1 Bildung: Was ist das?
Geschichte und AktualitÀt des Bildungsbegriffs
Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung, kontroverse Meinungen
âBildungâ ist ein spezifisch deutscher Begriff, der seiner Vieldeutigkeit wegen nur schwer in andere Sprachen ĂŒbersetzbar ist. In einigen fremdsprachigen Publikationen wird daher der deutsche Ausdruck ĂŒbernommen.8 Er ist zugleich ein zentraler Begriff der deutschen Sprache, was auf seine kulturelle Bedeutung aufmerksam macht â er taucht in zahlreichen Wortverbindungen auf. Einige Beispiele: Bildungstheorie/Bildungstrieb/Bildungswerk/Bildungsmittel/Bildungsnot/Bildungskatastrophe/Bildungsphilister/BildungsbĂŒrger/Halbbildung/Vorbildung/Bildungsgehabe/Schulbildung/BildungsstĂ€tte/Bildungswesen/Bildsamkeit/BildungsfĂ€higkeit/BildungslĂŒcke/Jugend-, Alten-, Seelen-, Geistes-, Körper-, MĂ€nner- und Frauenbildung/innere und Ă€uĂere Bildung/Verbildung/Interkulturelle Bildung/Weiterbildung/ElitĂ€re Bildung/Bildungsferne Schichten/Bildungsprivileg/Charakterbildung/Bildungsprozess/Bildungsresultat/Bildungsstufen/Bildungsroman/Ein-, Aus-, Um- und Scheinbildung.
Was bedeutet hier jeweils âBildungâ â oder auch: Was sollte dieser Begriff von seiner Geschichte her bedeuten? Ist die âBildungâ in der Berufsbildung gleichzusetzen mit jener der Charakterbildung? Die naturwissenschaftliche mit der geisteswissenschaftlichen Bildung? Gibt der zweifellos inflationĂ€re Gebrauch des Bildungsbegriffs jenen Recht, die auf ihn lieber verzichten und stattdessen Begriffe wie Sozialisation, Lernen oder Erziehung verwenden wĂŒrden?9 Haben Vertreter der empirischen Bildungsforschung Recht mit dem Vorwurf, der unprĂ€zise Bildungsbegriff sei empirischer PrĂŒfung nicht zugĂ€nglich â also nicht wissenschaftlich aufzuklĂ€ren?
Ist man mit seiner Auflösung in forschungszugĂ€ngliche Begriffe wie Qualifikation, Grundkompetenz, entwicklungsgemĂ€Ăer Kenntnisstand, manuelle Fertigkeit, KommunikationsfĂ€higkeit, emotionale Kompetenz usw. nicht besser bedient? Oder ist das Gegenargument nachvollziehbar, dass sich der Bildungsbegriff notwendig einer eindeutigen Definition entzieht â und zwar zum Vorteil der Bildung und ihrer Institutionen? Stimmt es, dass âdie AufschlĂŒsselung der Bildung in empirisch fassbare Komponentenâ zeigt, âdass sich mit Bildung eng verknĂŒpfte PhĂ€nomene wie Verantwortung, Freiheit, Liebe, die sich in ihren qualitativen Elementen der Operationalisierung entziehen, nicht durch empirische Verfahren einfangen lassenâ?10 Und weiter: FĂŒhren Begriffsverschiebungen in bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Verlautbarungen zu unter UmstĂ€nden problematischen Zeitgeist-Akklamationen an technokratisch und ökonomisch ausgerichtete Ausbildungsmaximen (âWissenâ wird zur âInformationâ, âKönnenâ zur âKompetenzâ, âFĂ€higkeitâ zu âHumankapitalâ, âSoziales FeingefĂŒhlâ zu âSozialkapitalâ usw.)? Verlangt die sogenannte âWissensgesellschaftâ ein neues BildungsverstĂ€ndnis?11 Benötigen wir eine Aktualisierung und Modernisierung des Bildungsbegriffs?12 Sollte âBildungâ in verschiedenen pĂ€dagogischen Handlungsfeldern â wie z.B. der Ganztagsschule, der SozialpĂ€dagogik oder der beruflichen Schulung â nicht unterschiedlich definiert werden?13 WĂŒrde das jedoch nicht zu einer Parzellierung der PĂ€dagogik in unverbundene Segmente fĂŒhren, die neben anderen Autoren Dietrich Benner mit seiner Bildungstheorie zu ĂŒberwinden trachtete?14 Wird Erziehung (und damit Bildung) heute tatsĂ€chlich zunehmend durch Sozialisation ersetzt, d.h., werden Kinder heute sehr viel stĂ€rker als in der Vergangenheit durch Massenmedien, Gleichaltrigen-Gruppen und andere auĂerpĂ€dagogische Instanzen geprĂ€gt?15 Beobachten wir in unseren Schulen eine Abkehr von der anspruchsvollen Bildung zugunsten einer âFast-Food-Bildungâ â und betrifft das Wort âBildungâ in beiden FĂ€llen den gleichen Sachverhalt?16 Kommen in Wortverbindungen wie Halbbildung, BildungsbĂŒrgertum oder Bildungsgebaren nicht problematische oder sogar schĂ€dliche Seiten dessen zum Ausdruck, was in Deutschland mit diesem Begriff gemeint ist? Ist der Bildungsbegriff vielleicht sogar ein âdeutsches Syndromâ, ein verhĂ€ngnisvolles Deutungsmuster, das im 19. Jahrhundert den Blick fĂŒr die soziale Wirklichkeit verdeckte, indem es gesellschaftliche Probleme (wie die Ausbeutung von Menschen im Rahmen der Industrialisierung) âvergeistigteâ?17 Ist der mit einem âtraditionell humanistischen Menschenbildâ verbundene Bildungsbegriff ĂŒberholt, weil dieses Menschenbild angesichts moderner Bio- und Nanotechnologien âausgedientâ hat?18 Stimmt das anklagende Urteil des Althistorikers Manfred Fuhrmann, dass Bildung und Kultur Begriffe sind, die gegenwĂ€rtig zerredet, missbraucht, geschunden werden â und denen es gut tĂ€te, âwenn sie eine Weile geschont wĂŒrdenâ?19 Fragt der Germanist und Goethe-Kenner Albrecht Schöne mit guten GrĂŒnden danach, was mit den groĂen Werken unserer Dichtung und ĂŒberhaupt mit schriftlichen Zeugnissen aus alter Zeit geschieht, âwenn das Fundament der Bildung zusammenbricht und niemand sie mehr versteht?â Ist dies Zeichen âeines wachsenden Verfalls von Kulturâ?20 PrĂ€sentiert der Erziehungswissenschaftler JĂŒrgen Oelkers eine einleuchtende Diagnose mit der Behauptung, man könne in der neuen bildungspolitischen Ăra nach den PISA-Vergleichsstudien auf den Anspruch verzichten, in der Schule Bildung zu vermitteln: Die Schule sei keine Bildungs-, sondern eine Lehranstalt zur Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten?21 Aber: Was ist hier wie in allen anderen FĂ€llen mit dem Wort Bildung gemeint? Was ist das: Bildung?
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schrieb in einer lesenswerten Schrift zur Geschichte des Bildungsbegriffs:
âDer Begriff Bildung ruft auch heute noch bei jedem eine Reihe unbestimmter Assoziationen hervor. Wenn wir uns Rechenschaft ablegen ĂŒber deren Bedeutungsumfang, stoĂen wir auf die Opposition von Bildung und Ausbildung. WĂ€hrend Ausbildungen als Vielheit bestehen, lĂ€sst sich âBildungâ nicht in den Plural setzen. Der Begriff Bildung ruft Einheits-, UniversalitĂ€ts- und TotalitĂ€tsideale auf und tritt mit dieser Aura als ErgĂ€nzung und Korrektiv neben das gezielte Erwerben von Spezialwissen und Sachkompetenz. Die Bildungsidee stellt den Kontrapost dar zur Tendenz wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Wissens. Sie erinnert daran, dass es nicht nur darauf ankommt, was man kann, was man weiĂ, sondern auch darauf, wer man ist. Wer ĂŒber der Fachausbildung diese Dimension der Menschenbildung vernachlĂ€ssigt oder ganz vergisst, galt frĂŒher als Banause, spĂ€ter als Fachidiot. Im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte sich âBildungâ als unĂŒbersetzbares Wort fĂŒr eine im Kern deutsche Erfindung und Institution. Damit war der Anfang einer Geschichte markiert, die wir hier in groben ZĂŒgen nachzeichnen wollen. Der Bildungsbegriff changiert zwischen utopischem Ideal und politischem Programm. Ihn als rein deskriptiven Begriff einer Sozialgeschichte einzusetzen heiĂt, die Innenbeleuchtung des PhĂ€nomens, die im Begriff selbst wirksame Energetik zu unterschĂ€tzen.â22
Auch Aleida Assmann, die Bildung mit dem kulturellen GedĂ€chtnis gleichsetzt, kommt am Ende ihrer Untersuchung zu einer skeptischen Betrachtung des Bildungsbegriffs: Mit der âAusdifferenzierung kultureller WertsphĂ€renâ sei es schwieriger geworden, noch so etwas wie einen orientierenden Bildungskanon zu proklamieren. Zwar lasse die âPerformativitĂ€t des Bildungsdiskursesâ die Frage nach den UrsprĂŒngen des Bildungsbegriffs zu, nicht aber die nach seinem Entwicklungsweg oder gar seinem möglichen Ende.23 Diese Idee, dass in einer komplexer werdenden Welt auch ein neuartiges BildungsverstĂ€ndnis erforderlich wird, hat seit vielen Jahren auch in der PĂ€dagogik viel Resonanz gefunden. So kann z.B. gefragt werden, ob man fĂŒr Bildungserfahrungen aufschlussreiche biografische Analysen so ohne weiteres in Gestalt eines Tableaus von PhĂ€nomenen zusammenstellen kann oder aber genauer untersuchen mĂŒsste, ob sich darin historische Konstellationen artikulieren, die auch bildungstheoretisch unterschiedlich zu interpretieren sind. Das betrifft unter anderem die Erfahrungen, die sich aus der komplexer werdenden Struktur moderner Gesellschaften ergeben: Hinterlassen diese ihre Spuren nicht auch in neueren individuellen Biografien?24 Dennoch möchte ich zeigen, dass eine genaue PhĂ€nomenologie der Bildung deren Polyvalenz, ihre Zukunftsoffenheit, aber auch ihre âEnergetikâ oder ihre âPerformativitĂ€tâ, d.h. ihr auch in âhochkomplexen Gesellschaftenâ wirksames Potential fĂŒr schöpferische sinngebende Lebensorientierungen demonstriert.
Wenn wir diese dem facettenreichen Bildungsbegriff innewohnende Energetik, d.h. seine fĂŒr die individuelle Entwicklungsorientierung produktive Kraft verstehen und damit eine begrĂŒndete Position in der erwĂ€hnten kontroversen Diskussion des Bildungsbegriffs einnehmen wollen, so bieten sich mindestens vier Wege der Erkenntnisgewinnung an: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bildungsbegriffs, die Analyse der Botschaften, die in sogenannten Bildungsromanen zu finden sind, die Auswertung biografischer Berichte ĂŒber wichtige Bildungserfahrungen bzw. -erlebnisse und eine exemplarische Analyse verschiedener â expliziter oder impliziter â symptomatischer Definitionen dieses Begriffs. Diese vier ZugĂ€nge werden nun genauer besprochen, wobei der Beitrag von Bildungsromanen, die man ja eigentlich in ihrer Ganzheit lesen mĂŒsste, nicht unmittelbar zur AufklĂ€rung des Bildungsbegriffs herangezogen werden kann. Immerhin ist es hier möglich und sinnvoll, auf den wichtigen Beitrag dieses literarischen Genres zur Begriffsgeschichte von Bildung aufmerksam zu machen und in Gestalt einiger Zitate auf Bildungsaspekte hinzuweisen, die in solchen Romanen zur Sprache kommen. Besonderes Gewicht werde ich auf die Darstellung verschiedener Beispiele aus der biografischen Literatur legen, da man hier einen sehr lebensnahen Einblick in die vielfĂ€ltigen Entstehungs- und ĂuĂerungsformen der Bildung gewinnen kann. HĂ€ufig geht es dabei um SchlĂŒsselerfahrungen, in deren Zusammenhang der eigene Bildungstrieb und das eigene Bildungspotential erfahren werden. Dieser Blick in Lebensgeschichten und -episoden kann helfen, bildungstheoretische Ăberlegungen zu beleben, Reflexionen also zu bereichern, die ihrerseits wieder eine Ordnung des impressionistisch ausgebreiteten Materials ermöglichen.
Es scheint mir allerdings sinnvoll zu sein, diese vier ZugĂ€nge oder Rekonstruktionsgenres nicht streng getrennt zu behandeln, da gerade die Beleuchtung bestimmter elementarer Attribute des Bildungsbegriffs erst durch die Betrachtung aus allen vier Denkrichtungen ihre aufklĂ€rende Kraft gewinnt. So werde ich z.B. im Zusammenhang mit Nietzsches Kritik am schulisch herbeigefĂŒhrten Verlust der ErlebnisfĂ€higkeit dieses wichtige Motiv anhand biogra fischer und bildungstheoretischer Beispiele auch aus unserer Gegenwart vertiefen. Die AufklĂ€rung des Bildungsbegriffs durch Beispiele seiner historischen Entwicklung (erster Zugang) wird hier also ergĂ€nzt durch âAusflĂŒgeâ in den biografischen Teil (dritter Zugang) und in gegenwĂ€rtige bildungstheoretische oder schulpolitische Diskussionen (vierter Zugang). Analog scheint es mir sinnvoll zu sein, im Abschnitt ĂŒber eine BildungserzĂ€hlung (zweiter Zugang), in der es um die âBrechungâ der IndividualitĂ€t eines SchĂŒlers geht, diesen fĂŒr die moderne PĂ€dagogik zentralen Begriff etwas genauer zu betrachten, und zwar am Beispiel biografischer Berichte ĂŒber âIch-Erlebnisseâ (dritter Zugang) und durch Hinweise auf die gegenwĂ€rtige kritische Diskussion dieses Begriffs (vierter Zugang). Erst diese Einbettung jener Romanschilderung in den IndividualitĂ€tsdiskurs dĂŒrfte die Brisanz jener erzĂ€hlten Episode deutlich machen.
Die groĂe Anzahl an Beispielen, der eher unsystematische, assoziative Darstellungsstil, das neugierige Umhergehen im Garten der Beispiele und die WillkĂŒr der daran anknĂŒpfenden Gedanken bringen fĂŒr Leserinnen und Leser allerdings die Gefahr mit sich, ErmĂŒdungserscheinungen zu entwickeln. Es wird jedoch deutlich werden, dass gerade die Vielfalt von Bildungsaspekten, die mit diesem Verfahren sichtbar wird, wesentlich fĂŒr die PhĂ€nomenologie der Bildung ist â denn es geht eigentlich nicht um einen âBegriffâ im traditionellen Sinn des Wortes, sondern um eine Bedeutungslandschaft, um ein semantisches Tableau. Ob man dasselbe nur punktuell, nur in einzelnen Passagen und Beispielen, ob man es in einem Zug oder temporĂ€r aufgesplittert kennen lernen mö chte, ist eine Angelegenheit der individuellen Leseökonomie. Ich vermute jedenfalls, dass dieser beispielreiche Durchgang durch verschiedene Umschreibungen, Erfahrungsberichte, Definitionen und literarische Fiktionen allmĂ€hlich ein inneres Bi ld dessen entstehen lĂ€sst, was der Begriff Bildung meint. Ebenso dĂŒrfte deutlich werden, dass dieses innere Bild die Konstitutionsbedingungen einer aufgeklĂ€rten und humanen PĂ€dagogik veranschaulicht â dass es ein âEnergiezentrumâ im Sinne der zitierten Aussage Aleida Assmanns fĂŒr jede pĂ€dagogische Praxis sein kann.
Zur Geschichte des Bildungsbegriffs: Einige Motive
Zur Geschichte des Bildungsbegriffs gibt es inzwischen eine reichhaltige Fachliteratur.25 Sie zeigt uns, dass dieser Begriff zwar auf das Hochmittelalter (und die althochdeutsche Sprache) zurĂŒckgeht, im Verlauf seiner Geschichte aber auch durch Elemente bereichert wurde, deren Herkunft man bis in die griechische und römische Antike zurĂŒckverfolgen kann. Einige dieser historischen Motive seien hier skizziert (vgl. Abbildung 1):
Abb. 1: Einige Begriffe und Theorien aus der europÀischen Geschichte, die in den modernen Bildungsbegriff eingegangen sind
Der â unter anderem von Platon verwendete â altgriechische Begriff euplastos (und seine grammatischen Varianten) wird ĂŒblicherweise mit dem Wort bildsam bzw. bildsamer Mensch ins Deutsche ĂŒbersetzt, meint aber ursprĂŒnglich die VerĂ€nderbarkeit nicht zuletzt auch des körperlichen Ausdrucks seelisch-geistiger Eigenschaften durch erzieherische EinflĂŒsse.26 Das Kind ist aus dieser Perspektive gleichsam plastizierbar, also durch Erziehung formbar wie eine kĂŒnstlerische Skulptur.27 Diese Ausdrucksform der Bildung nicht zuletzt auch im körperlichen Habitus â in der Art des Gehens, Sprechens, der Gesten und GebĂ€rden â dĂŒrfte bis heute eine wesentliche Facette des Bildungsbegriffs sein (daher wird d...