
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more
Forensisch-psychologische Begutachtung von Straftätern
Ausgewählte Problemfelder und Falldarstellungen
This book is available to read until 5th December, 2025
- 214 pages
- English
- ePUB (mobile friendly)
- Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more
Forensisch-psychologische Begutachtung von Straftätern
Ausgewählte Problemfelder und Falldarstellungen
About this book
Der Bedarf an der Begutachtung von Straftätern wächst. Insbesondere spektakuläre Fälle erwecken ein breites öffentliches Interesse. In diesem Buch geht es in der Darstellung von Strafrechtsfällen psychologischer Begutachtungspraxis (z. B. Kindesmisshandlung, Tötungs- und Sexualdelikte) nicht nur um die Frage nach der Schuldfähigkeit, sondern auch darum, einen Zugang zu den Handlungsweisen von Tätern zu eröffnen. Damit wird das mitunter zunächst Unfassbare greifbarer. Erfahrungsgemäß ist dies für alle am Verfahren Beteiligten hilfreich. Das Buch ist auch für psychologische Laien geeignet, da es für sie die notwendigen Hintergrundinformationen bereitstellt.
Frequently asked questions
Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
- Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
- Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Forensisch-psychologische Begutachtung von Straftätern by Klaus Jost in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Psicologia & Psicologia applicata. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.
Information
1 Willensfreiheit, eine Illusion?
Eine alte und neue Kontroverse – die Frage nach der Verantwortlichkeit
Auch delinquentes menschliches Verhalten zu verstehen und zu erklären, ist eine wichtige Aufgabe psychologischer Diagnostik und Begutachtung. Die Frage nach seiner Zurechenbarkeit hat sich mit der grundlegenden Kontroverse auseinanderzusetzen, ob menschliches Verhalten einem freien Willen unterliegt oder determiniert ist. Mit dem zum Teil rasanten Fortschreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse werden bekannte naturphilosophische Grundauffassungen neu diskutiert, infrage gestellt oder erfahren Unterstützung. So haben auch neurowissenschaftliche, speziell neurobiologische Befunde der Hirnforschung die Diskussion um Determinismus und Indeterminismus wiederbelebt. Determinismus beschreibt die naturphilosophische Grundauffassung oder Lehre, dass alle Vorgänge in der Welt ursächlich bestimmt sind. Nichts an Geschehen ist zufällig, es ist vielmehr notwendige Wirkung bestimmter Ursachen. Auf menschliches Verhalten übertragen sind es anlage- oder umweltbedingte (genetische, biologische, erlebnisbedingte) Faktoren, durch die das Verhalten festgelegt ist. Der Determinismus lässt der Spontaneität des Menschen keinen Raum. Verhalten und der Wille dazu sind determiniert, d. h. auch der Willensakt unterliegt äußeren oder inneren Ursachen. (Willens-)Freiheit und sittliche Verantwortlichkeit sind danach nicht möglich, sie werden geleugnet (ethischer Determinismus). Im Gegensatz dazu hat aus der Sicht des ethischen Indeterminismus der freie Wille zwar seinen Raum, unterliegt aber eher dem Zufall. Der handelnde Mensch verhielte sich danach wie ein Zufallsgenerator.
Wie kommen Hirnforscher dazu, Freiheit und freie Willensentscheidung zur Disposition zu stellen oder gar zu leugnen, sie als Illusion zu bezeichnen? Wie kommt es zu dieser neuerlichen, jetzt neurophilosophischen Diskussion, in der ein „neuronaler Determinismus“ (Schnädelbach, 2004) vertreten wird mit allen Konsequenzen für Verbindlichkeiten von Moral und Schuld, sodass Michel Friedman in Bearbeitung seines Promotionsthemas „Konsequenzen der neurobiologischen Forschung für den Schuldbegriff des Strafrechts“ vermutlich eher in provokanter Weise die Forderung aufstellt: „Wir müssen den Schuldparagrafen des Strafrechts überdenken“ (Bender, 2006).
Zweifellos hat die Hirnforschung seit den 1990er Jahren geradezu revolutionäre Fortschritte zu verzeichnen, nicht zuletzt durch die Bereitstellung neuer technischer Möglichkeiten bildgebender Verfahren wie Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), die über die Elektroenzephalographie (EEG) hinausgehend eine genaue Lokalisierung von Aktivitäten im gesamten menschlichen Gehirn möglich machen. Wir wissen heute sehr viel mehr über Funktionen des Gehirns als noch vor zehn Jahren. Nicht wenige Fragen, denen sich die Hirnforschung zuwendet, berühren auch die Interessen anderer Wissenschaften, z. B. der Neuro-Psychologie, die sich bislang eher mit den Folgen von Hirnschädigungen auf das menschliche Verhalten befasste. Man erhofft sich jetzt u. a. Klärungen oder zumindest Fortschritte im Verständnis menschlicher Ich- und Bewusstseinszustände. Man möchte mehr über Wahrnehmungsvorgänge und Handlungsplanungen wissen, wo und wie im Gehirn Emotionen und Affekte entstehen, wie Gedächtnis repräsentiert ist. Der Hirnforscher Gerhard Roth (2001a, b) stellt u. a. Fragen nach neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit. In einem Brückenschlag von Hirnforschung und der Freudschen Psychoanalyse sucht Roth nach möglichen neurobiologischen Entsprechungen des sogenannten Unbewussten, er fragt, welche möglichen Faktoren das Ich determinieren, ob das Ich oder eher das Unbewusste das menschliche Erleben und Handeln bestimmt. Roth (2001b) spricht davon, dass Resultate und Einsichten der Hirnforschung „die Lehre Freuds in einigen wichtigen Punkten zu bestätigen scheinen“, u.a. darin, dass das unbewusste Erfahrungsgedächtnis unser Handeln stärker bestimme als das bewusste Ich. Nach Roth (2006) finden folgende drei Grundannahmen Freuds eine späte neurobiologische Unterstützung:
- „Das Unbewusste kontrolliert das Bewusstsein stärker als umgekehrt.“
- „Das Unbewusste oder ‚Es‘ entsteht vor dem Bewusstsein; es legt sehr früh die Grundstrukturen des Psychischen und des bewussten Erlebens, des ‚Ich‘ fest.“
- „Das Ich hat keine oder nur geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns.“
Es fällt auf, dass in der Hirnforschung der Begriff des Unbewussten uneinheitlich verwendet wird. So werden z.B. die aufeinander abgestimmten Bewegungs- und Handlungsabläufe eines routinierten Autofahrers oder auch Bergsteigers der Instanz des Unbewussten oder des Unterbewussten zugeordnet. Eigentlich handelt es sich um ein ehemals bewusst eingeübtes und schließlich automatisiertes oder teilautomatisiertes Geschehen. Auch das im Millisekundenbereich liegende Vorbereitungsintervall einer nach Reizexposition bewussten Wahrnehmung oder Handlung dem Unbewussten zuzuordnen, erscheint problematisch. Es mehren sich deshalb Stimmen, die eine Aufwertung der Psychoanalyse jedenfalls durch die Hirnforschung sehr kritisch sehen, ihr auch keinen Erkenntniswert in der Aufklärung des Unbewussten zusprechen. So äußert der Psychoanalytiker Tilmann Habermas (2006, S. 40): „In letzter Zeit sprechen manche … von einer Renaissance der Psychoanalyse durch die Ergebnisse der Hirnforschung, da diese endlich die von der Psychoanalyse behaupteten unbewussten psychischen Prozesse belegt habe. Dabei hat die Beobachtung, dass im Gehirn bestimmte Areale besser durchblutet werden, kurz bevor die Person eine Entscheidung trifft, einen Gedanken hegt oder etwas fühlt, nichts mit Freuds Begriff des Unbewussten zu tun, in dem ein Gedanke im Unbewussten eine Dynamik entfaltet, weil er verdrängt wurde. Die Zukunft der Erforschung des Unbewussten liegt nicht im Gehirn ….“
Was hat das Ganze mit der Frage zu tun, ob es den freien Willen gibt oder nicht? Nach der Befundlage neurobiologischer Experimente ist in der Tat davon auszugehen, dass unsere subjektiven Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, unser Denken, Fühlen, unsere Willensakte durch ihnen unmittelbar vorausgehende, ca. 300–500 Millisekunden beanspruchende zerebrale Verarbeitungsprozesse vorbereitet werden. Das heißt, das subjektive Erleben tritt mit der genannten zeitlichen Verzögerung ein, es „hinkt den verursachenden Hirnprozessen um einige hundert Millisekunden hinterher“ (Grawe, 2004, S. 122). Einzelne Hirnforscher sehen genau hierin einen Beleg für die alleinige biologische Begründung menschlichen Verhaltens und die Unterstützung der These seiner Vorherbestimmtheit, wodurch die Beteiligung eines freien Willens als verhaltensbestimmende Einflussgröße auszuschließen sei (Soma-Psyche-Kontroverse). Sie gehen davon aus, dass wir nicht entscheiden, sondern unser Gehirn jeweils schon entschieden hat, bevor wir den subjektiven Eindruck haben, eine Handlungsentscheidung zu treffen. Heißt dies in der Konsequenz – wie die beiden Wissenschaftsjournalisten Siefer und Weber (2006) unter Bezug auf Wolfgang Prinz nahelegen – wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun? Dieser Gedanke provoziert, er erschüttert vielleicht auch unsere Sicht auf uns selbst. Grawe (2004, S. 44) stellt folgende Fragen in den Raum: „Können wir keinen noch so geheimen Gedanken denken, keine freie Willensentscheidung treffen, ohne dass diese durch ein spezifisches Muster neuronaler Erregungen in unserem Gehirn hervorgebracht würden?“ „Sollte Willensstärke nur auf der Übertragungsbereitschaft von Synapsen beruhen?“ Und er gibt gleich eine Antwort: „Das ist starker Tobak, den die Neurowissenschaften uns da zumuten.“ Nehmen wir ein alltägliches Beispiel: Wenn ich mich entscheide, zu Hause zu bleiben und mein Wohnzimmer zu renovieren, statt mich mit einem Freund zu treffen, was ich viel lieber täte, tue ich dies dann nur deshalb, weil im Frontalhirn entsprechende neuronale Gegebenheiten entstanden sind? Sicher nicht! Die Antworten der Neurowissenschaftler in diesem Kontext sind zu simpel, um einen komplexen Entscheidungsvorgang zu erklären. Menschliches Erleben und Verhalten ist zu vielschichtig, als dass es nur annähernd durch neurowissenschaftliche Beobachtungen des Gehirns mittels bildgebender Verfahren erklärt werden könnte. Das Gefühl der Freude z.B. ist mehr und etwas anderes als die Summe der daran beteiligten aktivierten Hirnareale. Es existiert keine Erklärung, wie aus physikalischen Ereignissen in den Nervenzellen emotionale oder geistige Erlebnisse entstehen. Die menschliche Person und ihre Identität lassen sich erst recht nicht neurowissenschaftlich verorten und beschreiben.1 Im Übrigen kann die heutige Neurowissenschaft der Komplexität des Gehirns nicht im Geringsten entsprechen. „Auch wenn das Gehirn deterministisch funktioniert, ist es in seiner Komplexität niemals vollständig beschreib- und verstehbar“ (Rösler, 2004, S. 32).2
Kommen wir zurück auf die hirnbiologischen Experimente, die in den Ergebnissen zeigen, dass unserem Handeln im Millisekundenbereich anzusiedelnde zerebrale Verarbeitungsprozesse vorausgehen. Es mag verunsichern, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die das Handeln, Denken, Fühlen vorbereitenden Hirnprozesse unbemerkt, unbewusst ablaufen und wir darüber auch keine Kontrolle haben. Nichtsdestoweniger gehören diese zerebralen Verarbeitungsprozesse dem jeweils denkenden oder handelnden Menschen an, niemandem sonst! Auch „handelt“ das Gehirn nicht von sich aus. Wie könnte es von Bedürfnissen, Wünschen und unmittelbaren Absichten erfahren, wenn nicht durch die Person, in der es sich befindet? Die dem Handeln gerade eben vorausgehenden Hirnprozesse sind bereits Bestandteile des Willensaktes (Entschlusses), der mit dem subjektiven Erleben nicht eingeleitet, sondern abgeschlossen wird (vgl. Grawe, 2004). Grawe (2004, S. 122f.) führt aus: „Wenn ich die vorbereitenden Prozesse als ebenso zu mir gehörig betrachte wie mein bewusstes Erleben, dann bin immer noch ich es, der die Entscheidungen trifft. Mein Selbst, meine Persönlichkeit besteht eben aus impliziten (unbewussten) und expliziten (bewussten) Anteilen. Meine Willensentscheidungen werden mir nicht von irgendetwas Fremdem aufgezwungen. Die Determinanten meines Verhaltens sind meine eigenen Determinanten, auch so weit und so lange sie mir nicht bewusst sind. … In die Autorenschaft sind meine impliziten Anteile eingeschlossen.“
Zur Frage, wie frei Willensentscheide sind, gibt die Psychologie recht klare Antworten.3 Die Bedingungen unseres Denkens und Handelns sind zahlreich. Bestimmend sind bewusste und unbewusste, äußere und innere, körperliche und andere Determinanten, die wir auch als Dispositionen beschreiben können. Sowohl der Anteil als auch die Bedeutung unbewusster Determinanten werden hoch eingeschätzt. Sie nehmen – wie uns z.B. Werbung deutlich machen kann – Einfluss, bevor wir etwas davon wahrnehmen. Willensentscheidungen beeinflussende unbewusste Determinanten sind wesentlich auch über Erziehung vermittelte hohe Wert- und Zielvorstellungen. Ihre Stabilität garantiert nicht nur Konsistenz und Kontinuität des eigenen psychischen Haushalts, sondern auch Sicherheit im sozialen Umgang und Vorhersehbarkeit des Tuns des jeweils Handelnden. Aus all dem ergibt sich, dass die Freiheit in Willensentscheidungen relativ zur Person zu verstehen ist, nicht aber Beliebigkeit von Entscheidungen und Handlungen heißen kann. „Sobald ich akzeptiere, dass mein Selbst wesentlich mehr umfasst als das, was mir bewusst ist, kann ich auch akzeptieren, dass meine Entscheidungen in dem Moment, wo ich sie subjektiv fälle, schon festgelegt waren, nämlich durch die implizite Seite meines Selbst“ (Grawe, 2004, S. 123). Wir können also davon ausgehen, dass wie auch immer beeinflusste und bestimmte Willensentscheidungen von Menschen der jeweiligen Person angehören und dass diese Willensentscheidungen in den der Person gegebenen Grenzen auch frei sind. Subjektiv erfahren Menschen diese Freiheit auf verschiedenen Ebenen, zum einen dadurch, dass sie sich als Autor des Handelns wahrnehmen, zum anderen in Situationen des Reaktions- und Handlungsaufschubs oder auch der Handlungsalternativen, die Menschen in die Lage versetzen, dieses oder aber auch etwas ganz anderes zu tun, vielleicht sogar keine der Handlungsalternativen zu wählen (Freiheitsbewusstsein).
Aus der Tatsache, dass implizite (unbewusste) wie explizite (bewusste) Handlungsanteile allein der in ihren Grenzen frei handelnden Person zuzuordnen sind, ist zu folgern, dass sie es ist, der ihr Tun zuzurechnen ist, wofür ihr dann auch die Verantwortung zukommt. Verantwortung ist an Regeln und Prinzipien orientiert und hat Adressaten. Das soziale Gefüge im Blick formuliert Kant („Kritik der praktischen Vernunft“) den kategorischen Imperativ, eine allgemeine und unbedingte Sollensvorschrift, nach der der Mensch sein Handeln ausrichten soll: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“
Verantwortung für sein Tun zu haben, schließt ein, dass ich gegebenenfalls schuldig werden kann, indem ich gegen gegebene Regeln und Prinzipien, die ein soziales Zusammenleben garantieren, verstoße. In der psychologischen und auch psychiatrischen Begutachtungssituation von Menschen, die gegen Gesetze verstoßen, geht es hierbei nicht um die moralische Dimension und Bewertung von Schuld, sondern vielmehr immer um die Frage, ob es Gründe gibt, die Menschen nicht oder nur eingeschränkt fähig machen, Schuld (Verantwortung) für ein bestimmtes gesetzeswidriges Handeln zu übernehmen. Unser Strafrechtssystem setzt die Willensfreiheit des Menschen gleichsam als Axiom voraus. Nur deshalb ist auch der allgemeine Schuldvorwurf legitim. Insofern steht auch nicht seitens der psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen die Begutachtung der Handlungsfreiheit eines Straftäters an, eher geht es in der Analyse des engeren und weiteren Tatgeschehens und seiner Determinanten um die Frage einer möglichen Einschränkung von Freiheitsgraden, „d.h., der Nachweis von Unfreiheit ist eher möglich als der von Freiheit“ (Rasch & Konrad, 2004, S. 74). Der Sachverständige hat in der Beurteilung eines Straftäters und seiner Handlungen „bis zum Beweis des Gegenteils“ grundsätzlich von dessen Willensfreiheit auszugehen. In aller Regel werden die Freiheitsgrade auch nicht dadurch eingeschränkt, dass Motive strafbaren Handelns (in Teilen) als unbewusst einzustufen sind. Es ist weitgehend psychologischer Konsens, dass die unbewussten die bewussten Handlungsdeterminanten an Bedeutung übertreffen. Rasch und Konrad führen hierzu aus: „Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, dass Handeln aus dem Unbewussten das Häufigere, das ‚Normale‘ und Alltägliche ist.“ Insofern ist auch nicht deshalb, weil ein strafbares Handeln u. a. unbewussten Motiven entspringt, die ja „ohne die Mitwirkung bewusstseinsnaher Instanzen der Persönlichkeit“ nicht handlungswirksam werden, dieses von vornherein zu exkulpieren (vgl. Rasch & Konrad, 2004, S. 203). Der Sachverständige hat in der Begutachtung von Tätern strafbarer Handlungen demnach stets systemimmanent von einer freien Willensbildung und der Zurechenbarkeit des Tuns auszugehen, jedenfalls so lange sich keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Einschränkung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit nahelegen.
1 Der Marburger Psychologieprofessor Frank Rösler äußert in einem Interview, in dem es um Fragen der neurobiologischen Unterstützung psychoanalytischer Annahmen geht: „Was wir bei der Bildgebung de facto sehen, ist nichts anderes als eine Veränderung der Durchblutung im Gehirn. Das ist alles. Was wir damit machen, ist eine Interpretation der Daten in Abhängigkeit von der Anordnung des Experiments“ (Sentker & Blumenthal, 2006).
2 Ähnlich äußert sich der frühere Leiter des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Professor Fritz Henn in einem Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu den hirnbiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens: „… wir müssen das System verstehen – und das tun wir noch lange nicht. Deshalb finde ich auch die deutsche Diskussion über den freien Willen etwas unsinnig. Sicher lässt sich die gesamte Hirnaktivität letztlich auf Moleküle zurückführen. Aber sicher ist auch, dass die Komplexität des Systems Gehirn ungeheuer groß ist. Und wie schwer solche Systeme zu durchschauen sind, wissen wir aus der Physik“ (Die Zeit Nr. 27, 29.06.2006).
3 Mit der Thematik der Freiheit oder des Determinismus des Willens hat sich freilich eingehend die Philosophie befasst und positioniert (s. z. B. Holzamer, 1990). Schnädelbach (2004) kritisiert denn auch, dass Hirnforscher, die einen „neuronalen Determinismus“ vertreten, nicht sachkundig sind und „souverän alles ignorieren, was zumindest in den letzten fünf Jahrzehnten philosophisch zu ihrem Thema gesagt wurde“. Die philosophische Tradition spricht davon, dass der Mensch ständig die Möglichkeit der Wahl besitzt, so oder anders zu handeln, von einem „Vermögen“ des freien Willens.
2 „Normal“, „abnorm“, „gestört“, „verrückt“, „gesund“, „psychisch krank“ – was heißt das eigentlich?
In einer dpa-Meldung vom Juli 2006 (Ärzte Zeitung, 25.07.2006), in der das Forschungsergebnis einer Studie berichtet wird, lautet die Überschrift: „Neun von zehn Häftlingen haben psychische Störungen“. In Printmedien finden sich Schlagzeilen wie „der kranke Messerstecher“, „das abnorme Sexmonster“, „der schizophrene Amokfahrer“. „Wenn ein besonders widerwärtiges Verbrechen geschieht, wenn bei einer Gewalttat kein Motiv zu erkennen – oder wenn es nicht nachzuvollziehen ist, wenn ein Gesetzesbrecher sich ‚uneinfühlbar’ verhält, konfrontiert uns die Boulevardpresse unweigerlich mit Schlagzeilen wie ‚irre Mörder‘, ‚gemeingefährliche Geisteskranke‘ oder ‚verrückte Sexualverbrecher‘“ (Finzen, 1996, S. 38). Ein Pressekommentar zum Urteil im Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ trägt den Titel „Pervers und abartig“. Nicht wenige Meldungen über Straftäter sind mit Attribuierungen verbunden, die sich auch einer psychologischen oder psychiatrischen Terminologie bedienen.
Was heißt das aber, wenn wir Begriffe wie „normal“, „abnorm“, „gestört“, „verrückt“, „gesund“, „psychisch krank“ verwenden? Was meinen wir eigentlich, wenn wir beispielsweise von einem normalen sexuellen Verhalten, von einer normalen sexuellen Orientierung sprechen? Sollen wir es etwa als normal ansehen, wenn sehr viele, nämlich zigtausende von Menschen auf Internetseiten kinderpornographischen Inhalts zugreifen?
„Normal“ bedeutet etymologisch „der Norm, der Vorschrift entsprechend“, „gewöhnlich“, „allgemein üblich“, „durchschnittlich“, „geistig gesund“. „Abnorm“ steht für etymologische Varianten wie „nicht normal“, „gegen die Regel“, „ungewöhnlich“, „krankhaft“. Das Abnorme ist ebenso vielgestaltig wie die Norm, auf die es sich bezieht. So kann z.B. die Bezugnahme erfolgen auf eine
- Statistische Norm (abnorm wäre dann das Ungewöhnliche),
- Idealnorm (abnorm wäre ...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1 Willensfreiheit, eine Illusion? Eine alte und neue Kontroverse – die Frage nach der Verantwortlichkeit
- 2 „Normal“, „abnorm“, „gestört“, „verrückt“, „gesund“, „psychisch krank“ – was heißt das eigentlich?
- 3 Beurteilung der Schuldfähigkeit – mögliche Konsequenzen
- 4 Begutachtung
- 5 Ausgewählte forensische Problemfelder und Darstellungen von Gutachtenfällen
- 6 Ausblick
- Literatur
- Stichwortverzeichnis