Schulabsentismus
Heinrich Ricking
Fallbeispiel
Dennis ist ein 14-jĂ€hriger Jugendlicher, der Ă€uĂerlich in vielerlei Hinsicht dem Bild heutiger Jugendlicher entspricht. Er ist eher zurĂŒckhaltend und fĂŒhlt sich nur bei wenigen Freunden aufgehoben. Er lebt mit seinen leiblichen Eltern und zwei Ă€lteren BrĂŒdern in einem Reihenhaus am Stadtrand. Seine Lebenssituation ist schon seit Monaten angespannt. Sowohl in der Schule als auch zu Hause gibt es regelmĂ€Ăig Probleme. Die Mutter beklagt, dass er abends oft verspĂ€tet und selten vor 22 Uhr zu Hause ist. Am Wochenende kommt er stets spĂ€t, oft erst im Morgengrauen. Die Eltern sind angesichts seines Verhaltens verzweifelt und wissen sich nicht mehr zu helfen. Sie merken, dass Dennis ihnen erzieherisch entglitten ist; ihre Vorgaben werden von ihm nicht respektiert, Strafen nimmt er nicht mehr an und ignoriert jede Begrenzung. Vater und Sohn reden kaum mehr miteinander. Wenn er von seiner Mutter mit dem Fehlverhalten konfrontiert wird, entzieht er sich oder wird aggressiv. Aus Sicht der Eltern ist die Clique an Dennisâ Verhalten schuld. Da sie mit keinem ihrer Kinder derartige Probleme hatten, ist fĂŒr sie klar, dass er von anderen »auf die schiefe Bahn« gebracht wird. Dennis verbringt oft den gesamten Tag in der Clique, pflegt keine Hobbys, möchte auch keinen Sport oder Ăhnliches machen. Er raucht, trinkt auch gelegentlich Alkohol und hatte bereits mehrfach aufgrund von Delikten Kontakt mit der Polizei. So kam es im Rahmen einer PrĂŒgelei zu einer Anzeige wegen Körperverletzung wie auch wegen Fahrraddiebstahls.
Er befindet sich nun in der Klasse 6 der Gemeinschaftsschule mit sehr viel jĂŒngeren MitschĂŒlern bei der Klassenlehrerin Frau Rost. Sie macht deutlich, dass Dennisâ Anwesenheitsquote von ca. 60 % inakzeptabel ist und er mit seinen gegenwĂ€rtigen Verhaltensmustern obendrein den Unterricht der Klasse beeintrĂ€chtigt und seinen Lernfortschritt sowie den der MitschĂŒler behindert. Problematisch sei auch sein verdeckt gewalttĂ€tiges Verhalten, das bei MitschĂŒlern Angst erzeuge, die verbalen Aggressionen gegen MitschĂŒler und LehrkrĂ€fte mit drastischen Beleidigungen sowie sein provokatives Brechen von Klassen- und Schulregeln. Nicht weiter hinzunehmen sei zudem seine Verweigerungshaltung gegenĂŒber schulischen Anforderungen, wie das passive »AbhĂ€ngen« in der Klasse und seine demonstrative Nichtbeteiligung. EinzelgesprĂ€che haben bisher zu keinem deutlichen Erfolg gefĂŒhrt.
Schulabsentismus umfasst in allen Schulformen und JahrgĂ€ngen auffindbare Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen, die oft in problematische Lebens- und LernbezĂŒge eingebunden sind. Dabei ist von einem betrĂ€chtlichen Anteil, ca. 3â5 %, der Schulpflichtigen auszugehen, die bereits deutlich erkennbare und z. T. verfestigte schulabsente Verhaltensmuster aufweisen. Die Akzeptanz und Befolgung der Schulpflicht ist somit nicht selbstverstĂ€ndlich und bei allen Kindern und Eltern vorauszusetzen. Das gelegentliche Aussetzen des Schulbesuchs, selten und in geringem zeitlichen Umfang, unterlĂ€uft einem groĂen Teil der SchĂŒlerschaft und wird vornehmlich als Bagatelle oder vorĂŒbergehende und entwicklungstypische Randerscheinung im Kontext pubertĂ€ren Autonomiestrebens interpretiert. Schwierig wird es, wenn sich die Fehlzeiten hĂ€ufen, in der schulischen Leistungsbilanz niederschlagen, weitere problematische und eskalierende Verhaltensmuster damit einhergehen und generell die psycho-soziale Entwicklung des Heranwachsenden gefĂ€hrdet ist. Daher sollte ein pĂ€dagogisches Ziel sein, der PrĂ€vention von Schulabsentismus einen hohen Stellenwert einzurĂ€umen, schulaversive Entwicklungen möglichst zu verhindern und desintegrative Verhaltensmuster nicht voll wirksam werden zu lassen (Michel, 2005; Ricking, 2007).
Die GrĂŒnde dafĂŒr liegen auf der Hand: Die mangelnde Teilhabe an schulischer Bildung erschwert ein integriertes Leben in der Gesellschaft eminent. SchĂŒler, die trotz Schulpflicht nur unregelmĂ€Ăig oder gar nicht mehr am Unterricht teilnehmen, verschlechtern zumeist ihre Lebensperspektiven deutlich (Ricking & Schulze, 2012). Viele erreichen keinen Abschluss und keine Ausbildung, zeigen hĂ€ufig delinquentes Verhalten und bewegen sich nachschulisch oft ins soziale Abseits. Schulische Desintegration bleibt insofern kein schulisches Problem, denn ihr folgt mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit die berufliche und die soziale RandstĂ€ndigkeit. Es wundert insofern nicht, dass Schulabsentismus mittlerweile auf allen Ebenen der Bildungspolitik und -verwaltung als schulisches und gesellschaftliches Problem erkannt worden ist.
1 Formen und Ursachen
Die rechtliche Voraussetzung dafĂŒr, dass SchulversĂ€umnisse ein Problem darstellen, bildet die Schulpflicht. Erstmals schrieb die Weimarer Verfassung 1919 die allgemeine Schulpflicht fĂŒr ganz Deutschland fest. Durch die Kulturhoheit der LĂ€nder in Deutschland ist sie heute in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Darunter wird dort die Verpflichtung von Kindern und Jugendlichen verstanden, ab dem sechsten Lebensjahr zehn Jahre lang eine staatliche oder staatlich anerkannte Schule zu besuchen (i. d. R. neun Jahre allgemeine Schulpflicht sowie ein Jahr Berufsschulpflicht oder bis zur Beendigung der Ausbildung). Dieses impliziert auch Lehrer- und Elternpflichten, z. B. die, den Schulbesuch des Kindes zu ĂŒberwachen und es zum Schulbesuch anzuhalten. Der mit der Schulpflicht einhergehende deutliche Eingriff in die freiheitlichen Grundrechte der jungen StaatsbĂŒrger wird mit Blick auf das Bildungsziel gewĂ€hrend in Kauf genommen. Die Schulpflicht als Fundament des SchulverhĂ€ltnisses wurde in allen bisher ergangenen juristischen Urteilen als unbedingte Zwangsnorm bestĂ€tigt. Aufgrund dieser im Vergleich mit anderen westlichen LĂ€ndern (wo zumeist eine Bildungs- oder Unterrichtspflicht herrscht, die auch auĂerhalb der Schule erfĂŒllt werden kann) rigiden Haltung hierzulande ist es Eltern grundsĂ€tzlich verwehrt, ihre Kinder dem Zugriff der Schule zu entziehen. In den USA hingegen ist die Unterrichtung zu Hause (»home schooling«) gang und gĂ€be und betrifft etwa 5 % der dortigen SchĂŒlerschaft.
Seit der Schaffung der Schulpflicht und ihrer administrativen Durchsetzung gab es in der Vergangenheit stets Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die dennoch nicht am Unterricht teilnahmen. Manche waren nach Ansicht der Eltern Zuhause nicht abkömmlich, wurden fĂŒr Arbeiten gebraucht und entsprechend zurĂŒckgehalten. FĂŒr andere zĂ€hlte die Schulpflicht nicht. Kinder mit geistiger oder mehrfacher Behinderung wurden lange fĂŒr bildungsunfĂ€hig gehalten und können erst seit wenigen Jahrzehnten von einem schulischen Angebot profitieren. Die gesellschaftliche Rahmung des allgemeinen Bildungsgebots ist in stetem Wandel und hat sich seit den ersten Schulpflichtgesetzen erheblich geĂ€ndert.
Schulabsentismus lĂ€sst sich hinsichtlich der Ătiologie bzw. der Bedingungskonstellationen in drei Formgruppen,
⹠das SchulschwÀnzen,
âą die angstinduzierte Schulverweigerung und
âą das ZurĂŒckhalten,
untergliedern, wobei Mischformen nicht selten auftreten (vgl. Ricking, Schulze & Wittrock, 2009).
Spezifisch fĂŒr das SchulschwĂ€nzen ist das Aussetzen von Unterricht zugunsten einer angenehmeren AktivitĂ€t, v. a. im auĂerhĂ€uslichen Bereich wĂ€hrend des Vormittags, oft im Kontext einer betrĂ€chtlichen Schulaversion, die geprĂ€gt ist von negativen, abweisenden Gedanken und GefĂŒhlen gegenĂŒber der Schule (Schulze & Wittrock, 2008). Betroffene SchĂŒler meiden den Unterricht, treffen sich oftmals mit Gleichgesinnten und nutzen die Zeit am Vormittag fĂŒr diverse AktivitĂ€ten. Leistungsthematische Erfahrungen (z. B. schlechte Noten, Klassenwiederholungen), soziale Akzeptanzprobleme, Schulstrafen und -ausschlĂŒsse wie auch ein konfliktreiches Interaktionsgeschehen kennzeichnen oftmals die schulische Lerngeschichte der Betroffenen (Baier, 2012). Diese ist vielfach Teil einer Multiproblemlage, die im familialen Bereich durch Bildungsdistanz, Erziehungsinsuffizienz, mangelnde Aufsicht und UnterstĂŒtzung sowie unzureichende sozio-emotionale Haltestrukturen markiert ist (Dunkake, 2007).
In vielen FÀllen des SchulschwÀnzens treten Probleme hinzu, die verschÀrfend wirken und pÀdagogische Lösungen erschweren (Oehme, 2007). Es geht dabei v. a. um jugendliche Delinquenz, aggressive Konfliktregelung und Drogenmissbrauch (Baier, 2012).
»Mit der HĂ€ufigkeit des unentschuldigten Fernbleibens von der Schule steigt die Wahrscheinlichkeit fĂŒr delinquentes Verhalten [. . .]. WĂ€hrend fĂŒr Jugendliche mit einem regelmĂ€Ăigen Schulbesuchsverhalten die KriminalitĂ€tsbelastung bei 39,7 % liegt, erfolgt mit dem SchulschwĂ€nzen ein Anstieg um 30,5 Prozentpunkte auf 70,2 %.« (Frings, 2007, 215)
Stamm (2007) sieht im SchulschwÀnzen den wichtigsten Faktor zur Vorhersage von KriminalitÀt und abweichendem Verhalten im Erwachsenenalter.
Angst wird allgemein als Reaktion auf eine subjektiv erlebte Bedrohung definiert und gilt als gewichtiges Motiv der zweiten Formgruppe schulbezogenen Meidungsverhaltens. Die Schulpflichtigen haben aufgrund ihres Angsterlebens immense Schwierigkeiten, den Unterricht zu besuchen, und ein starkes BedĂŒrfnis nach Sicherheit, die sie i. d. R. nur im familialen Bereich finden. Sie klagen oft ĂŒber Krankheitssymptome (u. a. Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen) und somatisieren emotionale Problemlagen (Kearney, 2007). Dabei sind konkrete FurchteinflĂŒsse (z. B. Mobbing durch MitschĂŒler oder Lehrer), erfahrungsbedingte VersagensĂ€ngste wie auch emotionale Störungen (z. B. im Rahmen von Trennungsangst) hervorzuheben, bei denen sich zwanghaftes und langandauerndes Meidungsverhalten entwickeln kann.
Trennungsangst besteht dann, wenn sich das Kind nicht von der Hauptbezugsperson trennen kann und so eine Verweigerungshaltung gegenĂŒber der Schule entwickelt. Das zentrale Motiv des Kindes, oft innerhalb einer tiefen emotionalen Verunsicherung, besteht darin, z. B. der Mutter könne wĂ€hrend der Abwesenheit etwas Ernstes zustoĂen. So suchen die hiervon betroffenen SchĂŒler keine auĂerschulische Zerstreuung, wie beim SchulschwĂ€nzen, sondern möchten in der Sicherheit des Heimes bei ihren Eltern bleiben. Regelhaft ist davon auszugehen, dass das Verhalten des Kindes stark durch das der Eltern geprĂ€gt ist, die oft selbst als Ă€ngstliche soziale Modelle wirken und die darauf aufbauenden Interaktionsmuster innerhalb eines ĂŒberbehĂŒtenden Erziehungsstils geprĂ€gt sind. Die AuĂenwelt wird ĂŒberwiegend als bedrohlich erlebt, die Sicherheit als gefĂ€hrdet. Die Trennungsangst des Kindes erscheint als Funktion des beeintrĂ€chtigten Erziehungsverhaltens der Eltern. Die Auswirkungen auf das Kind sind betrĂ€chtlich: Die Entwicklung von sozialen Kompetenzen wie auch zur SelbstĂ€ndigkeit wird eingeschrĂ€nkt, emotionale Störungen stellen sich ein (Weber, 2011).
Beim sogenannten ZurĂŒckhalten geht die Initiative fĂŒr die SchulversĂ€umnisse von den Erziehungsberechtigten aus oder wird durch ein diskretes Ăbereinkommen zwischen Eltern und SchĂŒler bedingt. Als ka...