittelalter bis heute. Deren Betrachtung hängt zwangsläufig mit dem Verständnis der modernen Bedeutung des Mittelstands für die deutsche Volkswirtschaft zusammen. In einem weiteren Schritt wird die Sinnhaftigkeit der entstandenen Begriffsvielfalt aus Mittelstand, KMU und Familienunternehmen für die heutige Forschung und Praxis hinterfragt (vgl. Damken 2007, S. 57 ff.) und für das vorliegende Handbuch relativiert. Diese Problematik findet im Abschnitt zu den Begriffsabgrenzungen Berücksichtigung, um eine für dieses Handbuch und die weiterführende Mittelstandsforschung zugleich sinnvolle und theoretisch nachvollziehbare Konsenssicht abzuleiten. Ein Vorschlag zur Operationalisierung des Mittelstandskonstrukts steht im Mittelpunkt des letzten Teils des folgenden Kapitels.
1.1 Historische Entwicklung des Mittelstands
Das Konstrukt des Mittelstands ist aus etymologischer Sicht ein »Stand in der Mitte« einer Gesellschaft. Der Begriff des »Stands« geht in diesem Zusammenhang auf das lateinische Wort »Status« zurück. Dieses bezeichnet in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft eine bestimmte abgeschlossene Gruppe. Die historischen Wurzeln dieser Entwicklung sind nicht eindeutig feststellbar, im antiken Rom konnten bspw. jedoch zumindest die »Stände« der Patrizier, Plebejer und Ritter unterschieden werden (vgl. Bleicken 2004, S. 20 ff.). Die homogenen und untereinander in Macht, Einfluss, Einkommen und politischer Rolle sehr unterschiedlichen Stände standen zueinander in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis, das sich durch Konflikte einerseits und wirtschaftliche und soziale Verflechtungen andererseits kennzeichnete.
In dem auf das Römische Reich folgenden Europa gab es zunächst in den meisten Fürstentümern, Königreichen und ähnlichen Staatsgebilden nur zwei Stände, Herrscher und Untertanen. Damit sich jedoch ein Stand in der Mitte einer Gesellschaft befinden kann, muss es aus soziologischer Sicht parallel noch mehrere andere Stände geben (vgl. Symanski 1999, S. 15). Die Anfänge kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Hier bildeten die zwischen 1.000 und 1.500 n. Chr. entstehenden und stetig an Bedeutung gewinnenden Städte wichtige Zentren wirtschaftlicher Entwicklung (vgl. hierzu und im Folgenden Mugler 1995, S. 53 ff.). Zwischen der aus Adel und Klerus gebildeten Oberschicht und der durch die unfreie Landbevölkerung und Bediensteten gebildeten Unterschicht entsteht in der Feudalzeit mit dem freien städtischen Bürgertum ein dritter Stand.
Im Jahr 1777 taucht der Begriff »Mittelstand« erstmals in einem Lexikon auf und wird dort definiert als: »[…] der mittlere Zustand einer Person, besonders in Ansehung des Vermögens und des bürgerlichen Ranges, derjenige Stand, welcher zwischen reich und arm, zwischen vornehm und geringe in der Mitte ist« (Adelung 1777, S. 544). Im Zeitalter der Aufklärung bezeichnet Mittelstand das Volk der Kleinen und Größeren, nicht adeligen Eigentümer, welches zu jener Zeit eine Aufwertung erfährt (vgl. Brunner et al. 2004, S. 54). In dieser Zeit kam es sowohl im technischen als auch im kaufmännischen Bereich zu zahlreichen Innovationen, die für die weitere wirtschaftliche Entwicklung besondere Bedeutung erlangten. Beispielhaft für den erstgenannten Bereich ist der Buchdruck. Aus der kaufmännischen Perspektive gewann die bereits während der Renaissance in Italien erfundene doppelte Buchhaltung zunehmend an Bedeutung (vgl. Schiebe 1852, S. 5 ff.).
Die Industrielle Revolution in Europa (spätes 18. und frühes 19. Jahrhundert) war ein mehrstufiger Prozess in dessen Gefolge sich die Zünfte, in denen bis dato Handwerker und Gewerbetreibende organisiert waren, schrittweise auflösten und es zu einer bis dahin unbekannten Trennung von Wohnen und Arbeiten kam. Zunächst führte die Aufhebung des Zunftzwangs jedoch keineswegs zu einer schnelleren Etablierung kapitalistischer Unternehmungen auf Kosten des Handwerks. Bis in die Mitte des Jahrhunderts entwickelte sich das Fabrikwesen nur langsam. Die Auflösung der Zünfte brachte so zunächst einen Aufschwung für Klein- und Mittelbetriebe (vgl. Borchardt 1978, S. 155 ff.). Parallel dazu wurden große Industrieunternehmen von Grundherren, Bankeigentümern und großen Handelsherren meist mit Hilfe von Fremdkapital gegründet. Die Triebfeder der Entstehung dieser Industrieunternehmen und somit der Industrialisierung war jedoch die Entwicklung und der Einsatz der Dampfmaschine in den Produktionsstätten. Der gemeine Handwerker schaffte hingegen nur selten den Sprung vom Kleinunternehmer zum Industriellen (vgl. Brusatti 1979, S. 133). Durch diesen Trend wurde Mittelstand Ende des 19. Jahrhunderts neu definiert. Der Begriff Mittelstand entwickelte sich zum Sammelbegriff für alle Nicht-Handwerker und Nicht-Groß-Industriellen. Die vormals typische Abgrenzung zwischen Bürgertum und Fürsten verlor zunehmend an Bedeutung (vgl. Brunner et al. 2004, S. 74).
Die Wirtschaft im Deutschen Kaiserreich (1871–1918) war durch mehrere, z. T. parallele und ambivalente Entwicklungen geprägt. Vor allem die Gründerkrise 1873 und die infolgedessen auftretende Konzentration und Kartellierung vieler Industrien hatten eine zweigleisige Wirkung auf das Unternehmenswachstum. Zum einen nahm die Bedeutung des Mittelstands als summarischem Betriebstyp innerhalb von Volkswirtschaft und Politik spürbar zu. Die Interessen des Mittelstands konnten endlich auch politisch durchgesetzt werden. Auf der anderen Seite waren Tendenzen wie Konzentrationen, Fusionen, Umwandlungen in Aktiengesellschaften und Massenproduktion zu erkennen, die klar die Entstehung von Großbetrieben begünstigten. Deren Eigentümer und Führungskräfte erlangten bald gesellschaftlichen Aufstieg in die vorher vom Adel bestimmte Spitzenschicht. Um 1913 wurden rund 75 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Produktion von nur wenigen Unternehmen erbracht (vgl. Boch 2004, S. 37 ff.). Vor allem Erzeugnisse der elektrotechnischen und chemischen Industrie nahmen in Deutschland eine führende Stellung ein. Diese wachstumsstarken Sektoren wiesen eine starke Unternehmenskonzentration auf. Kleinbetriebe und Handwerk profitierten zwar teilweise von dieser Entwicklung, waren zu dieser Zeit aber eher unbedeutend und wurden nicht selten als hinderlich für die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet (vgl. Pfister 2008, S. 2 f.).
Zu Beginn der Weimarer Republik (1919–1933) war Deutschland durch eine sehr hohe Arbeitslosigkeit gezeichnet. Hohe Reparationszahlungen machten es dem Staat unmöglich, die Wirtschaft zu stützen. In dieser Zeit bildeten Meister aus dem Handwerksbereich den »Mittelstand«. Sie standen in Konkurrenz zu den großen Industrieunternehmen. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 sank das Einkommen des Mittelstands, die Arbeitslosigkeit stieg auf Rekordhöhe. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 beendete die Weimarer Republik (vgl. Haupt 1986, S. 218 ff.). Ähnlich wie die landwirtschaftlichen Produzenten büßte auch der Mittelstand in der Weimarer Republik zunächst Einfluss ein. Dieser Isolation versuchte man durch die zunehmende Gründung von einheitlichen Spitzenorganisationen zu begegnen. Während diese Zentralisierungsversuche im gewerblichen Mittelstand recht erfolgreich waren, blieben sie in Handwerk und Kleinhandel beinahe ohne Bedeutung. Einer der empirischen Befunde, der die geringere Bedeutung des Mittelstands in der Weimarer Republik im Vergleich zum Kaiserreich veranschaulicht, ist die Tatsache, dass die Reichshandwerksordnung am Widerstand von Gewerkschaften sowie Unternehmer- und Agrarverbänden scheiterte.
In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur (1933–1945) profitierten vor allem Großunternehmen und die zahlreichen neugegründeten halbstaatlichen Konglomerate von der zunehmenden Aufrüstung. Aufgrund des Arbeitskräftemangels und der Verdrängung durch Großunternehmen ging die Anzahl mittelständischer Betriebe, zu denen vermehrt auch Unternehmen mit familiären Beteiligungsverhältnissen gezählt wurden, weiter zurück. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war fast nur noch eine großwirtschaftliche Struktur zur Rüstungsproduktion vorhanden (vgl. Thamer 2004, S. 40 f.).
In der Nachkriegszeit bzw. den »Wirtschaftswunderjahren« (1949–1966) bildete sich ein »neuer Mittelstand«. Die Einführung der D-Mark und der sozialen Marktwirtschaft in den westlichen Besatzungszonen schufen ein sicheres Umfeld für die Entwicklung mittelständischer Unternehmen. Der Wiederaufbau Deutschlands bot Unternehmern zahlreiche Chancen. Sie konnten auf die trotz des Krieges noch vorhandenen Produktionskapazitäten zurückgreifen und so die große Nachfrage auf dem Weltmarkt befriedigen. Die sowjetische Besatzungszone wurde zur Deutschen Demokratischen Republik umgewandelt und alle Betriebe im Zuge der Einführung der Planwirtschaft verstaatlicht. Ein wirtschaftlich wirklich beachtenswerter Mittelstand war hier nicht existent.
Während der ersten Krise der Nachkriegszeit 1966 gewann der Mittelstand zunehmend an Bedeutung. Der Stellenabbau bei Großunternehmen konnte z. T. durch den Mittelstand abgefangen werden. Den Mittelstand bildeten damals die Eigetümerfamilien von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU).
Im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1989 galt es, ehemalige Staatsbetriebe der DDR zu privatisieren und in die gesamtdeutsche Wirtschaft einzugliedern. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Märkte nach Osten hin sah sich der Mittelstand zunehmender Internationalisierung ausgesetzt (vgl. Pfister 2008, S. 2 f.).
Der Mittelstandsbegriff hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, besonders die Merkmale der Familie und des Eigentümers gewannen immer mehr an Bedeutung. Diese Entwicklungen spiegeln sich in den heutigen Begriffsabgrenzungen wider.
1.2 Begriffsabgrenzungen i. e. S.
Der folgende Abschnitt verfolgt nicht die Absicht, einen umfassenden Überblick über alle vorhandenen Definitionen im Kontext von Mittelstand, KMU und Familienunternehmen zu geben. Es soll vielmehr, nach einer kurzen Betrachtung verbreiteter Herangehensweisen, eine für die deutsche Mittelstandsforschung sowohl theoretisch als auch praxeologisch sinnvolle Operationalisierung mittelständischer Unternehmen hergeleitet werden, die keineswegs den anderen Autorinnen und Autoren des Handbuchs eine Sicht vorgeben möchte. Der Mittelstand ist ein in Theorie und Praxis schillerndes Konstrukt, das sich durch weite Interpretationsspielräume auszeichnet und in dessen Kontext es wohl weder »richtig« noch »falsch« geben kann (vgl. Reinemann 2011, S. 2 ff.). Die ...