1 Was ist Professionelle ResponsivitÀt?
Das ResponsivitĂ€tsprinzip wird heute in vielen Disziplinen als bedeutsam eingeschĂ€tzt. So erscheint ResponsivitĂ€t als ein zentraler Begriff in der Demokratieforschung, in Kunst, Architektur, Robotik, Therapiewissenschaften und Medizin sowie in PĂ€dagogik, Psychologie und Philosophie. ResponsivitĂ€t kann sich auf Personen in jedem Lebensalter, aber auch auf Gruppen, Systeme und Organisationen beziehen. Immer steht im Mittelpunkt, wie gut eine Abstimmung gelingt: Wie gut stimmt sich die Mutter auf ihr Kind ab, der Politiker auf seine WĂ€hler, der KĂŒnstler auf sein Publikum, ein Gesundheitssystem auf seine Adressatinnen und Adressaten (Gutknecht, 2010)? GrundsĂ€tzlich lĂ€sst sich der Begriff ResponsivitĂ€t von der Bedeutung her zurĂŒckfĂŒhren auf das lateinische ârespondereâ = antworten, oder auf die âresponseâ = Antwort. Das Hauptwort ResponsivitĂ€t kann mit âAntwortlichkeitâ oder âAntwortverhaltenâ ĂŒbersetzt werden.
Im Folgenden werden unterschiedliche Perspektiven auf ResponsivitÀt dargestellt, Bedeutung und Inhalte einer Professionellen ResponsivitÀt von FachkrÀften in Krippen und KiTas herausgearbeitet. Eine tragende Basis ist dabei die intuitiv-didaktische Verhaltensstrategie. Die Fachkraft-Kind-Beziehung unterscheidet sich allerdings in vielen Aspekten von der Eltern-Kind-Beziehung, daher soll darauf zunÀchst genauer eingegangen werden.
1.1 Die Fachkraft-Kind-Beziehung und ihre Besonderheiten
FachkrĂ€fte in der Kinderkrippe arbeiten mit den ihnen fremden Kindern in der Regel in einem Gruppen-Setting. HĂ€ufig stehen die Kinder in einem altersmĂ€Ăig engeren Abstand zueinander, als es in der Familie der Fall ist. Die Kinder kommen vielfach aus unterschiedlichen (sub)kulturellen Kontexten oder haben einen vollkommen anderen sozio-ökonomischen Hintergrund, als es der der Fachpersonen ist. FachkrĂ€fte in der Krippe sind zudem weder die ersten noch die wichtigsten Bezugspersonen im Leben eines Kindes (Clarke-Stewart & Allhusen, 2005). In der institutionellen Betreuung sind die GefĂŒhle der Fachpersonen von hoher Relevanz, wie die Bindungsforscherin Karin Grossmann feststellt:
Das Zusammenleben mit Kleinstkindern und deren sozial-emotionale BedĂŒrfnisse lösen viele emotionelle Reaktionen der Betreuer aus, Mitleid, Ărger, Trost, ZĂ€rtlichkeit, usw. In der Familie oder in der Verwandtschaft des Kindes findet sich in den meisten FĂ€llen nur derjenige zur Betreuung des Kindes bereit, der das Kind lieb hat, also bereit ist, die emotionale Zuwendung oder GefĂŒhlsarbeit zu leisten. Erzieherinnen können diese âemotionale Arbeitâ je nach Persönlichkeit und BerufsverstĂ€ndnis entweder bereitwillig leisten oder sie durch Versachlichung und Ent-Individualisierung der Kinder vermeiden. (Grossmann, 1999, S. 166)
Anders als Kinder im Vorschulalter profitieren Kinder bis drei Jahren â insbesondere bei emotionalem Unwohlsein â kaum von verbalen Hilfen, ErklĂ€rungen, Zeitperspektiven und Zielvorstellungen der Fachperson. Auf die erwachsene Fachperson sind sie aber in erhöhtem MaĂe angewiesen, denn ihre KooperationsfĂ€higkeit mit Gleichaltrigen ist noch sehr gering. Die Beziehung, die die Fachperson mit den SĂ€uglingen und Kleinkindern in einem professionellen Kontext pflegt, verlangt EinfĂŒhlungsvermögen, Herzlichkeit und WĂ€rme, ein insgesamt hohes MaĂ an eigener emotionaler ExpressivitĂ€t.
Fachpersonen sollen den Kindern Sicherheit bieten, eine sichere Basis fĂŒr Explorationen. Es bleibt aber im Regelfall eine Beziehung auf Zeit, in der eine Trennung vorprogrammiert ist. Kritisch ist zu betrachten, ob es beispielsweise die Aufgabe der Fachperson ist, Bindungsdefizite von Kindern zu kompensieren, wenn sich daran Hoffnungen und Erwartungen knĂŒpfen, die sich auf lĂ€ngere Sicht gar nicht erfĂŒllen lassen. FĂŒr die Ausbildung von Fachpersonen wird daher als fraglich eingeschĂ€tzt, ob angesichts des viermal so hohen Einflusses der Eltern auf die Entwicklung des Kindes im Vergleich zur Fachperson in der Krippe und den hohen Fluktuationsraten im professionellen Feld von âBindungsĂ€hnlichkeitâ oder âbindungsĂ€hnlicher Beziehungâ gesprochen werden kann (Ahnert, 2007). Bei der aktuellen Debatte um Bindung und Bildung bleibt vielfach vage, wie das ko-regulative und ko-konstruktive Verhalten der PĂ€dagogin in den vielen unterschiedlichen Alltagsinteraktionen gestaltet werden soll. Direkte Auswirkungen auf die Bildungsprozesse, die sich im institutionellen Kontext vollziehen, haben zudem auch Faktoren wie die Gestaltung der Beziehung der Fachpersonen zu den Eltern und die Teamkommunikation. Bildung setzt demnach ein VerstĂ€ndnis von pĂ€dagogischer QualitĂ€t voraus, in dem prozessuale (z. B. Erzieher-Kind-Interaktion, Erzieher-Erzieher-Interaktion, Erzieher-Eltern-Interaktion) und kontextuelle Dimensionen (z. B. Professionalisierung und VergĂŒtung der FachkrĂ€fte, QualitĂ€t der Leitung der Einrichtung, Erziehungsklima) im Zentrum stehen mĂŒssen (vgl. Hacker & Heimann, 2008).
Eine unzulĂ€ssige EngfĂŒhrung wĂ€re daher, wenn die aufzubauende Interaktionskompetenz einer Professionellen ResponsivitĂ€t nur in Hinblick auf das Kind betrachtet wĂŒrde und die diversen Kontexte, in denen Fachpersonen handeln mĂŒssen, nur ungenĂŒgende BerĂŒcksichtigung fĂ€nden. Ansonsten besteht die Gefahr, PraxisphĂ€nomene im Bereich Interaktion in erster Linie in ZusammenhĂ€ngen von Psycho- oder Gruppendynamik oder hinsichtlich des biografischen Hintergrundes der Beteiligten zu betrachten. Damit wĂŒrde man aber der KomplexitĂ€t professionellen Handelns nicht gerecht werden (Heuring & Petzold, 2004). Die Professionelle ResponsivitĂ€t der Fachkraft in der Kinderkrippe muss als zu erreichende Kernkompetenz darum umfĂ€nglicher konzeptualisiert werden als in Forschungsbereichen, die sich vorrangig auf die Mutter-Kind-Dyade konzentrieren.
1.2 ResponsivitÀt in der Bindungsforschung
Im Diskurs der FrĂŒhpĂ€dagogik wird oft ganz selbstverstĂ€ndlich davon ausgegangen, dass es sich bei âResponsivitĂ€tâ um einen Begriff aus der Bindungstheorie handelt. Dort wird ResponsivitĂ€t vielfach gleichgesetzt mit FeinfĂŒhligkeit. Unter einem feinfĂŒhligen und somit responsiven Verhalten wird verstanden, dass eine Bezugsperson
1. die Signale des Kindes erkennen,
2. angemessen interpretieren und
3. prompt und feinfĂŒhlig beantworten kann.
Wenn FeinfĂŒhligkeit und ResponsivitĂ€t nicht synonym verwendet werden, wird zwischen den beiden Begriffen oft in folgender Weise differenziert: Die rasche und prompte Reaktion auf das Kind wird als responsiv bezeichnet und durch das Beiwort âsensitivâ oder âfeinfĂŒhligâ ergĂ€nzt, um die QualitĂ€t der Antwort herauszustellen: FeinfĂŒhlige ResponsivitĂ€t oder Sensitive ResponsivitĂ€t (Remsperger, 2009). Auf der Basis der Bindungstheorie entstanden unterschiedliche Konzeptionen fĂŒr ein Training der ResponsivitĂ€t von Eltern oder auch pĂ€dagogischen FachkrĂ€ften.
1.2.1 ResponsivitĂ€tstrainings mit MĂŒttern und Eltern
Auf der Basis der Ergebnisse der Eltern- und der Bindungsforschung sind unterschiedliche AnsĂ€tze zur meist videogestĂŒtzten Interaktionsberatung entwickelt worden. Diese sollen MĂŒttern/Eltern helfen, ihre intuitiv-didaktischen FĂ€higkeiten zu entwickeln oder zu reaktivieren. Interaktionsberatungen sind einerseits im Zusammenhang von Mutter-Kind-Psychotherapien, andererseits in Beratungskontexten zur FrĂŒhförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Autismus, Down Syndrom, FrĂŒhgeborene) und der Jugendhilfe (PrĂ€vention von Kindesmisshandlung) ausgearbeitet worden. Diese Form der Beratung konzentriert sich konsequent auf die Beziehung zwischen Mutter/Eltern und Kind. Mobilisiert werden sollen dialogische Verhaltensbereitschaften, die das Kind in seiner Initiative stĂ€rken und es beim Erwerb neuer FĂ€higkeiten unterstĂŒtzen (Gutknecht, 2011). Es wird ausfĂŒhrlich geĂŒbt, die Verhaltenssignale von Babys und Kleinkindern wahrzunehmen und ihre Bedeutung zu entschlĂŒsseln (Gregor & Cierpka, 2004; Ziegenhain, Fries, BĂŒtow & Derksen, 2006). Merkmale von Belastung oder Offenheit der Babys und Kleinkinder sollen erkannt werden, um damit eine Verbesserung der wechselseitigen Interaktion zu erreichen. Die Interaktionsberatung ist als FeinfĂŒhligkeitstraining der MĂŒtter/Eltern konzipiert. Auch Verfahren wie das von Erickson und Egeland (2009) entwickelte Programm STEEP (Steps Toward Effective Enjoyable Parenting) richten sich prĂ€ventiv an Eltern, wollen gezielt responsives/feinfĂŒhliges Verhalten bei ihnen aufbauen, um KindeswohlgefĂ€hrdungen vorzubeugen.
Vor diesem Hintergrund muss auch der ResponsivitĂ€t der pĂ€dagogischen Fachperson eine hohe PrioritĂ€t eingerĂ€umt werden. Dies betrifft ihre FĂ€higkeit, eine emotionale Beziehung zum Kind aufzubauen, sowie ihre Möglichkeiten, die Initiativen des Kindes in Spiel, Sprache und Bewegung in spontaner Weise aufzunehmen. In achtsamer Weise mĂŒssen dabei Verarbeitungstempo und -niveau des Kindes berĂŒcksichtigt werden (vgl. Sarimski, 2005).
1.2.2 Das Konzept der Sensitiven ResponsivitÀt
Auf der Grundlage von Ainsworths bindungstheoretischem FeinfĂŒhligkeits-Konzept fordert Remsperger von den FachkrĂ€ften in KiTas eine âSensitive ResponsivitĂ€tâ in Bezug auf das Kind (Remsperger, 2011). Zu den ĂŒbergeordneten Komponenten Sensitiver ResponsivitĂ€t zĂ€hlen die Promptheit der Reaktion, das Eingehen und Dabei-Sein, der Umgang mit Stimmungen und Emotionen, das WertschĂ€tzung-Zeigen und Loben, die Stimulation, das Spiegeln und das Fragen. Jede der genannten Komponenten besteht aus weiteren Unterkategorien. Wenn also Sensitive ResponsivitĂ€t bedeutet, dass die Erzieherin âDabei-Seinâ zeigen soll, so ist dies zum Beispiel daran abzulesen, dass sie Aufmerksamkeit und Interesse zeigt, darauf achtet, dass die Kinder etwas verstehen, dass sie Freude, Begeisterung und SpaĂ mit den Kindern teilt sowie Themen mit eigenem Lebensweltbezug einbringt (Remsperger, 2011; Gutknecht, 2014a). Indikatoren einer fehlenden Sensitiven ResponsivitĂ€t sind z. B.: gehetzt und ungeduldig sein, abwesend, gleichgĂŒltig und desinteressiert wirken. In ihrer Video-Studie kommt Remsperger zum Ergebnis, dass sich âSensitive ResponsivitĂ€tâ sowohl unabhĂ€ngig vom Erziehertyp als auch unabhĂ€ngig von der Art der pĂ€dagogischen Situation gestaltet (Remsperger, 2011).
Bei dieser Konzeptualisierung werden eher allgemeine Verhaltensweisen der Fachpersonen betrachtet. Es besteht dadurch die Gefahr, dass ResponsivitĂ€t mit einem freundlichen, zugewandten Verhalten gleichgesetzt wird und die situations- und inhaltsspezifischen Anforderungen an responsives Verhalten im Kontext KiTa unterbestimmt bleiben. So ist beispielsweise beim FĂŒttern durchaus ein anderes Know-how notwendig (Bodeewes, 2003) als beim ErzĂ€hlen (Hausendorf & Quasthoff, 2004). Die grundsĂ€tzliche QualitĂ€t in der sprachlichen Anregung zeigt sich darin, ob die FachkrĂ€fte im Dialog tatsĂ€chlich die Zone der nĂ€chsten Entwicklung treffen und Scaffolding-Strategien einsetzen (Vygotsky, 2002; s. a. Katz-Bernstein, 2003; Gutknecht, 2010; Zollinger, 2015). Das Antwortverhalten auf der Ebene von BerĂŒhrung und Bewegung erfordert spezifische Kompetenzen insbesondere in der Arbeit mit Kindern mit Behinderungen, ein Bereich, der ausgeblendet bleibt. Auch ist die responsive Interaktion mit den Eltern und im Teamzusammenhang nicht Gegenstand des Konzepts.
1.3 ResponsivitÀt und intuitive Didaktik
Die intuitive Didaktik, die Bezugspersonen in der Interaktion mit ihren Babys und Kleinkindern nutzen, wird von Mechthild PapouĆĄek in ihren Schriften als ein didaktisch optimal anpassungsfĂ€higes Modell fĂŒr frĂŒhpĂ€dagogisches und frĂŒhtherapeutisches Handeln bezeichnet (M. PapouĆĄek, 2008, S. 181). Viele Wissenschaftler/innen und Praktiker/innen sind ihr in dieser EinschĂ€tzung gefolgt. Unter intuitiver Didaktik wird das Zusammenspiel von biologisch verankerten FĂ€higkeiten und Motivationen verstanden, die sowohl auf Seiten des SĂ€uglings als auch der Eltern angelegt sind und einander auf erstaunliche Weise ergĂ€nzen (M. PapouĆĄek, 2008). Die intuitive Didaktik gilt als Teil des artspezifischen, ĂŒberlebenswichtigen Brutpflegeverhaltens. Die Eltern, aber auch â und dies wird immer betont â andere Bezugspersonen zeigen im Umgang mit SĂ€uglingen und Kleinkindern âintuitive KommunikationsfĂ€higkeitenâ. Diese sind in ihren Grundmustern von Sprechweise, Stimme und sensorischer Stimulation universell und treten kulturĂŒbergreifend auf. Sie sprechen mit heller Stimme, sie wiegen das Kind und regulieren damit seine Emotionen, sie heben die Augenbrauen zu einer GruĂreaktion.
ResponsivitĂ€t wird in diesem Konzept in gleicher Weise wie in der Bindungsforschung definiert als ein Abstimmungsverhalten. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Eltern und andere kindliche Betreuungspersonen von den kindlichen Signalen leiten lassen und diese prompt und kontingent beantworten (vgl. PapouĆĄek & PapouĆĄek, 1987). Das Interessante an der Konzeption der intuitiven Didaktik ist, dass dort eine Vielzahl konkreter Verhaltensweisen beschrieben worden ist, wodurch sich der recht allgemeine Begriff der Abstimmung genauer klĂ€ren lĂ€sst. Was bedeutet also Abstimmung beim Vorlesen von BilderbĂŒchern oder beim gemeinsamen Singen oder beim FĂŒttern von kleinen Kindern?
Auch eine andere Frage gerÀt in den Blick: Unter welchen Bedingungen ist es möglich, dass Eltern ihre intuitive Didaktik verlieren? Hier sind in den vergangenen Jahren mögliche unmittelbare Bedingungsfaktoren identifiziert worden wie z. B. die DepressivitÀt...