Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung

Eine EinfĂŒhrung

  1. 326 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung

Eine EinfĂŒhrung

About this book

Das Buch vermittelt grundlegende Kenntnisse der Bedingungen, unter denen Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse stattfinden. ErlĂ€utert werden politische, ökonomische, kulturelle, soziale und rechtliche Aspekte des Aufwachsens in der heutigen Gesellschaft. Es wird untersucht, welcher Stellenwert den sich wandelnden Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern zukommt, welche VerĂ€nderungen die multikulturelle Gesellschaft fĂŒr Bildung und Erziehung mit sich bringt, wie soziale Ungleichheit, Benachteiligung und Behinderung im Bildungswesen oft sogar verstĂ€rkt werden, wie sich Lernen und Ausbildung in der Wissensgesellschaft entwickeln und wie wir unsere Wahrnehmung der Welt durch die Neuen Medien verĂ€ndern. Gefragt wird nicht zuletzt danach, woher wir eigentlich wissen, was wir wissen: Denn nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung selbst sind in historischen Wandel einbegriffen, sondern auch die Art und Reichweite, wie wir sie zu erkennen vermögen.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung by Andrea Liesner, Ingrid Lohmann in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Education & Educational Policy. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2010
eBook ISBN
9783170278301
Edition
1

1 Sozialisation, Geschlecht und Generationen

Sozialisation, Habitus, Geschlecht

Hannelore Faulstich-Wieland *
Illustriert am Beispiel von »Kleidungsvorschriften« fĂŒr Professoren und Professorinnen werden die zentralen Begriffe Sozialisation, Habitus und Geschlecht erlĂ€utert und in ihrer historischen und theoretischen Entwicklung aufgezeigt. Das Habituskonzept ermöglicht, sowohl seine Gewordenheit durch Sozialisation aufzuzeigen wie auch seine unterschiedliche Ausformung – in diesem Fall durch Geschlecht – zu verdeutlichen. Die pĂ€dagogische Relevanz der Begriffe wird am Beitrag, den sie an der Ermöglichung oder Verhinderung von Chancengleichheit haben, analysiert.
Kann man auf einem Campus erkennen, wer die Studierenden und wer die Professoren und Professorinnen sind? Ginge es nach den Bekleidungsempfehlungen eines UniversitĂ€tsfotografen, so wĂ€ren die Lehrenden leicht zu erkennen. Er schlĂ€gt vor, »Herren nur Schlips und Anzug auf jeden Fall«, und begrĂŒndet diese Empfehlung mit einem Hinweis auf den frĂŒheren Außenminister Joschka Fischer, der gesagt habe: »â€șich vertret’ ja nicht mich, ich vertret’ ja die Bundesrepublik Deutschland. Da muss man natĂŒrlich Weste und Anzug und Schlips haben.â€č [
] Und wenn Joschka Fischer das schon sagt, der eingefleischte Turnschuhminister, das heißt schon was. [
] Ja, so seh’ ich das, und da is’ man immer auf der sicheren Seite. Auch bei Frauen.« FĂŒr Frauen allerdings empfiehlt er: »am besten weiße Bluse, dunklen Blazer, ein Halstuch. Passt immer, so wie SekretĂ€rinnen, also ChefsekretĂ€rinnen. Also nicht die Tippsen, [
] aber die im Vorzimmer sind, [
] die ham dann nur Blazer und Schal und Bluse, toll!« Und der Pressesprecher der gleichen UniversitĂ€t meint: »Wenn Wissenschaftlerinnen wie ’ne gute Tante wirken, dann ist das nicht gut« (zit. nach Stegmann 2005, 78 f).
Diese Zitate stammen aus Interviews im Rahmen von Stefanie Stegmanns Untersuchung zu Effekten von Habitus, Fachkultur und Geschlecht: â€ș– got the Look!â€č Wissenschaft und ihr Outfit. Sie machen auf Vorschriften aufmerksam, die von Hochschullehrenden befolgt werden sollten. Zugleich weiß man, dass keineswegs alle Professoren und Professorinnen sich so kleiden, wie hier empfohlen wird – es also zumindest im Blick auf die Kleidung nicht ganz so einfach ist, sie von den Studierenden zu unterscheiden.
Was hat dieses Beispiel mit dem Thema â€șSozialisation, Habitus, Geschlechtâ€č zu tun? Es soll zunĂ€chst einmal exemplarisch genutzt werden, um die Bedeutung der drei Begriffe zu illustrieren. Von Hochschullehrenden wird ein bestimmter Habitus erwartet – hier vermittelt durch die Art der Kleidung, die sie tragen sollen. Joschka Fischer steht zugleich fĂŒr einen Lernprozess, da er als Hessischer Umweltminister zu seiner Vereidigung in Turnschuhen kam und spĂ€ter offenbar eingesehen hat, dass man sich als ReprĂ€sentant – in seinem Fall: des Landes – â€șangemessenâ€č verhalten muss. Die Unangemessenheit der Turnschuhe in diesem Fall war so deutlich, dass sich viele an dieses Ereignis erinnern.
Der Begriff Habitus bezieht sich auf »Gewohnheiten, Routinen, Denk-, Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsmuster, die, wiewohl biographisch durch Lernen erworben, durch die Konstellation von Bedingungen und Lebenspraxis selbst zur SelbstverstĂ€ndlichkeit, zu kulturellem Unbewussten werden« (Liebau 1988, 160). Zur Konstellation von Bedingungen und Lebenspraxis gehört in unserem Beispiel die Bekleidungsregelung. Sie soll es ermöglichen, Hochschullehrende von anderen Mitgliedern der UniversitĂ€t zu unterscheiden. FrĂŒher trugen die Professoren zumindest zu besonderen Gelegenheiten einen Talar. Dessen Farbe und Ausstattung war nach Fachbereichen festgelegt. An der Hamburger UniversitĂ€t wurde 1968 bei der Immatrikulationsfeier das berĂŒhmte Spruchband »Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren« vor den Professoren hergetragen. Seitdem tragen die Professoren â€șnormaleâ€č AnzĂŒge, und in einigen FĂ€chern, zu denen auch die Erziehungswissenschaft gehört, auch diese nur zu besonderen AnlĂ€ssen.
Bekleidungsvorschriften sind zugleich nach Geschlecht differenziert. WĂ€hrend fĂŒr die MĂ€nner eine Ähnlichkeit zwischen Professoren und Ministern herangezogen wird, sollen Professorinnen sich abgrenzen von »guten Tanten«, wĂ€hrend ihre Unterscheidbarkeit von SekretĂ€rinnen – zumindest ChefsekretĂ€rinnen – anscheinend als nicht notwendig erachtet wird. Die Talare gab es zwar als Unisex-BekleidungsstĂŒcke auch fĂŒr Frauen, allerdings waren vor 1968 nur wenige Frauen ĂŒberhaupt als Professorinnen tĂ€tig. Auch heute sind sie weit von einer paritĂ€tischen Beteiligung an Professuren entfernt, aber doch deutlich selbstverstĂ€ndlicher im Hochschulalltag geworden. Dennoch spielt die Geschlechtszugehörigkeit offenbar eine so wichtige Rolle, dass man Vorschriften benötigt.
Das Zitat von Eckart Liebau verweist auf den biografischen Lernprozess, der notwendig ist, um den angemessenen Habitus zu erwerben. Zugleich charakterisiert Liebau den Habitus als »kulturell unbewusst«. Diese Verbindung von individuellem Lernen und gesellschaftlichen Bedingungen wird mit dem Begriff der Sozialisation gefasst. Die Tatsache, dass wir keineswegs nur mit Anzug bekleidete Professoren oder mit Blazer, Bluse und Halstuch uniformierte Professorinnen finden, zeigt, dass die theoretische Fassung der Begriffe Sozialisation, Habitus und Geschlecht die individuelle Ausgestaltung berĂŒcksichtigen muss.
Wenden wir uns im Folgenden diesen Begriffen gesondert zu und fragen, was sie zu einer differenzierten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung beitragen.

Sozialisation

Der Begriff der Sozialisation wurde erstmals 1828 im Oxford Dictionary verwendet: »To socialize« wurde erlĂ€utert als »to render social, to make fit for living in society« (zit. nach Hurrelmann/Ulich 1991, 3). Wissenschaftlich waren es zunĂ€chst Soziologen wie Emile Durkheim (1858–1917) und Georg Simmel (1858–1918), die sich der Frage widmeten, wie es gelingen könne, Menschen zu angepassten Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. In Europa war diese Frage in der AufklĂ€rungsepoche und verstĂ€rkt im Zuge der Industrialisierung dringlich geworden. Der aufkommende Kapitalismus machte es notwendig, dass Menschen, die bisher als Bauern oder Leibeigene tĂ€tig waren, zu Lohnarbeitern wurden. Karl Marx hat diesen Prozess eingehend analysiert und plastisch beschrieben; zugleich macht er darauf aufmerksam, dass den Zwangsmaßnahmen eine Phase folgen musste, in der die neuen GesellschaftsverhĂ€ltnisse als selbstverstĂ€ndlich akzeptiert wurden: »So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert. Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den anderen Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genĂŒgt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverstĂ€ndliche Naturgesetze anerkennt« (Marx 1867, 765).
In den USA, wo erste Theorien der Sozialisation entstanden, ging es zudem vor allem darum, die Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Nationen kamen, im â€șSchmelztiegel der Nationenâ€č zu Amerikanern zu machen, d. h. einen Sozialisationsprozess in Gang zu bringen, der die sehr verschiedenen biografischen Erfahrungen so verĂ€nderte, dass man eine neue IdentitĂ€t entwickeln konnte. Soziologische Sozialisationstheorien waren folglich daran interessiert, die Prozesse des Mitgliedwerdens einer Gesellschaft bzw. eines Teils der Gesellschaft zu verstehen und zu erklĂ€ren.
DarĂŒber hinaus ging es spĂ€testens im 20. Jahrhundert auch darum, steuernd Einfluss zu nehmen: Psychologische Theorien, insbesondere die behavioristischen Lerntheorien, vertraten den Anspruch, Instrumente zu liefern, mit denen Menschen sozialisiert werden konnten. John B. Watson (1878–1958) z. B., der BegrĂŒnder des Behaviorismus, glaubte an die Allmacht wissenschaftlicher Manipulationen: »Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswĂ€hle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, KĂŒnstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne RĂŒcksicht auf seine Begabungen, Neigungen, FĂ€higkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren« (Watson 1930, 123).
Das zentrale Anliegen der Sozialisationstheorien besteht darin, zu verstehen, wie Individuum und Gesellschaft miteinander verbunden sind. Hans Rudolf Leu nennt als hierbei wichtigste Fragestellung, wie es möglich ist, »dass Individuen im Laufe ihres Lebens ihre Besonderheit und EigenstĂ€ndigkeit entfalten und sich dabei zugleich auch an gesellschaftlichen Gegebenheiten und Vorgaben orientieren« (Leu 1997, 6). Man kann die Anforderungen an Sozialisationstheorien in folgenden Fragen bĂŒndeln: Wie begreifen sie das VerhĂ€ltnis von Individuum und Gesellschaft? BerĂŒcksichtigen sie die Tatsache von Freiheit menschlichen Handelns? Können sie Unterschiede in der Entwicklung von Individuen erklĂ€ren? BerĂŒcksichtigen sie den historischen Aspekt von IndividualitĂ€t? Aus pĂ€dagogischer Sicht sind zudem noch Möglichkeiten von Bildung auszuloten.
Die verschiedenen, im weiteren Sinne als Sozialisationstheorien zu begreifenden AnsĂ€tze wurden hauptsĂ€chlich in der Soziologie und in der Psychologie entwickelt. Je nach wissenschaftlicher Herkunft fokussieren sie stĂ€rker auf das Individuum oder auf die Gesellschaft. Die auf Konditionierung, d. h. der ErklĂ€rung des Lernens als Erlernen von Reiz-Reaktions-Schemata aufbauenden, behavioristischen Lerntheorien begreifen das Individuum eher als Marionette, die von denjenigen, die ĂŒber das entsprechende Wissen verfĂŒgen, konditioniert wird. Gesellschaft kann in diesem Modell nur als autoritĂ€re Institution begriffen werden; Freiheit des Handelns wird eher geleugnet oder ignoriert. Unterschiede zwischen Menschen werden als Folge der je individuellen Konditionierungen begriffen und Bildungsprozesse vor allem als Erweiterung des Wissens. Zwar werden durch Weiterentwicklungen der psychologischen Lerntheorien Aspekte individueller Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit einbezogen – wie z. B. bei Albert Bandura, der zunĂ€chst das Lernen am Modell als zentral ansah, mittlerweile jedoch Selbstregulationsmechanismen in den Vordergrund stellt; der gesellschaftliche Hintergrund bleibt jedoch stets unterbeleuchtet. Strukturfunktionalistische AnsĂ€tze hingegen, insbesondere die soziologische Theorie Talcott Parsons’ (1902–1979), stellen die Gesellschaft in den Mittelpunkt und begreifen Sozialisation als Anpassung an die normativen AnsprĂŒche bzw. als Abweichung davon.
Die Verbindung von Individuum und Gesellschaft stellt in interaktionstheoretischen AnsĂ€tzen den Ausgangspunkt der Analyse dar. Exemplarisch hierfĂŒr ist der symbolische Interaktionismus von George Herbert Mead (1863–1931), der das Moment individueller Freiheit im Handeln betont. Meads Unterscheidung von â€șIâ€č und â€șMeâ€č (engl.) bildet hierfĂŒr ein wichtiges Theorieelement: â€șIâ€č (ich) ist der ursprĂŒngliche Organismus, der unkalkuliert, spontan, nicht bewusst handelt. Unmittelbar nach einer Handlung allerdings reflektiert â€șMeâ€č die Erfahrung mit dem, was â€șIâ€č gerade getan hat. Diese Reflexion erfolgt auf der Basis bisheriger Erfahrungen von Perspektiven oder RollenĂŒbernahmen, also als gesellschaftlich vermittelte Haltung, als vergesellschaftetes â€șMeâ€č. Die Reaktion bzw. die nĂ€chste Handlung wird dann zwar von â€șMeâ€č veranlasst, aber von einem â€șIâ€č durchgefĂŒhrt – einem â€șIâ€č, das im Moment der Handlung â€șfreiâ€č agiert und insofern mit der Erwartung von â€șMeâ€č keineswegs konform sein muss. Solche VorgĂ€nge laufen im Allgemeinen nicht als geschlossene KreislĂ€ufe in einem Individuum ab. Vielmehr gehen in die Reflexion seitens â€șMeâ€č auch die jeweils aktuellen Erfahrungen, die Reaktionen der anderen Interaktionspartner auf die Handlung des â€șIâ€č ein, die zugleich zur Komponente des â€șMeâ€č gehören.
Trotz der Unterschiede, die zwischen den skizzierten theoretischen AnsĂ€tzen bestehen, verbindet sie die Tatsache, dass Individuum und Gesellschaft als zwei Pole angesehen werden, zwischen denen Sozialisation als Verbindungs- und Vermittlungsglied auftritt. Die Untersuchung von Sozialisationsprozessen beschrĂ€nkt sich nicht auf die Analyse der Entwicklung nur eines der beiden Pole. Die zentrale Herausforderung fĂŒr die Sozialisationsforschung besteht vielmehr darin, eine Theorie zu entwickeln, der die Analyse der Verbindung von Individuum und Gesellschaft quasi aus einem Guss gelingt: eine Theorie, welche die Tatsache, dass Individuen immer Teil von Gesellschaft sind und Gesellschaft sich durch aktiv handelnde Individuen konstituiert – und dennoch beides nicht in einander aufgeht – fassbar macht. Zudem muss sie nicht nur die individuellen Unterschiede, sondern auch die gesellschaftlichen Differenzierungen erfassen können. Das Habituskonzept von Pierre Bourdieu (1930–2002) eignet sich hierfĂŒr.

Habitus

Kommen wir zunĂ€chst noch einmal auf unser Ausgangsbeispiel zurĂŒck: Haben Professoren oder Professorinnen einen spezifischen Habitus, an dem man sie erkennen kann? SpĂ€testens seit HonorĂ© de Balzac (1799–1850) gibt es das Bild des Professors als eines weltfremden, im praktischen Leben und in eleganter Gesellschaft lĂ€cherlich wirkenden Menschen (vgl. Klinge 2004, 131 ff). In HergĂ©s Comic-Serie Tim und Struppi ist Professor Bienlein eine solche Gestalt. Zwar kann man immer wieder einmal Begegnungen haben, die einen an solche Karikaturen erinnern; in der RealitĂ€t aber finden wir ein deutlich grĂ¶ĂŸeres Spektrum an Hochschullehrenden. Kann man deshalb sagen, es gebe keinen spezifisch professoralen Habitus? ZunĂ€chst wĂ€re es fĂŒr die Beantwortung einer solchen Frage sicherlich notwendig, Differenzierungen zwischen den FĂ€chern vorzunehmen, da die einzelnen Wissenschaften verschiedene Fachkulturen herausbilden. Leichter als bei den Hochschullehrenden lassen sich solche FĂ€cherdifferenzen im Habitus der Studierenden erkennen: Es fĂ€llt wohl niemandem schwer, Studierende der Ingenieurwissenschaft oder der Wirtschaftswissenschaft von denen der Erziehungswissenschaft zu unterscheiden. Bei jenen sind Anzug, Schlips und Aktenkoffer hĂ€ufig anzutreffen, bei diesen eher Jeans, T-Shirt und Rucksack.
Wie dem auch sei: Im Kontext der Sozialisationsforschung zielt der Habitusbegriff stĂ€rker auf die Bedeutung der sozialen Herkunft als auf solche Ă€ußerlichen Kennzeichen. In den 1970er Jahren ging es darum, die schichtspezifische Sozialisation genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Chancenungleichheit im Bildungssystem ließ die Frage aufkommen, warum Kinder aus unterschiedlichen Milieus mehr oder weniger erfolgreich die Schule besuchten, und die damaligen Bildungsreformanstrengungen zielten auch darauf, solche Ungleichheiten zu verringern. Die international vergleichenden Schulleistungsstudien im Gefolge von PISA 2000 zeigen jedoch, dass die Bildungsbeteiligung nach wie vor von der sozialen Herkunft abhĂ€ngt. Diese ZusammenhĂ€nge lassen sich mit dem Ansatz von Pierre Bourdieu erklĂ€ren.
Bourdieu analysiert als Grundlage fĂŒr die Erfassung der Sozialisation den sozialen Raum. Strukturell finden wir darin zunĂ€chst einmal unterschiedliche soziale Positionen. Sie hĂ€ngen mit den Ressourcen einer Familie bzw. einer Person zusammen, d. h. mit der Menge und den Arten des Kapitals, das jemand besitzt. Bourdieu (1992) unterscheidet als drei großen Kapitalsorten das ökonomische, das soziale und das kulturelle Kapital. Unter Verwendung der einschlĂ€gigen Sozialstatistiken lassen sich damit die unterschiedlichen sozialen Gruppen identifizieren.
Anders als die frĂŒheren Schichtmodelle, die nach Ober-, Mittel- und Unterschicht differenzierten, erlaubt dieses Modell u. a. auch eine Unterscheidung beim â€șObenâ€č, nĂ€mlich nach denen, die ĂŒber viel ökonomisches Kapital verfĂŒgen (den »herrschenden Herrschenden«),...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1 Sozialisation, Geschlecht und Generationen
  7. 2 Benachteiligungen, Behinderungen und soziale Ungleichheiten
  8. 3 Migration und multikulturelle Gesellschaft
  9. 4 Medien und Ästhetik
  10. 5 FrĂŒhkindliche, außerschulische und berufliche Bildung
  11. 6 Bildungsinstitutionen
  12. 7 Bildungsforschung