Früh Zusammenarbeiten:
Kooperative Aufgaben und Lösungsansätze
Vernachlässigung und Misshandlung Erkennen und Handeln
Ute Ziegenhain
Vernachlässigung und Misshandlung als chronische Beziehungserfahrung
Vernachlässigung und Misshandlung sind Formen der Kindeswohlgefährdung. Neben den Formen körperlicher und emotionaler Vernachlässigung sowie den Formen körperlicher und psychischer Misshandlung wird außerdem sexueller Missbrauch gewöhnlich unter Kindeswohlgefährdung gefasst.
Misshandlung und Vernachlässigung sind häufig chronisch und Bestandteil der täglichen Beziehungserfahrung eines Kindes. Zwar kann es sich auch um einzelne, episodische Begebenheiten handeln, vielleicht weil die Familie unter hoher aktueller Belastung steht. Häufiger aber handelt es sich um eine Palette von Verhaltensweisen, die, wie bei Misshandlung, von abwertenden Äußerungen oder Drohungen über harsches und ruppiges Handling etwa beim Wickeln bis hin zu körperlicher Gewalt reichen. Bei Vernachlässigung handelt es sich um die Bandbreite zwischen mangelnder emotionaler Verfügbarkeit und Aufsicht (Monitoring) des Kindes bis hin zu unzureichender Gesundheitsfürsorge, Hygiene und Ernährung.
Die Grenzen zwischen Vernachlässigung und Misshandlung lassen sich als fließend beschreiben, wobei körperliche Misshandlung die am leichtesten erkennbare Form sein dürfte. Vernachlässigung wiederum wurde, auch wegen des eher schleichenden Verlaufs, lange weniger beachtet, obwohl sie wesentlich häufiger vorkommt. Viele der tragischen Fälle, die mit dem Namen der betroffenen Kinder verbunden sind und über die als Spitze des Eisberges in der Presse berichtet wird, beginnen mit früher Vernachlässigung. Allerdings gibt es in Deutschland außer der äußerst selektiven und allein täterorientierten polizeilichen Kriminalstatistik keine Statistik über Kinderschutzfälle. Insofern lässt sich die Anzahl vernachlässigter und misshandelter Kinder in Deutschland nur schätzen. Danach wachsen 5 % aller Kinder in Verhältnissen auf, in denen ein Risiko für Vernachlässigung besteht, d.h. ca. 30 000 Kinder jedes Geburtsjahrgangs (http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his =0.2.20.4640.5168.5232.5233). Ähnlich schätzen Esser und Weinel (1990), dass etwa 5–10 % aller in Deutschland lebenden Kinder von Vernachlässigung betroffen sind. Gemäß US-amerikanischer Statistiken lassen sich etwa 3 % aller Todesfälle von Kindern auf Misshandlung oder Vernachlässigung zurückführen (Kindler et al., 2006). Im ersten Lebensjahr sterben mehr Kinder in der Folge von Vernachlässigung und Misshandlung als in jedem späteren Alter. Dabei ereignen sich 77 % aller misshandlungsbedingten Todesfälle in den ersten 48 Lebensmonaten (US Department of Health and Human Services, 1999; Ziegenhain et al., 2007).
Neben Hämatomen, Platzwunden, Knochenbrüchen oder Verbrennungen bzw. Verbrühungen liegen hohe misshandlungsbedingte Gefährdungen im Säuglings- und Kleinkindalter in Schütteltraumata oder inneren Blutungen mit nicht selten fatalen entwicklungsneurologischen bzw. schlimmstenfalls tödlichen Folgen. Typische Vernachlässigungsformen im Säuglingsalter sind unterlassene Aufsicht oder unterlassener Schutz oder Gedeihstörungen (bis hin zum psychosozialen Minderwuchs) aufgrund unzureichender Ernährung. Akute Gefährdungen liegen in erhöhten Unfallrisiken bei Säuglingen und Kleinkindern oder in der Gefahr raschen Austrocknens bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr (Ziegenhain, 2006).
Vernachlässigung ist das Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses. In einer komplexen Wechselwirkung beeinflussen und verstärken sich unterschiedliche Risikofaktoren gegenseitig negativ. Zu diesen Risiken gehören z. B. Armut, fehlende soziale Unterstützung in der Familie, biografische Belastungen der Eltern, wie etwa die, dass Eltern in ihrer eigenen Kindheit misshandelt oder vernachlässigt wurden, psychische Erkrankungen oder Alkohol-/Drogenmissbrauch (Kindler et al., 2006). Besondere Belastungen auf Seiten des Kindes wie schwieriges Temperament oder gesundheitliche Belastungen bzw. Behinderungen, wie sie in der Folge etwa von Suchtproblemen auftreten können, erhöhen das Gefährdungsrisiko der Kinder (z.B. chronisch rezidivierende Bronchitis, Alkoholembryopathie). Hinzu kommt häufig die Unfähigkeit, ein funktionierendes soziales Netz aufrechtzuerhalten, so dass mögliche positive und kompensierende Beziehungen ausfallen. Zusammenfassend lassen sich Vernachlässigung und Misshandlung als eine extreme Manifestation elterlicher Probleme charakterisieren. Sie zeigen sich in der Entgleisung und im Versagen adäquaten elterlichen Verhaltens.
Eingeschränkte elterliche Erziehungs-/Beziehungskompetenzen zeigen sich beispielsweise in Problemen, sich nicht flexibel auf die verändernden Bedürfnisse des Kindes einstellen zu können, Probleme, die eigenen Bedürfnisse von denen des Kindes nicht getrennt wahrnehmen zu können, verzerrte Wahrnehmungen der kindlichen Signale, gefolgt von verzerrten Interpretationen und Zuschreibungen sowie feindseligem, aggressiven Verhalten bis hin zu misshandelndem Verhalten oder vernachlässigendem Verhalten.
Besonderheiten in der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit
Die enge Verschränkung zwischen Kindeswohlgefährdung bzw. Vernachlässigung und frühen Bindungsproblemen spiegelt sich in der Qualität der Eltern-Kind-Interaktion. Danach lassen sich Verhaltensprobleme und -auffälligkeiten oder (drohende) Kindeswohlgefährdung bei Säuglingen und Kleinkindern nur im Kontext von spezifischen Bindungsbeziehungen interpretieren. Dies ist eine wesentliche Schlussfolgerung der klinischen Bindungstheorie und -forschung.
Insbesondere Säuglinge und Kleinkinder sind physisch wie psychologisch in hohem Maße auf elterliche Fürsorge angewiesen. Dabei werden in der frühen Kindheit nahezu alle Erfahrungen, die Säuglinge und Kleinkinder machen, von ihren Eltern vermittelt und gesteuert. In der alltäglichen Eltern-Kind-Interaktion werden wichtige Entwicklungskompetenzen von Kindern grundgelegt, wie der Umgang mit Belastungen beziehungsweise die Entwicklung einer zunehmenden Kompetenz, belastende Veränderungen in der Umgebung einzuschätzen und zu bewältigen. Dazu gehören etwa die Fähigkeit, sich zunehmend flexibler an eine rasch wechselnde Umgebung anzupassen, die Fähigkeit, physiologische und emotionale Erregungszustände sowie Verhalten zu regulieren oder die Fähigkeit zur aktiven und passiven Bewältigung von Stress. Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben ist Voraussetzung, um sich der Umwelt offen zuwenden zu können.
Diese Kompetenzen entwickeln sich im Kontext einer wechselseitig positiven und unterstützenden Beziehung mit den Eltern. In einer solchen sicheren Bindungsbeziehung unterstützen Eltern die physiologische, emotionale und Verhaltensregulation ihrer Säuglinge und sind ihnen eine „externe Regulationshilfe“. Sie zeigen feinfühliges Verhalten. Feinfühliges Verhalten lässt sich als intuitive und kontinuierliche Unterstützung bei der Regulation der wechselnden Erregungsniveaus und der emotionalen Befindlichkeit des Säuglings beschreiben. Diese Verschränkung zwischen elterlicher Unterstützung und kindlichem Wohlbefinden lässt sich nicht nur im interaktiven Verhalten, sondern gemäß neueren neurobiologischen Forschungsbefunden bis in die Gehirnentwicklung des Kindes nachvollziehen. Bindungsbeziehungen beeinflussen, positiv oder negativ, die Funktion und Struktur des sich entwickelnden Gehirns. Insofern lässt sich von einer psychobiologischen Regulation in der Bindungsbeziehung sprechen (Ziegenhain, 2009).
Demgegenüber werden vernachlässigte und misshandelte Säuglinge und Kleinkinder in ihren Regulationsbemühungen von ihren Eltern nicht nur unzureichend unterstützt. Sie erfahren vielmehr schlimmstenfalls überhaupt keine Unterstützung beziehungsweise erfahren durch ihre Eltern massives Leid. Sie erleben Deprivation und/oder sind massiv feindseligem, bedrohlichem oder aggressiv übergriffigem elterlichen Verhalten ausgesetzt. Sie erleben häufige Episoden von Angst oder erleben diese gar als chronischen Bestandteil ihrer Beziehungserfahrungen.
Entwicklungsrisiken bei schweren und wiederholten traumatischen Erfahrungen liegen darin, dass Stresshormone verstärkt ausgeschüttet werden und emotionale Bewertungen von Erfahrungen, wie sie in der Amygdala im limbischen System stattfinden, zunehmend negativ verstärkt und chronisch aktiviert werden. Relativ zu ihren Entwicklungskompetenzen sind Säuglinge und Kleinkinder dann nicht in der Lage, die mit misshandelndem Verhalten verbundene übermäßige Erregung und Schreckreaktionen flexibel zu regulieren. Sie entwickeln häufig auch längerfristig keine adäquaten Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress. Einige Autoren sehen hochunsichere Bindung, wie sie im entwicklungspsychologischen Sprachgebrauch definiert ist, analog zu Bindungsstörungen gemäß der kinderpsychiatrischen Klassifikation (ICD-10; DSM-IV; Zeanah, 1996). Es sind überwiegend schwer vernachlässigte und früh traumatisierte und misshandelte Kinder, die mit einer Bindungsstörung diagnostiziert werden. Es geht also um massive Deprivationsfolgen, die sich im Kontext einer Bindungsbeziehung manifestieren.
Zusammenfassend können Eltern oder andere enge Bezugspersonen den Entwicklungsverlauf eines Kindes entscheidend fördern, aber auch behindern. Hier liegt gleichzeitig aber auch eine große Chance und ein Ansatzpunkt der frühen und rechtzeitigen Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen. Verhaltensprobleme und -auffälligkeiten oder (drohende) Kindeswohlgefährdung bei Säuglingen und Kleinkindern lassen sich nur im Kontext von spezifischen Bindungsbeziehungen interpretieren. Das bedeutet, dass die Qualität elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen eine zentrale Informationsquelle für die Einschätzung von Risiken bei (drohender) Kindeswohlgefährdung ist.
Interaktionsdiagnostik zur Risikoeinschätzung von Vernachlässigung und Misshandlung
Relevante Risikoindikatoren beziehen sich insbesondere auf die Qualität der aktuellen elterlichen Kompetenzen. Beginnende Entgleisungen elterlichen Verhaltens bzw. Hinweise auf Belastungen beim Säugling etwa infolge überstimulierenden oder harschen und aggressiven ebenso wie unterstimulierenden Verhaltens zeigen sich (zunächst) in der Beziehungsdynamik.
Insbesondere bei jungen Kindern sind Verhaltensbeobachtung und videogestützte Interaktionsdiagnostik ein bewährtes, aber bisher in Praxis und Klinik kaum verwendetes Verfahren. Sie ergänzen die bestehenden und etablierten Verfahren der Risikoeinschätzung im Kinderschutz. Nicht für sich allein...