Jacques Lacan
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Jacques Lacan

Eine EinfĂŒhrung fĂŒr die therapeutische Praxis

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Jacques Lacan

Eine EinfĂŒhrung fĂŒr die therapeutische Praxis

About this book

Die Psychoanalyse nach Jacques Lacan ist im deutschsprachigen Raum zwar in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Kontexten prĂ€sent, ihre klinische Relevanz ist demgegenĂŒber jedoch viel weniger klar und wird kaum diskutiert. Dieses Buch widmet sich zentralen Themen der psychoanalytischen Klinik, die auch fĂŒr Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie großes Gewicht haben: Übertragung, Angst, VorgesprĂ€che sowie Neurose, Perversion und Psychose. DarĂŒber hinaus wird diskutiert, ob auch der Begriff "Borderline" einen Platz in einer an Lacan orientierten Diagnostik hat. Schließlich wird eine von Lacan und Dolto inspirierte psychoanalytische Arbeit mit Kindern vorgestellt.

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Information

Year
2017
Print ISBN
9783170320611
eBook ISBN
9783170320635
Edition
1
 
 

1

Das GlĂŒck der Ruhe opfern

Birgit Meyer zum Wischen

Freud schreibt im Unbehagen in der Kultur1 vom GlĂŒck der Ruhe. Er identifiziert dort das Programm des GlĂŒcks mit dem Lustprinzip und stellt das GlĂŒck der Ruhe in den Kontext von Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen und Abwendung von der Außenwelt. Exemplarisch fĂŒr das dazu notwendige Ertöten der Triebe und das Aufgeben aller anderen TĂ€tigkeiten fĂŒhrt er Intoxikation und Yogapraxis, also Askese, an. Diese sollen Beispiele dafĂŒr sein, wie man das GlĂŒck der Ruhe erwerben kann. Ein Zitat aus dem Unbehagen: »Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nĂ€chstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: das GlĂŒck, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe. Gegen die gefĂŒrchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man diese Aufgabe fĂŒr sich allein lösen will. Es gibt freilich einen anderen und besseren Weg, indem man als ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft mit Hilfe der von der Wissenschaft geleiteten Technik zum Angriff auf die Natur ĂŒbergeht und sie menschlichem Willen unterwirft. Man arbeitet dann mit Allen am GlĂŒck Aller.«2 Soweit Freud.
Das GlĂŒck der Ruhe ist bei Freud also ein einsames, passives, und damit sicher nur ein sehr eingeschrĂ€nktes GlĂŒck. Der Asket opfert also eher der von ihm angestrebten Ruhe das GlĂŒck. Umgekehrt liegt nahe, dass man, um eine Möglichkeit auf GlĂŒck im eigentlichen Sinn zu haben, das GlĂŒck der Ruhe opfern muss, weil man sonst immer nur Ruhe, Triebstagnation, hĂ€tte, ohne GlĂŒck. Lacan hat sich mit der logischen Struktur des vel, des Oder, beschĂ€ftigt, die hier ins Spiel kommt.3 Es ist die Struktur des Subjekts des Unbewussten schlechthin. Dieses besondere vel nennt Lacan ein vel der Entfremdung. Die Wahl zwischen den zwei Termen, also GlĂŒck oder Ruhe, fĂŒhrt dazu, dass man immer denselben eliminiert, egal welchen man wĂ€hlt. Die Konsequenz ist ein »Weder das eine, noch das andere«. Die Wahl der Ruhe lĂ€sst nur ein sehr beschĂ€digtes GlĂŒck ĂŒbrig, die Wahl des GlĂŒcks zieht mit der Ablehnung der Ruhe ein Verfolgen der sehr ungewissen GlĂŒcksmöglichkeiten in der Beziehung zu den anderen nach sich. Das GlĂŒck entzieht sich also in beiden FĂ€llen. Aber was dann? Die WĂŒrfel scheinen demnach von vornherein gefallen, aber es handelt sich trotzdem um keine rein willkĂŒrliche Wahl, sondern um eine von einem velle, einem Wollen, durchdrungene, eine Trennung gewissermaßen, die gewollt ist.
Sie kennen bestimmt die Kölner Sage von den HeinzelmĂ€nnchen, diesen kleinen MĂ€nnlein, die fleißig nachts im Verborgenen die Arbeit der schlafenden Handwerksleute tun, die wiederum gar nicht arbeiten, weil, eh sie erwachen, ihr Tagewerk schon gemacht ist.4 Die HeinzelmĂ€nnchen, die in der Sage ĂŒbrigens nackt sind, bekommen sie nie zu Gesicht, nur das Produkt ihres Schaffens: das fertige Haus, die gebackenen Brote usw.
Diese Bewegung des Auftauchens, Arbeitens und sich Wiederentziehens, die die HeinzelmĂ€nnchen uns vorfĂŒhren – erinnert das nicht an das Unbewusste, das mit den HeinzelmĂ€nnchen doch die Eigenschaft teilt, zu verschwinden, sobald man meint, es zu fassen zu kriegen?
Ein Aufklaffen, ein Pulsieren. In der psychoanalytischen Arbeit muss man immer auf TuchfĂŒhlung sein mit dieser Struktur des Unbewussten.
In Die Stellung des Unbewußten sagt Lacan: »Der Platz, um den es hier geht, ist der Eingang zu jener Höhle, hinsichtlich dessen Platon uns bekanntlich zum Ausgang fĂŒhrt, wĂ€hrend man sich vorstellt, den Analytiker eintreten zu sehen. Damit ist es jedoch nicht so einfach, denn es handelt sich dabei um einen Eingang, zu dem man gerade immer in dem Augenblick kommt, wo geschlossen wird [
].«5
Aber das heißt nicht, dass nichts zu machen ist. Die HeinzelmĂ€nnchen-Geschichte endet mit dem Einfall eines neugierigen Schneidersweibs, das Erbsen ausstreut, um die HeinzelmĂ€nnchen ins Schlittern zu bringen und einmal zu gucken, was sie da so treiben (und es gibt auch etwas zu sehen: Sie sind nackt!). Die kleinen MĂ€nnlein kommen also angetippelt, rutschen auf den Erbsen aus, die Schneidersfrau richtet die Lampe auf sie, was zur Folge hat, dass die MĂ€nnchen flĂŒchten, so schnell sie können: »Sie springt hinunter auf den Schall / Mit Licht: husch husch husch husch! – verschwinden All!«6
Jetzt ist es aus mit dem GlĂŒck der Ruhe, der Oblomowerei der Zimmerleute, BĂ€ckermeister, Fleischer, KĂŒfer und Schneider: »Man kann nicht mehr wie sonsten ruh’n, / Man muß nun Alles selber thun!« Ein Akt der Subjektivierung, der vermutlich sogar in direktem Zusammenhang mit der Motivation, der Wahl dieses Aktes steht: genau dieses und kein anderes Opfer. Die Schneidersfrau opfert das GlĂŒck der Ruhe fĂŒr sich und die anderen; die »schöne Zeit« kommt nicht wieder, aber sie hat durch ihre Neugier die HeinzelmĂ€nnchen zum Stolpern gebracht, immerhin: »Die gleiten von Stufen / Und plumpen in Kufen, / Die fallen, / Mit Schallen, / Die lĂ€rmen und schreien / Und vermaledeien!«
Ist nicht das Schneidersweib hier von so etwas wie dem Begehren des Analytikers geleitet? Da, wo es hapert, tut sich etwas vom Unbewussten auf, so Ă€hnlich formuliert es Lacan. Die HeinzelmĂ€nnchen-Geschichte ist – wie sie merken – eine richtige »Fall-Geschichte«, denn das Eingreifen des Schneidersweibs fĂŒhrt zu einem radikalen Schnitt; der Eingriff bringt etwas zu Fall: das GlĂŒck der Ruhe. Das ist ein gewaltsamer und sogar auch ein destruktiver Akt, wie auch in der Analyse die Kunstbildung des Symptoms zerstört wird. Aber es endet nicht alles, sondern es wird etwas verlagert, verschoben, umverteilt, nĂ€mlich die Arbeit, die einmal mehr zu tun ist.
Sowohl die intensive als auch die extensive psychoanalytische Arbeit glĂŒckt vielleicht dann nur, wenn es gelingt, dieses GlĂŒck und die damit verbundenen Sicherheiten zu opfern.
1     Freud, S. (1974/1930). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 419–506.
2     Freud, S. (1974/1930). Das Unbehagen in der Kultur, a. a. O., S. 435.
3     Vgl. Lacan, J. (1987/1964). Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim/Berlin, S. 220–224, sowie Lacan, J. (1991/1966). Die Stellung des Unbewußten. In Schriften II (3. Aufl.). Weinheim/Berlin, S. 205–230, hier S. 220 ff.
4     Kopisch, A. (1836). Die HeinzelmĂ€nnchen zu Köln. In: Gedichte. Berlin, S. 98–102. Weyden, E. (1826). Cöln’s Vorzeit. Cöln am Rhein, S. 200–202.
5     Lacan, J. (1991/1966). Die Stellung des Unbewußten, a. a. O., S. 216.
6     Kopisch, A. (1836). Die HeinzelmÀnnchen zu Köln, a. a. O.

2

Die Bedeutung der VorgesprÀche und die Zukunft der Psychoanalyse

André Michels

Die VorgesprĂ€che stehen am Anfang des psychoanalytischen Prozesses, den sie in seinem zeitlichen Ablauf mitbestimmen. Sie erlauben dem angehenden Analysanten, einen »Sinn« fĂŒr das zu entwickeln, was in ihm und durch ihn spricht, fĂŒr eine Determinierung seines Sprechens und Symptoms jenseits dessen, was er bis dahin ĂŒber sich in Erfahrung bringen konnte.
ZunĂ€chst gilt es seine Frage, d. h. Anfrage (demande) an den Analytiker zu artikulieren; ein Faktor, der umso aktueller ist, als sich viele Analytiker ĂŒber eine mangelnde Nachfrage beklagen. Ein Wiederaufleben des »Interesses« an der Psychoanalyse bedarf einer neuen Aufmerksamkeit fĂŒr das konstitutive Moment des Anfangens, aus dem die VorgesprĂ€che bestehen. Sie fĂŒhren die Dimension der Übertragung ein, welche die Psychoanalyse als einen zeitlichen Prozess instituiert und eine rationale Grundlage fĂŒr die Frage ihrer Beendbarkeit schafft.

Anfangen

Um welches Anfangen handelt es sich? Einige Analysen erweisen sich als nicht abschließbar, weil sie nicht richtig in Gang gekommen sind; andere kommen nicht voran, weil sie nicht wirklich angefangen haben. Die VorgesprĂ€che sind eine Herausforderung, sowohl an den Analysanten als auch an den Analytiker, der in seiner FĂ€higkeit gefordert wird, sich auf die Dimension des Anderen einzulassen, sie ĂŒberhaupt wahrzunehmen, die SingularitĂ€t eines Sprechens zu erkennen, d. h. anzuerkennen.
Welches ist sein Bezug zum Unbewussten? Inwiefern ist es ihm gelungen, das in der eigenen Analyse Erfahrene lebendig zu erhalten oder mit neuem Leben zu erfĂŒllen? Inwiefern ist er in der Lage, auf das Neue, AnfĂ€ngliche zu hören, das in jedem wahren Sprechen spricht? Besteht nicht das Besondere seiner Position darin, dass sie nie als gesichert gilt, schon gar nicht durch ein Diplom oder einen Studienabschluss? Von vornherein weiß er nicht, ob es ihm gelingen wird, in diesem bestimmten Fall, seinen Platz als Analytiker zu finden oder einzunehmen.
Das Spezifische der analytischen Praxis besteht darin, die Bedingungen eines Sprechens zu schaffen, das vom Unbewussten zeugt. Jene gilt es gegenĂŒber einem Umfeld zu behaupten, das sich durch seinen Anspruch auf »Wissenschaftlichkeit« auszeichnet, dem vorwiegend unter der Form des Positivismus’ sowohl die akademische Welt als auch eine breite Öffentlichkeit verfallen ist. Die Herausforderung an die Psychoanalyse ist umso grĂ¶ĂŸer, als durch die Psychotherapiegesetze in vielen westlichen LĂ€ndern eine neue Situation entstanden ist, in der ihre Eigenart zu verschwinden droht: Von vielen kaum noch erkannt, wird sie ihr vom Gesetzgeber weitgehend aberkannt, ja abgesprochen, und von den psychoanalytischen Instituten nicht zur GenĂŒge hervorgehoben.
In diesem ihm nicht unbedingt wohlwollend gesinnten Umfeld findet der Analytiker eine Orientierung zunĂ€chst in seinem eigenen Zugang zum Unbewussten, der Quelle, aus der er schöpft. Jede Analyse stellt ihn erneut vor die Frage, wie er selbst zur Analyse gekommen ist, wie er zum Analytiker geworden ist; ein Prozess, der sich fĂŒr ihn als nicht abschließbar erweist. Ist die Analyse nun »endlich«, »unendlich«7 oder beides zugleich? Wird die Analyse erst dadurch abschließbar, dass sie beim Analytiker nicht zum Abschluss kommt? Um welche Form des Schließens handelt es sich dabei? Ist es eine Funktion des Schnitts, der Skandierung, als welche Lacan die Deutung versteht?

Ent-lernen

Mit jeder Analyse wiederholt sich fĂŒr den Analytiker sein eigenes »Unterwegs«8 zum Unbewussten, zur Sprache, als einem ganz eigenartigen Sprechen. Es ist eine Wiederholung, die jedes Mal anders ist, die etwas Anderes bewirkt oder zu Wort kommen lĂ€sst, aus dem das Sprechen stammt. Es ist ein Wieder-holen, das sich nur in actu vollzieht, worin der »analytische Akt«9 besteht.
Der Analytiker ist, im wahren Sinn des Wortes, ein »AnfĂ€nger«, oder er versucht es zu sein. Besteht fĂŒr ihn der grĂ¶ĂŸte Anspruch nicht darin, den Bezug zum Anfangen, AnfĂ€nglichen aufrechtzuerhalten, d. h. das lĂ€ngst Bekannte anders oder wie neu zu hören, sehen, verstehen? ErwĂ€hnenswert ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung des polnischen Komponisten Krystof Penderecki, dass es ihn viel Zeit und Kraft gekostet habe, um von seinen Meistern zu lernen, dass es aber eine weitaus schwie...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort aus Sicht des stationÀren Klinikers
  6. Vorwort aus Sicht des niedergelassenen Psychotherapeuten
  7. 1 Das GlĂŒck der Ruhe opfern
  8. 2 Die Bedeutung der VorgesprÀche und die Zukunft der Psychoanalyse
  9. 3 Zur Theorie und Klinik der Neurosen
  10. 4 Fragmente einer Liebe – Zum Übertragungskonzept der Psychoanalyse bei Freud und Lacan
  11. 5 GrenzfĂ€lle – Struktur und SingularitĂ€t in der Klinik von »Borderlinern«
  12. 6 Psychose und Perversion
  13. 7 Kinderpsychoanalyse mit Lacans Konzeptualisierung
  14. Stichwortverzeichnis
  15. Personenverzeichnis
  16. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren