ReligionspĂ€dagogik entscheidet sich am Religionsbegriff. Es gibt einen substantiellen und einen funktionalen Religionsbegriff. Hinzu kommen in der ReligionspĂ€dagogik AnsĂ€tze zu einem diskursiven Religionsbegriff, der Religion als eine Praxis versteht, die je nach Kontext und Erfahrungshintergrund der Lernenden individuelle Aushandlungsprozesse darĂŒber entwickelt, was unter Religion zu verstehen sei und Religion bedeutet.1 In der Religionswissenschaft plĂ€diert Adrian Hermann ebenfalls fĂŒr eine diskursive Perspektive auf Religion, die Unterscheidungen von Religion nicht religionstheoretisch einfach postuliert, sondern Religion in Differenz zu anderen Religionen und systemtheoretisch in Differenz zu anderen Bereichen wie Wissenschaft, Politik, Kunst oder Ethik rekonstruiert, die alle nicht Religion sind.2 Substantielle Religionsbegriffe gehen dagegen von religiösen Inhalten und ihrem Wahrheits- und Geltungsanspruch aus und versuchen zu erklĂ€ren, was das Wesen von Religion ist. Funktionale Religionsbegriffe beziehen Religion auf ein bestimmtes Problem, fĂŒr das Religion zustĂ€ndig sei, z. B. die Kontingenz menschlichen Lebens, der Sinn des Lebens oder der gesellschaftliche Zusammenhalt. Substantielle Definitionen der Religion erklĂ€ren also, was Religion ist; funktionale Definitionen erklĂ€ren, was Religion leistet; diskursive loten im Reden ĂŒber Religion aus, wovon man spricht, wenn man von Religion redet.3 Die ReligionspĂ€dagogik greift auf Studien mit funktionalen und diskursiven Religionsbegriffen zurĂŒck, um »das religiöse Feld« (Bourdieu) beschreiben zu können, in dem sie agiert. Die Bedingungen dieses Feldes Ă€ndern sich unentwegt. Zugleich arbeitet die ReligionspĂ€dagogik als theologische Disziplin auch mit einem substantiellen Religionsbegriff. Dieser versteht Religion als Ausdruck des Glaubens an Gott oder das Göttliche. Heute steht Religion unter den Bedingungen der SĂ€kularitĂ€t und einer sĂ€kularen Kultur, die Religion einerseits zur Privatsache erklĂ€rt, andererseits als Zivilreligion öffentlich noch immer in Gebrauch nimmt. Religion wird also immer wieder anders verstanden.
1.1 Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs
Die Etymologie des Wortes Religion, lateinisch: religio, ist unklar.4 Moderne Etymologen neigen der Ableitung des Wortes Religion von lateinisch religare: »zurĂŒckbinden, an etwas befestigen« zu. »Religio bedeutet dann ursprĂŒnglich dasselbe wie obligatio, nĂ€mlich âșVerbindlichmachung, Verpflichtungâč.«5 Im biblischen Glauben war Religion stets mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Es wurde zwischen âșwahrerâč und âșfalscherâč Religion und damit âșwahrerâč und âșfalscherâč Gottesverehrung unterschieden.6 Von der Antike bis in die Zeit der Reformation werden Religion (religio) und Glaube (fides) synonym gebraucht. Augustinus titelt seine Apologie (Verteidigung) des christlichen Glaubens De vera religione (390 n. Chr.). Thomas von Aquin (1225â1274) definiert: Religio est quae Deo debitum cultum affert. Duo igitur in religione considerantur. Unum quidem quod religio affert [âŠ] Aliud autem est id cui affertur, scilicet Deus. (»Religion ist, was Gott die geschuldete Verehrung verschafft. Zweierlei wird also bei der Religion bedacht: einmal das, was sie Gott darbringt [âŠ], zum anderen aber, wem es dargebracht wird, nĂ€mlich Gott:« STh II-II 81,5c.). Noch knapper formuliert Thomas von Aquin an gleicher Stelle: Religio proprie importat ordinem ad Deum (»Religion ist im eigentlichen Sinn Hinordnung des Menschen auf Gott:« S.th. II-II 81,1c.). Bei Luther sind extra Christum omnes religiones [âŠ] idola (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst. â WA 40 II, 110 f.; vgl.WA 40 I, 514)7. Zwingli stellt seine reformatorische Glaubenslehre unter dem Titel De vera et falsa religione commentarius (1525) vor, Calvin unter dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion. Letzte Fassung 1559). Immer geht es, wenn hier von Religion gesprochen wird, um die richtige Gottesverehrung. Gott ist das Thema der Religion. Diese IdentitĂ€t von Religion und Gottesgauben tritt im neuzeitlichen Religionsbegriff auseinander.
Der neuzeitliche Religionsbegriff entstand im Gefolge der Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts. Der Konflikt der einander aggressiv bekĂ€mpfenden Glaubensrichtungen war verheerend. Religion wird nun zu einem Begriff, der die verschiedenen Glaubensbekenntnisse toleriert, ohne ihren theologischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch entscheiden zu wollen. Alle sind Religion. Darin gibt es keinen Unterschied. Der neuzeitliche Begriff der Religion verhĂ€lt sich der Wahrheitsfrage gegenĂŒber abstinent und weist den Wahrheitsanspruch eines Bekenntnisses der PrivatsphĂ€re zu, wo er entschieden werden mag. Er verhĂ€lt sich Glaubensfragen und Glaubensinhalten gegenĂŒber neutral. Religion wird »zu einem formalen Begriff, unter dem sich sehr unterschiedliche inhaltliche Konkretionen vorstellen lassen. Vom Begriff der Religion als solchem geht keine KlĂ€rungsambition hinsichtlich ihrer WahrheitsfĂ€higkeit mehr aus. Ihre Angemessenheit wird allein am MaĂstab ihrer SozialvertrĂ€glichkeit bemessen.«8
Die in der Wahrheitsfrage tolerante Religion steht im 17. Jahrhundert gegen den unduldsamen Dogmatismus der Konfessionen. Auf diesen Religionsbegriff greifen die AufklĂ€rer und Theologen nach der AufklĂ€rung, sofern sie die AufklĂ€rung rezipieren, zurĂŒck. Sie gebrauchen einen allgemeinen Religionsbegriff, der im Grunde fĂŒr alle Religionen zutrifft, und machen so die von der Philosophie nach der AufklĂ€rung bedrĂ€ngte christliche Theologie fĂŒr einen allgemein bleibenden Diskurs wieder gesprĂ€chsfĂ€hig. Das Pathos dieser BemĂŒhung schwingt schon im Titel der Religionsschrift von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768â1834) mit: »Ăber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerĂ€chtern« (1799). Schleiermacher bestimmt darin Religion als »Sinn und Geschmack fĂŒrs Unendliche«9 und er wurde mit dieser Bestimmung zum wohl einflussreichsten evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, mit Wirkungen bis in die ReligionspĂ€dagogik der Gegenwart hinein.10
Schleiermacher wendet sich in seiner Schrift »Ăber die Religion« (1799) an seine â der Untertitel sagt es schon â aufgeklĂ€rten und gebildeten Zeitgenossen, die, wie er einrĂ€umt, aus durchaus nachvollziehbaren GrĂŒnden mit Religion abgeschlossen haben.
»Von alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden, [âŠ] Jetzt besonders ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem, was ihr auch nur Ă€hnlich wĂ€re. Ich weiĂ, daĂ Ihr eben so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht, daĂ es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter gibt, als die SprĂŒche der Weisen und die GesĂ€nge der Dichter, und daĂ Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem GemĂŒte Besitz genommen haben, daĂ fĂŒr das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts ĂŒbrig bleibt, und Ihr keine GefĂŒhle habt fĂŒr dasselbe und mit ihm. Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daĂ Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedĂŒrfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr ĂŒberhoben, an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darĂŒber einig, ich weiĂ es, daĂ nicht Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann ĂŒber diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dĂŒrfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten zur GenĂŒge bearbeitet ist. Am wenigsten â das kann niemandem entgehen â seid Ihr geneigt, von den letzteren darĂŒber etwas zu hören, welche sich Eures Vertrauens schon lĂ€ngst unwĂŒrdig gemacht haben, als solche, die nur in den verwitterten Ruinen des Heiligtums am liebsten wohnen, und auch dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiĂ ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen Notwendigkeit, die mich göttlich beherrscht, gedrungen, zu reden, und kann meine Einladung, daĂ gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurĂŒcknehmen.«11
Diesen Zeitgenossen, fĂŒr die er viel VerstĂ€ndnis aufbringt und Empathie zeigt, legt Schleiermacher ein VerstĂ€ndnis von Religion vor, das ihre Schwierigkeiten mit Religion, wie er hofft, eigentlich ausrĂ€umen mĂŒsste. Religion, sagt Schleiermacher, ist nicht das Festhalten an Glaubensinhalten und besteht im Kern nicht in der Verpflichtung auf eine Tradition und ihre Institution, sondern kommt aus der Anschauung des â nicht nĂ€her bestimmten â Universums, welche die stĂ€rksten GefĂŒhle im Menschen hervorzubringen vermag. Und diese GefĂŒhle, möchte Schleiermacher zeigen, rĂŒhren nicht von irgendwelchen GegenstĂ€nden. Es muss etwas anderes sein, das den Menschen angesichts seiner Selbstwahrnehmung im Universum gleichsam anspringt und wie eine Macht berĂŒhrt und dem der Mensch in seinem Innern antwortet, indem er aufnimmt und reflektiert, was ihn da berĂŒhrt. So gestaltet der Mensch in seinem Innern Religion. »Alles Anschauen gehet aus von einem EinfluĂ des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprĂŒnglichen und unabhĂ€ngigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemÀà aufgenommen, zusammengefaĂt und begriffen wird.«12
Schleiermachers Definition der Religion als »Sinn und Geschmack fĂŒrs Unendliche«13 ist, wie man sieht, einem allgemeinen Religionsbegriff verpflichtet, der sich von Glaubenslehren und religiösen Traditionen abwendet und nur mit den Voraussetzungen fĂŒr Religion beschĂ€ftigt. Die auf diese Weise von der Natur des Menschen her bestimmte Religion sichert der Theologie ihr Feld. Es ist klar abzugrenzen von dem der Ethik und Philosophie. In Religion geht es weder um Ethik noch um Philosophie. »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und GefĂŒhl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andĂ€chtig belauschen, von seinen unmittelbaren EinflĂŒssen will sie sich in kindlicher PassivitĂ€t ergreifen und erfĂŒllen lassen.«14 Ethik befasst sich mit Moral, Philosophie mit Metaphysik. Gegenstand der Religion ist das, was die Anschauung des â nĂ€her nicht bestimmten â Universums im Innern des Menschen weckt und hervorbringt. Religion findet der Mensch auf diese Weise in sich selbst. Diese Disposition zu Religion teilt er mit allen Menschen. Deshalb ist die »Menschheit« der Ort, an dem wir reichlich »Stoff fĂŒr die Religion« finden15. GesprĂ€chsfĂ€hig und auf Augenhöhe mit den anderen Wissenschaften ist die Theologie, wenn sie sich auf ihr Feld der Religion beschrĂ€nkt. »So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter dadurch, daĂ sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gĂ€nzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefĂŒllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet.«16 »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fĂŒrs Unendliche.«17
Wenn Religion so der Natur des Menschen entspricht, warum gedeiht sie dann nicht? Schleiermacher macht dafĂŒr eine Kultur des VernĂŒnftigen und Praktischen verantwortlich, die schon das innere Leben eines Kindes nicht achte. Schleiermacher befasst sich in seiner Religionsschrift deshalb auch mit Erziehung (vgl. dazu nĂ€her Kapitel 2). Es sind »die verstĂ€ndigen und praktischen Menschen, diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr groĂes Ăbergewicht ist die Ursache, warum sie eine so dĂŒrftige und unbedeutende Rolle spielt. Von der zarten Kindheit an miĂhandeln sie den Menschen und unterdrĂŒcken sein Streben nach dem Höheren.«18 Der religionssensible Erzieher belehrt nicht und ĂŒbt keinen Zwang aus. Ohne Erziehung geht es nicht. Aber der religionssensible Erzieher zieht sich zurĂŒck, sobald der Sinn fĂŒr Religion geweckt ist. »Jeder Mensch, wenige AuserwĂ€hlte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines AnfĂŒhrers, der seinen Sinn fĂŒr Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorrĂŒbergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zutage fördern zu den SchĂ€tzen der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhĂ€lt auch keinen. Ihr habt recht, die dĂŒrftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem andern ableiten, oder an einer toten Schrift hĂ€ngen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum, der Religion ein Denkmal, daĂ ein groĂer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie wĂŒrde er einen so groĂen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.«19 Dementsprechend ist die Basis der Glaubenslehre, die Schleiermacher zuerst 1821/22 und in ĂŒberarbeiteter zweiter Auflage 1830/31 publiziert, nicht die Dogmatik â diesen Begriff vermeidet er â im Sinne einer Darstellung von Glaubensinhalten, sondern die Religion, die im »frommen Selbstbewusstsein« sich bildet. Religion ist »frommes Selbstbewusstsein«. Sie entsteht im Wissen des Menschen um sich selbst angesichts des Grundes seines Daseins, den er nicht gemacht hat und der ihn ĂŒbersteigt und mit dem âșGefĂŒhl der schlechthinnigen AbhĂ€ngigkeitâč von diesem Grund â religiös âșGottâč genannt â zurĂŒck lĂ€sst. »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen ĂuĂerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern GefĂŒhlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daĂ wir unsrer selbst als schlechthin abhĂ€ngig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewuĂt sind«20