1 Einleitung und Überblick
Rainer Völker/Andreas Friesenhahn
Wir leben in einer Zeit der Digitalisierung. Digitalisierung im engeren Sinne meint zunächst »nur«, dass vormals analoge Informationen digital erfasst und gespeichert werden. Dieser Wandel schreitet seit der Jahrtausendwende rasant voran. Es wird geschätzt, dass heute ca. 95 Prozent aller Informationen digital zur Verfügung stehen; zu Beginn der 1990er Jahre waren es weniger als 5 Prozent.1 Durch neue technologische Möglichkeiten (enorm verkleinerte und kostengünstige Speichermedien, neue Applikationen im Internet, Cloud Computing etc.) stieg allerdings auch das weltweite Datenvolumen in gigantischer Weise. Fast 90 Prozent der heute weltweit vorhandenen Daten wurden erst in den letzten fünf Jahren generiert; es wird vermutet, dass das Datenvolumen in den nächsten Jahren um über 30 Prozent ansteigen wird.2
Aber die Digitalisierung hat nicht nur eine technologische Dimension. Im weiteren Sinne geht sie einher mit einer »digitalen Transformation«: Veränderungen in der Gesellschaft und Wirtschaft wurden und werden in erheblichem Maße durch die Digitalisierung ausgelöst. »Software is eating the world« – so lautete vor einigen Jahren eine Schlagzeile im Wall Street Journal.3 Das Aufkommen der sozialen Medien hat unser Kommunikationsverhalten teilweise grundlegend geändert. Wir können über das Internet und Suchmaschinen in Millisekunden die Informationen und Nachrichten erhalten, die wir benötigen und müssen nicht auf Fernsehnachrichten oder gar die Tageszeitung warten, laufen aber auch große Gefahr auf »Fake News« zu treffen.
Ganze Branchen fallen weg oder haben sich im Rahmen der Digitalisierung radikal gewandelt. Sinnbilder für eine solche Veränderung sind Amazon, Spotify oder Uber. Uber hat die Taxibranche verändert – ohne dass das Unternehmen selbst Taxis besitzt oder Taxifahrer beschäftigt. Mit einer entsprechenden digitalen Plattform und Software (»Apps«) hat sich das neue Geschäftsmodell in kürzester Zeit etabliert. Konzerne wie z. B. Google oder Facebook sind entstanden, die aufgrund ihrer Finanzkraft und ihrer technologischen Potenziale auch bestehende Märkte wie den Automobilmarkt betreten können.
Die Digitalisierung findet sich in allen betrieblichen Teilbereichen. In der öffentlichen Diskussion finden sich viele Beispiele für den Wandel der Produktion und Produktionslogistik – die »Smart Factory« wird postuliert.4 Schon lange haben sich »E-Commerce« und in vielen Branchen auch die »E-Supply Chain« etabliert.5 So verfügen – um nur ein Beispiel kurz zu skizzieren – heute alle großen Anbieter der Prozessautomatisierung sowie des Anlagen- und Maschinenbaus über ein voll integriertes Datenmanagement. Bei der Entwicklung hin zu »Predictive Maintenance« sind alle Prozessschritte integriert: Außendienstmitarbeiter und Remote-Zugriffe werden über die Systeme gesteuert; die Kunden selbst werden ebenfalls über alle Wartungsmaßnahmen ihrer Anlagen informiert.
Auch das Feld des Innovationsmanagements – die Generierung veränderter oder neuer Produkte, Dienstleistungen oder Geschäfte – ist von der Digitalisierung betroffen. Innovationsmanagement kann wie folgt kurz skizziert werden: Nach Auffassung von Beratern und manchen Wissenschaftlern gibt es zwei zentrale Prozesse in Unternehmen, die es zu beherrschen gilt. Die Durchführung des bestehenden Geschäfts und die Generierung von Neugeschäft. Würden Unternehmen keine Innovationen hervorbringen, würde das bestehende Geschäft durch verbesserte Produkte der Wettbewerber oder technologische Umbrüche bedroht. Es gilt, durch eigene Produkte, Dienstleistungen und neue Geschäftsmodelle Wettbewerbsvorteile zu erlangen und den Wert des Unternehmens zu steigern.
In diesem Sinne verstehen wir Innovationsmanagement als die Planung, Steuerung, Organisation und die Führung dieses Prozesses des Neugeschäfts. Innovationsmanagement ist damit funktionsbereichsübergreifend. So sind Forschung und Entwicklung, Marketing, Vertrieb, Produktion, Einkauf etc. tangiert. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Innovationsmanagement. Hier lassen sich vorab folgende Aspekte festhalten:
• Ganz wesentliche Bedeutung kommt neuen Geschäftsmodellen zu. Digitale Technologien – so wurde schon eingangs erläutert – revolutionieren ganze Branchen. Für Unternehmen ist es wichtig, die Auswirkungen neuer Technologien auf ihr Geschäftsmodell frühzeitig zu erkennen und es entsprechend anzupassen. Analog kann man sich durch neue Geschäftsmodelle auch einen Wettbewerbsvorsprung verschaffen.
• Neue digitale Technologien verändern auch Innovationsprozesse. Über 3D-Druck gibt es neue Möglichkeiten des Rapid Prototyping. Durch Kollaborationssoftware können räumlich verteilte, global agierende Innovationsteams effizient zusammenarbeiten. Unternehmens-Wikis bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, Wissen zu teilen und effektiver als bisher einzusetzen. Die Liste der digitalen Potenziale lässt unbegrenzt erweitern.
• Selbstverständlich schaffen die neuen digitalen Möglichkeiten ein kaum überschaubares Potenzial für innovative Produkte und Dienstleistungen. »Predictive Analysis«, »Apps« jeglicher Art oder Cloud Computing begründen neue Wertversprechen (»Value Propositions«), die auch bei den Herstellern klassischer Hardware (Automobilbranche, Maschinenbau, Medizintechnik, Chemie etc.) die Leistungsangebote revolutionieren.
• Die digitale Transformation nimmt aber nicht nur über digitale Technologien Einfluss auf das Innovationsmanagement. Die Entwicklung von Software ist auch eng mit dem Begriff Agilität und agile Organisation verbunden. Scrum als eine zentrale Methode agiler Softwareentwicklung hat auch sukzessive den Weg in die Entwicklungsabteilungen der Hardwareunternehmen gefunden. Ohnehin hat dort der Softwareanteil bei »Hardwareprodukten« wie z. B. Messgeräten oder Maschinen zugenommen. Aber auch die eigentliche Entwicklung von Hardwareteilen vollzieht sich bei einigen Unternehmen stärker aus Basis einer Scrum-Philosophie.
• Ebenfalls aus der Softwareentwicklung kommend sind Vorgehensweisen, die sogenannte »User Stories« bzw. »Use Cases« beinhalten. Im Prinzip handelt es sich dabei um Methoden, mit denen sehr flexibel Kundenanforderungen aufgenommen und Entwicklungsschritte angepasst werden können. Der Kunde im Fokus der Entwicklung – das ist auch ein Grundsatz bei der Design Thinking-Methode.
• Mit der Digitalisierung geht auch eine stärkere Integration der Außenwelt (»Ökosystem«) einher. Dies ist durch die digitale Vernetzung der Welt fast beliebig möglich. Der Grundgedanke von »Open Innovation«, der schon in den 1990er Jahren existent war, kann durch digitale Methoden richtig greifen.
• Schließlich erfordert die digitale Transformation Veränderungen bei der Organisation, der Führung und der Kultur eines Unternehmens. Schnelles und agiles Verhalten bei der Entwicklung ist nicht kompatibel mit starren und streng hierarchischen Organisationen. Agile Organisationsformen wie sie z. B. bei Unternehmen wie Spotify vorgelebt werden oder spezifische sogenannte Innovation Center, wie sie inzwischen bei einigen Konzernen eingerichtet wurden, kommen ins Spiel. Gerade weil in dynamischen Märkten für Produkte und Dienstleistungen keine Ziele im Detail »zementiert« werden können, gewinnen Visionen an Bedeutung. Visionen für neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäfte bilden den Fokus für agile Unternehmen und deren Innovationsteams.
Das Buch Innovationsmanagement 4.0 zeigt solche Entwicklungen anhand von Praxisbeispielen auf. Gleichermaßen wird in den Beiträgen auch erläutert, wie erfolgreich mit den neuen Herausforderungen umgegangen werden kann. Anhand von »Successful Practices« werden Erfolgsfaktoren dargestellt und gezeigt, wie Fallstricke vermieden werden können.
Bevor die genannten Beispiele in den Kapitel 3 bis 5 vorgestellt werden, werden im Kapitel 2.1 zunächst die Begriffe Innovation und Innovationsmanagement genauer definiert. Ähnlich wie das Supply Chain Management, das Qualitätsmanagement und andere funktionsbereichsübergreifende Managementgebiete ist auch das Innovationsmanagement »gereift«. Insofern kann ein bewährter Bezugsrahmen des Innovationsmanagements6 herangezogen werden. Mit dessen Hilfe kann dann auch gezeigt werden, welche Elemente des Bezugsrahmens von den neuen Herausforderungen betroffen sind und wo operative Anpassungen erforderlich sind. Dieser Ansatz lässt sich als Metamodell verstehen, in dem sich bestehende Innovationsmodelle wie der Stage-Gate-Prozess von Cooper einordnen lassen.7 Allerdings gilt es auch, diesen Ansatz in Anbetracht der neuen digitalen Herausforderungen zu erweitern.
Im Anschluss stehen Praxisbeispiele im Mittelpunkt: Sie werden nach den Bereichen »neue Geschäftsmodelle« (
Kap. 3), »Prozesse und Steuerung« (
Kap. 4) und »Kultur« (
Kap. 5) gegliedert. Wie oben erläutert, stellen verbesserte oder neue Geschäftsmodelle einen zentralen Aspekt der neuen Herausforderungen des Innovationsmanagements dar. Aus verschiedenen Blickwinkeln werden Vorgehensweisen, Erfolgsfaktoren und Hemmnisse bei Daimler, IBM und SAP dargestellt. In Kapitel 4 werden die bereits erwähnten operative Methoden wie Scrum, User Stories oder allgemein der agile Ansatz erläutert. Kapitel 5 beschreibt schließlich, welche Rolle kulturelle Aspekte beim Innovationsmanagement in der digitalen Welt spielen. Abgerundet und ergänzt werden alle Kapitel durch praxisorientierte Beiträge aus der Wissenschaft.
Literatur
Andreesen, M. (2011): The Wall Street Journal. Online verfügbar unter https://www.wsj.com/articles/SB10001424053111903480904576512250915629460, zuletzt geprüft am 20.08.2011.
Bundesministerium für Bildung und Forschung (2017): Industrie 4.0. Online verfügbar unter https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html, zuletzt geprüft am 10.07.2017.
Cooper, R. G. (2010): Top oder Flop in der Produktentwicklung: Erfolgsstrategien: Von der Idee zum Lauch, Weinheim.
Gassmann, O./Sutter, P. (2016): Digitale Transformation im Unternehmen gestalten, München.
Hauschildt, J./Salomo, S. (2011): Innovationsmanagement, 5. Auflage, München.
Hilbert, M./López, P. (2011): The World’s Technological Capacity to Store, Communicate and Compute Information. Science 332 (6025), S. 60-65.
Völker, R./Thome, C./Schaaf, Holger (2012): Innovationsmanagement. Bestandteile - Theorien – Methoden, Stuttgart