1 Beratung und Heilpädagogik: Theoretische Zugänge
In diesem einführenden Kapitel werden in drei Schritten die relevanten Beziehungen zwischen Beratung und Heilpädagogik dargestellt.
- Zuerst wird eine kurze Einführung in die Heilpädagogik erfolgen. Statt von der Geschichte der Heilpädagogik auszugehen, werden hierbei diejenigen heilpädagogischen Grundgedanken skizziert, welche für die unterschiedlichsten Beratungsformen in den heilpädagogischen Handlungsfeldern relevant sein können. Es geht darum, die allgemeinen heilpädagogischen Grundsätze des dialogischen und personalen Zugangs zu Menschen (mit Verweisen auf systemische und konstruktivistische Bedingtheiten) mit pragmatischen Orientierungen der beraterischen Vorgehens- und Handlungsweise zu verknüpfen.
- In einem zweiten Punkt werden dann die Grundlagen zur Beratung dargestellt. Dieses erfolgt in einer recht allgemeinen Form, so dass (im weiteren Text dieses Buches) hieran anknüpfend unterschiedliche Betrachtungen der Beratungsaufgabe in der Heilpädagogik erörtert werden können.
- In einem dritten kurzen Punkt wird dann die Relevanz der Beratung in und für heilpädagogisches Handeln bilanziert.
Abb. 2: Kapitel 1 – Inhaltliche Struktur
1.1 Heilpädagogik: Eine kurze Einführung
In einem dreistufigen Verfahren werden im Folgenden die heilpädagogischen Grundsätze in Bezug auf das Themen und Handlungsfeld der Beratung skizziert:
- Zuerst werden grundlegende heilpädagogische Themen vorgestellt, so wie sie sich aus der Geschichte der Heilpädagogik ergeben haben und aktuell relevant sind.
- Anschießend werden die heilpädagogischen Grundannahmen formuliert, welche für die Betrachtung der Beratungsaufgabe hochrelevant erscheinen. Hierbei wird es vor allem um eine Vernetzung zwischen der Subjektbezogenheit in der Heilpädagogik (also den eigentlichen Fokus in beratenden Prozessen) mit systemischen Ebenen und Elementen gehen, um sowohl die personalen als auch die dialogischen Aspekte der beratenden Prozesse in der Heilpädagogik in den Fokus zu nehmen.
- Schließlich wird auf das professionelle beratende Tun im Kontext der Heilpädagogik eingegangen, wobei vor allem die Vernetzung von Sprechen und Handeln hervorgehoben wird.
In der Geschichte der Heilpädagogik kam es seit den ersten Gründungen heilpädagogischer Einrichtungen immer zu einer Vernetzung von pädagogischen, also auf das Subjekt bezogenen, und weit über dieses Feld hinausgreifenden Ansätzen. Auch die Handlungsmuster der Beratung weisen solche Vernetzungen auf (vgl.: Bundschuh, 2010, 19 – 32). Das »klassische« heilpädagogische Handeln mit einem Klienten bzw. einer Klientel sowie die auf diese Klientel bezogenen Ansätze (z. B. die Umfeldarbeit, die Arbeit mit den Eltern, die Arbeit mit weiteren Bezugssystemen wie Lehrern, Erzieherinnen etc.) haben schon immer unterschiedlichste Anteile von beratenden Prozessen beinhaltet. Eine Heilpädagogik, welche sich lebenslauforientiert mit unterschiedlichen Abschnitten des menschlichen Daseins im Verlauf des Lebens beschäftigt, hat natürlicherweise immer auch auf unterschiedlichste Beratungsnotwendigkeiten zu reagieren und hierzu Beratungsmodi anzubieten. Dieses kann schon in der Beratung werdender Eltern (z. B. in Erziehungsberatungsstellen) geschehen, erstreckt sich über beratendes Tun in den Kindertagesstätten, in – so ist zu hoffen – inklusiven Schulformen, bis hin zu beraterischer Unterstützung im Kontext von Wohnen und Arbeiten bei erwachsenen Menschen mit Behinderungen. Im Bereich der Arbeit mit alten Menschen sind Beratungsprozesse ebenfalls in hohem Maße von Nöten (vgl.: Schäper et al., 2010, 96 – 108).
Es erscheint relativ bedeutungslos, ob in den Beratungsfeldern und Kontexten der Heilpädagogik unterschiedliche Bezeichnungen für die professionelle Unterstützung von Menschen in beeinträchtigter Lebenslage benutzt werden (z. B. Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik etc.).
Bundschuh bilanziert die Diskurse um die unterschiedlichen Bezeichnungen der helfenden Berufe/Professionen wie folgt: »Heilpädagogik steht im Dienste des in Not geratenen ... Menschen und seines Umfeldes, des pädagogischen Geschehens schlechthin, orientiert sich an den speziellen Bedürfnissen von ... [Menschen], die im Rahmen von Erziehung und Unterricht (und Bildung; HG/PO) traditionell als ›Lern-Leistungs-Verhaltensgestört‹ oder ›behindert‹ bezeichnet werden ... Dabei sei explizit auf die gegenwärtig sich verdichtende Diskussion der Frage nach der Integration und Inklusion hingewiesen ... Im Kontext ökologischer Denkweisen orientiert sich Heilpädagogik an einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit und seiner Welt und schließt die Beziehungs- und Erziehungsverhältnisse ein« (Bundschuh, 2010, 41). Folglich wird hier auf die Menschen in schwierigen Situationen geblickt, die im Kontext lebenslauforientierter heilpädagogischer Unterstützung auch beraterische Hilfe benötigen, um ihr Dasein gut zu gestalten und zu leben.
Gerade die Themen der Integration und Inklusion [welche im Kontext dieses Bandes nicht explizit differenziert verfolgt werden können] stellen sich dennoch in der Heilpädagogik als »Herausforderung und ungelöstes Problem« (Bundschuh, 2010, 69) dar. Integrative und inklusive Prozesse entwuchsen u. a. auch den (seit langer Zeit in der Heilpädagogik »beheimateten«) Konzepten wie z. B. Normalisierungsprinzip, Empowerment-Prinzip, Selbstbestimmungsprinzip sowie dem Verlangen nach Deinstitutionalisierung (heil-)pädagogischer Organisationen. Sie werden als grundlegendes Anliegen des heilpädagogischen Handelns in nahezu allen heilpädagogischen Arbeitsfeldern verfolgt. Ihre Umsetzung schließt die beratende Aufgabe zwangsläufig ein, denn alle Beteiligten betreten ein für sie noch ziemlich unbekanntes und folglich auch verunsicherndes Gebiet. In diesen beratenden Prozessen hat die agierende Heilpädagogin bzw. der agierende Heilpädagoge sowohl die integrative Sichtweise von Pädagogik, besser noch die pädagogische Sichtweise von Integration und Inklusion zu verwirklichen, als auch den zu beratenden Menschen im Kontext dieser Beratungsprozesse seinen eigenen Weg suchen und finden zu lassen.
Dieser sehr apodiktisch formulierte Satz bezieht sich nun darauf, dass beratende Prozesse mindestens doppelgleisig durchzuführen sind: Auf der einen Seite als Prozesse, welche das Subjekt in den Mittelpunkt dieser Beratungsmöglichkeiten setzen, auf der anderen Seite als Veränderung der Umfeldmodalitäten und -geschehnisse, welche im Hinblick auf Integration und Inklusion nicht nur zu überprüfen, sondern auch zu verändern sind. Dieser Zwiespalt in der Integrations-/Inklusionsthematik ist kaum auflösbar, da Heilpädagogik sowohl das Individuum im Blick hat als auch der Gesellschaft gegenüber verpflichtet ist. Eigentlich müsste die Heilpädagogik imstande sein, die Naht- und Verbindungsstellen zwischen Gesellschaft und Individuum durch Beratungsprozesse wahrzunehmen und zu verändern, gleichwohl dies sehr schwierig ist. Eine mögliche Orientierung in dieser schwierigen Situation kann in der Berücksichtigung beider Seiten der Medaille liegen – sowohl der subjektbezogenen Grundlegungen (hier im Sinne einer humanistischen Betrachtung) als auch der umweltbezogenen Ansätze (hier im Hinblick auf systemisch-konstruktivistische Begründungen von Beratung). Dadurch kann durchaus eine tragfähige und nützliche Brücke gespannt werden zwischen einer individuumszentrierten und einer auf das Öko- und Sozialsystem bezogenen Erfüllung der Beratungsaufgabe in der Heilpädagogik.
In der Begründung und in der Ent-Äußerung der Beratungsprozesse der Heilpädagogik finden also unterschiedlichste Begründungsmuster zusammen, welche handlungsorientiert zu strukturieren und zu gestalten sind: Auf der einen Seite die Wahrnehmung einer dialogischen Beziehung zwischen Subjekten, auf der anderen Seite die Veränderungsmodi, welche auf die Subjekt-Umwelt-Beziehung aller beteiligten Handlungspartner hinweisen, im Dritten die Umwelt als solche, in der die Beratung stattfindet und auf welche diese immer wieder zurückgebunden wird. Diese grundlegende Dichotomie bzw. dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ich und Welt, welches aus einer Wahrnehmung dieser beiden Pole permanent entsteht, stellt eine »existentielle Frage« (Kobi, 2004, 25) dar. Sie lässt sich für die Beratung in der Heilpädagogik wie folgt modifizieren: Wie und auf welchem Hintergrund werden Beratungsprozesse im Rahmen der Heilpädagogik per definitionem erzeugt?
Grundlegend ist davon auszugehen, dass das »Subjekt als Ausgangspunkt« (Kobi, 2004, 25) zu verstehen ist. Hierzu Kobi ausführlich: »Vor jedem Etwas steht ein Jemand. Was auch immer festgestellt oder negiert, getan, gesagt, gefragt oder beantwortet wird, hat jemand per definitionem ... als Sein oder Nichtsein, als Tun oder Lassen, als Aussage, Frage oder Feststellung erlebt, erkannt, bedeutet und dadurch zur Existenz gebracht. Das Subjekt und seine Gestaltungs- und Erkenntnisbereiche stehen in gegenseitiger Abhängigkeit« (Kobi, 2004, 25/26). Im Bereich einer heilpädagogisch verorteten Beratung geraten somit immer zwei Subjekte aneinander und beziehen sich auf eine gemeinsam zu gestaltende – besser: schon im vornhinein gemeinsam konstruierte und aneinander abgeglichene – Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wiederum stellt sich als »rahmenabhängiges Konstrukt« (Kobi, 2004, 26) dar.
Das, was jemand als Problem/als sein Thema/als Anfrage an Beratungsprozesse wahrnimmt, ist seine Idee von Welt und sein Standpunkt, aus welchem er genau diese Welt als Leidender, nicht Handelnder, problembezogener, suchender und fragender Mensch wahrnimmt. Im Bezug auf die Rolle der Beraterin bzw. des Beraters gilt Ähnliches: Auch sie bzw. er repräsentiert, d. h. vergegenwärtigt sich seine eigene Welt (vgl.: Kobi, 2004, 27), und zwar über die Art und Weise, wie sie bzw. er Realität als Subjekt erfahren, erlebt, ausgestaltet und somit konstruiert hat. Berater und zu beratende Person schaffen sich somit immer ein Konstrukt, in das sie eine ganz bestimmte Form von Wirklichkeit einarbeiten, indem sie schon im vornhinein ihre Perspektive von An-Frage und Antwort einweben. Diese Wirklichkeit entsteht immer in sich verändernden dynamischen, durch die Relation der beteiligten Handelnden bestehenden und konstruktiven wechselseitigen Prozessen: »... wirklich ist, was wirkt und als subjekthaftes Betroffensein und Betreffnis in Erscheinung tritt ... Unsere Frage lautet demnach nicht: Wie ist eine an sich seiende Realität (zum Beispiel eine Behinderung) beschaffen, der wir uns entgegen zu stellen haben? – Sondern: Woraus bestehen unsere Subjektwelten, was sind deren Inhalte und wie verlaufen die Sinnbänder, welche diese bündeln? Worin zeigen sich inhaltliche und strukturelle Differenzen« (Kobi, 2004, 28)?
Gerade diese inhaltlichen und strukturellen Unterschiede sind es, welche Menschen mit und ohne Behinderung in Beratungsprozesse hineinführen, mehr noch: Diese Beratungsprozesse finden häufig an den Grenzen und an den Schnittstellen dieser inhaltlichen strukturellen Differenzen, die sich immer vor dem Hintergrund selbst konstruierter Wirklichkeitsprozesse ereignen, statt. Die grundlegenden Kontexte, in denen somit Heilpädagogik stattfinden kann, sind begründet in einer relativen Wirklichkeit, in welcher immer wieder Entscheidungen darüber Aussagen begründen, was pädagogisch getan werden soll, bzw. diese bestehen in einer relationalen pädagogischen Begründung, in welcher Erziehung durch die Beziehung der Handlungspartner zur Realität wird.
In dieser Dynamik bzw. vor diesem Hintergrund wird Beratung in der Heilpädagogik konkretisiert. Sie ist relativ, also abhängig davon, was alle Handlungspartner in diesem Kontext beitragen, und sie ist relational, d. h. entsteht über die Beziehungsgestaltungen aller Handlungspartner im Kontext von Beratung. Mehr noch: Das, was Kobi grundlegend von der erzieherischen Gestaltung im Rahmen der Heilpädagogik ausgesagt hat, kann auch für die Beratung gelten: Sie entsteht an den Schnittpunkten von Subjektivität, Normativität und Objektivität:
- subjektiv ist Beratung deswegen, weil all das, was ein Mensch, der in den Beratungsprozess hineinkommt, mitbringt, als seine Subjektivität, als seine Befindlichkeit, als seine Problematik zu respektieren ist;
- normativ deshalb, da durch eine Definition sowie durch Wertungen und Haltungen des Umfeldes und der Gesellschaft Fragestellungen und Probleme (wie aber auch Krankheits- und Leiderfahrungen) ihre Bedeutung und ihre Erfahrung von Sinn erhalten;
- objektiv aus dem Grund, da all diese Prozesse immer nach ganz bestimmten charakterisierten Merkmalen wahrgenommen, ja sogar diagnostiziert werden können (vgl.: Kobi, 2004, 33).
Demnach changiert heilpädagogische Beratung immer zwischen unterschiedlichen subjektiven, normativen und objektiven Ebenen, also muss man sich von einer linearen Erklärungsform für die jeweiligen Beratungsnotwendigkeiten verabschieden und auf eine Handlungsweise beziehen, in welcher Beratungsprozesse wechselseitig erzeugt werden. Das gilt für alle heilpädagogischen Handlungsfelder – ob sie nun lebenslauf- oder lebensortorientiert gestaltet werden.
Ebenfalls mit Bezug auf Emil Erich Kobi (vgl.: 2004, 413 – 433) ist die heilpädagogische Beratungsaufgabe ein bilateraler Prozess und folglich immer in einem dialogischen Kontext zu verstehen. Dies bedeutet: »Beziehungen ›konjugieren‹ lehren und lernen, mich und den ... anderen ... in wechselnden Konstellationen erfahren und deuten, sich und andere ... ›deplatzieren‹, d. h. unter verschiedenen Perspektiven definieren und entdecken und damit eine Grammatik des sozialen Umgangs entwickeln« (Kobi 2004, 414/415).
Berat...