Inklusion
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Inklusion

Eine Kritik

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About this book

Die schulische Inklusion ist heute ein allseits akzeptiertes Ziel. Ein Mehr an Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung kann nur begrĂŒĂŸt werden. Allerdings bleiben in der Inklusionsdebatte viele der anstehenden Fragen ungeklĂ€rt, darunter auch solche grundsĂ€tzlicher Art. Sie beziehen sich auf das Fernziel einer "inklusiven" Gesellschaft, das weitreichende Versprechen einer neuen Bildungsgerechtigkeit und gewagte pĂ€dagogische Konzepte, die dazu fĂŒhren, dass die BedĂŒrfnisse behinderter Kinder nur noch unzureichend beachtet werden. Vor unrealistischen Erwartungen, die mit einem radikalen InklusionsverstĂ€ndnis einhergehen, wird gewarnt. Mit der Inklusion beginnt kein neues Zeitalter der PĂ€dagogik: Die Grenzen des Möglichen und Sinnvollen mĂŒssen gesehen und anerkannt werden.

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Information

Year
2016
Print ISBN
9783170315983
eBook ISBN
9783170316003
Edition
3

1

Zum gegenwÀrtigen Stand schulischer Inklusion

Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat dazu gefĂŒhrt, dass die einzelnen BundeslĂ€nder gravierende VerĂ€nderungen im Schulsystem anstreben und sie zum Teil bereits umgesetzt haben. Eine vermehrte gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung ist dabei das einvernehmliche Ziel. Eine spezielle Beschulung gilt nunmehr als im besonderen Maße begrĂŒndungspflichtig, sie wird eher als Ausnahme denn als Regelfall angesehen. Sonderschulen wird es deshalb in Zukunft weniger als bisher geben, das ist sicher, und andere spezielle pĂ€dagogische Settings wohl auch.
Zwischen den einzelnen BundeslĂ€ndern bestehen aber nicht unerhebliche Differenzen in der Frage, welche Rolle spezielle schulische Einrichtungen kurz-, mittel- oder langfristig spielen sollen. Einige BundeslĂ€nder setzen darauf, Schulen fĂŒr Kinder mit einem Förderbedarf im Bereich des Lernens, der emotional-sozialen und sprachlichen Entwicklung schnellstmöglich aufzulösen, andere Sonderschulen sollen dem in absehbarer Zeit folgen – bis auf sehr wenige Ausnahmen. Andere LĂ€nder gehen moderater vor, indem sie eine schrittweise Reduzierung spezieller Schulen anstreben, ohne dass grundsĂ€tzlich auf sie verzichtet werden soll. Insofern unterscheiden sich die BundeslĂ€nder nicht nur im eingeschlagenen Reformtempo, sondern auch in den Vorstellungen darĂŒber, wie die Inklusion pĂ€dagogisch verantwortlich, fachlich begrĂŒndet und mit optimalen Erfolgsaussichten umgesetzt werden kann.
Bereits 1994 hatte die Kultusministerkonferenz empfohlen, dass ein spezieller Förderbedarf nicht mehr zwangslĂ€ufig zu einer Sonderbeschulung fĂŒhren soll. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wurde zum vornehmlichen Ziel erklĂ€rt. Die sich daran anschließende Entwicklung ist von einer ganzen Reihe von Parametern abhĂ€ngig, unter anderem davon, wie hĂ€ufig ein Förderbedarf vergeben wird. Betrachtet man die letzten zehn Jahre, dann zeigt sich, dass die Förderquoten kontinuierlich angestiegen sind. Verantwortlich dafĂŒr sind vor allem VerĂ€nderungen in den Bereichen geistige, emotional-soziale und sprachliche Entwicklung. Im Schulbesuchsjahr 2010/2011 wurde mit einem Förderbedarf bei 6,3 Prozent aller SchĂŒler der bisherige Höchststand erreicht (Dietze 2012, 26 f.) – das ist ein Wert, der international im Mittelbereich liegt (EADSNE 2012).
Damit einher geht eine leichte Steigerung der Sonderschulbesuchsquoten und eine stĂ€rkere bei einer gemeinsamen Unterrichtung. Da die Integrationsquoten im genannten Zeitraum aber nicht betrĂ€chtlich angestiegen sind, wird die Mehrzahl der SchĂŒler mit sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf nach wie vor an speziellen Schulen unterrichtet. Die Integrations- bzw. Inklusionsquote liegt im Schuljahr 2010/2011 bei 22,2 Prozent (Dietze 2012, 28), mit erheblichen Variationen zwischen den einzelnen Behinderungsarten und starken regionalen Unterschieden.
Der höchste Anteil integriert/inkludiert beschulter Kinder und Jugendlicher findet sich in den BundeslĂ€ndern Schleswig-Holstein, Berlin und Bremen mit Werten zwischen 49,3 und 41,0 Prozent. Die geringsten Quoten weisen Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt auf, sie liegen zwischen 8,5 und 16,9 Prozent. Das ist der gegenwĂ€rtige Stand: Er geht auf unterschiedliche Integrationstraditionen in den einzelnen BundeslĂ€ndern zurĂŒck und mischt sich mit den Folgen von Umsteuerungsprozessen, die bisher in Richtung Inklusion erfolgt sind.
Beachtet werden muss dabei, dass die genannten Quoten auf ungleichen Ausgangslagen beruhen. Die einzelnen BundeslĂ€nder differieren in ihren Förderquoten erheblich. Über den höchsten Wert mit 11,3 Prozent verfĂŒgt Mecklenburg-Vorpommern, gefolgt von Sachsen-Anhalt (9,7 %), Brandenburg (8,5 %), und Sachsen (8,4 %), die niedrigsten Quoten verzeichnen Rheinland-Pfalz (4,5 %) und Niedersachsen (4,8 %) (Dietze 2012, 26 ff.).
Die GrĂŒnde dafĂŒr sind vielfĂ€ltig. Sie liegen zum einen in der soziographischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die mit unterschiedlichen sozialen Belastungen einhergeht. FĂŒr die Genese von Lern-, Sprach- oder Verhaltensstörungen ist das ein bedeutendes Faktum, und auch bei körperlichen und SinnesbeeintrĂ€chtigungen erweisen sich soziale Faktoren als nicht einflusslos. Insofern ist bereits aus diesem Grund mit Ungleichverteilungen zwischen den BundeslĂ€ndern zu rechnen. Zum anderen spielen neben der Zusammensetzung der SchĂŒlerschaft auch allgemeine schulische Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle: Unter anderem die Struktur des Schulsystems, die VerfĂŒgbarkeit von innerschulischen Beratungs- und UnterstĂŒtzungsangeboten sowie von vor- und außerschulischen Hilfen. Die Gestaltung und QualitĂ€t der unterrichtlichen Praxis ist eine weitere wichtige EinflussgrĂ¶ĂŸe, die darĂŒber (mit)entscheidet, ob sich bestimmte (schulische) Entwicklungsprobleme abmildern, verfestigen oder gar verschĂ€rfen. Unterschiedliche BewertungsmaßstĂ€be und Diagnosepraktiken kommen als ein gewichtiger Faktor hinzu.
Um in diesem hochkomplexen Feld Zuordnungs- und Entscheidungsprozesse transparenter zu gestalten, wird vielfach gefordert, die Erhebung des Förderbedarfs solle objektiviert werden. Mit Hilfe stÀrker standardisierter Erhebungsverfahren und zum Teil auch dadurch, dass eine zentralisierte Diagnostik angestrebt wird, die schulunabhÀngig erfolgt. LÀnderspezifische und regionale DisparitÀten könnten auf diesem Weg reduziert oder gar ausgeglichen werden, so lautet die dahinter stehende Erwartung und Hoffnung. Sie richtet ihren Blick zugleich auf die kontinuierlich steigenden Kosten, die mit den anwachsenden Förderbedarfen einhergehen.
Ganz sicher ist es ein lobenswertes Ziel, dafĂŒr einzutreten, dass diagnostische Entscheidungen transparenter werden. Einige regionale DisparitĂ€ten stechen ins Auge und es bedarf der AufklĂ€rung darĂŒber, warum sie so ausgeprĂ€gt existieren (Dietze 2011; Lehmann & Hoffmann 2009). Zweifel sind aber angebracht, ob der vorgeschlagene Weg zu einem gehaltvollen Ergebnis fĂŒhrt, einem solchen, das sich pĂ€dagogisch als tragfĂ€hig erweist. Ob ein Förderbedarf sinnvollerweise, das heißt zum Wohle des Kindes ausgesprochen wird, hĂ€ngt in den allermeisten FĂ€llen von einem komplexen schulischen und außerschulischen BedingungsgefĂŒge ab, in das unter anderem die soeben genannten Faktoren eingehen. Seit langem und zu Recht wird im Fachdiskurs davon ausgegangen, dass sich die Existenz einer Behinderung nicht mehr nur an der Person festmachen lĂ€sst. Äußere Rahmenbedingungen bedĂŒrfen gleichermaßen einer gezielten Aufmerksamkeit, damit eine behindernde Umwelt als eine solche erkannt und verĂ€ndert werden kann. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) bietet dazu ein bedeutendes, weithin anerkanntes Referenzsystem (Hillenbrand 2013).
Der sonderpĂ€dagogische Förderbedarf bedarf deshalb einer engen Anbindung an die schulische (und außerschulische) Lebens- und Lernsituation des Kindes, ohne ihre BerĂŒcksichtigung lĂ€sst er sich kaum adĂ€quat formulieren. Die Herausnahme dieser diagnostischen Aufgabe aus dem Schulalltag muss deshalb kritisch gesehen werden. Ebenso wie der aus Schulverwaltungssicht verstĂ€ndliche, pĂ€dagogisch aber wenig fruchtbringende Versuch, ĂŒber objektivierende Erhebungen zu vergleichbaren Kennzahlen zu gelangen. Sofern sie vornehmlich personenbezogen ermittelt werden, was naheliegt, verdunkeln sie den Blick auf ein hochkomplexes Feld, das eine solche KomplexitĂ€tsreduktion nicht erlaubt.
Bei der Betrachtung des Einzelfalles in seiner sozialen Einbindung sind dem Streben nach ObjektivitĂ€t Grenzen gesetzt. Diagnostische Bewertungen und Entscheidungen mĂŒssen plausibel und nachvollziehbar dargestellt werden, das ist eine SelbstverstĂ€ndlichkeit. Subjektive Sichtweisen und Bewertungen lassen sich dabei aber nicht gĂ€nzlich ausschließen und situativen Gegebenheiten kommt einiges Gewicht zu; jedes Kind ist in seiner individuellen Lebenssituation zu erfassen. Das oberste Ziel muss es sein, dass einem Kind die besten Entwicklungsmöglichkeiten eingerĂ€umt werden – und diese sind nun einmal in ein persönliches BedingungsgefĂŒge eingebunden und von den Gegebenheiten vor Ort abhĂ€ngig. Insofern kann es sehr wohl verantwortlich sein, wenn ein bestimmtes Kind einen sonderpĂ€dagogischen Förderbedarf erhĂ€lt und ein anderes nicht, obgleich sich ihre objektiv beschreibbaren Daten Ă€hneln oder fast identisch sind.
Aus diesen und den anderen bereits genannten GrĂŒnden ist es schwierig, die unterschiedlichen Förderquoten der einzelnen BundeslĂ€nder wertend zu vergleichen. Dazu gibt es zu viele ungeklĂ€rte Fragen: Soll ein hĂ€ufig vergebener Förderbedarf als ein Indikator dafĂŒr gelten, dass bestimmte SchĂŒler die ihnen gebĂŒhrende Aufmerksamkeit erhalten? Werden sie deshalb besser gefördert? Oder wird eine entsprechende Diagnose zu schnell und leichtfertig erstellt? Zum Schaden der unnötig etikettierten Kinder oder gar, weil in erster Linie die schulische Ausstattung verbessert werden soll? Wird ein Förderbedarf deshalb vergleichsweise selten gestellt, damit Kinder vor einem Sonderstatus geschĂŒtzt werden? Oder unterbleibt dadurch eine gezielte Hilfestellung, auf die manche Kinder dringend angewiesen sind? Die Reihe der Fragen ließe sich weiter ergĂ€nzen. Eine aussagekrĂ€ftige Antwort darauf steht im LĂ€ndervergleich bisher aus.
Auch bedĂŒrfen die unterschiedlichen Integrations-/Inklusionsquoten der einzelnen BundeslĂ€nder einer sorgsamen Interpretation. ZunĂ€chst einmal scheinen die BundeslĂ€nder im Vorteil, die das grundlegend wĂŒnschenswerte Prinzip einer gemeinsamen Beschulung am stĂ€rksten umgesetzt haben. Sie sind am weitetesten auf dem Weg zur Inklusion fortgeschritten, so heißt es. Aber stimmt das wirklich? Allein der Umstand, dass gemeinsam beschult wird, erlaubt noch kein Urteil darĂŒber, ob die damit verbundenen Ziele auch erreicht werden. Es sei denn, es gilt nur ein einziges Kriterium, das der Gemeinsamkeit aller, unabhĂ€ngig von allen sonstigen Folgen. Stein warnt deshalb vor voreiligen Schlussfolgerungen: »Die in der Diskussion dominante, sehr schlichte Betrachtung von Integrationsquoten wird der KomplexitĂ€t der TatbestĂ€nde nicht gerecht. Eine hohe Integrationsquote sagt noch nichts ĂŒber die tatsĂ€chliche Integration bzw. die QualitĂ€t inklusiver Beschulung von Kindern und Jugendlichen aus« (Stein 2012, 191).
Von einem selbstverstĂ€ndlichen Gelingen darf hier ebenso wenig ausgegangen werden wie in anderen schulischen Organisationsformen – die Sonderschulen eingeschlossen. Wichtige Kriterien erfolgreicher schulischer Arbeit sind die soziale Einbindung eines Kindes in die Klasse, seine emotionale Befindlichkeit, die behinderungsspezifische Förderung und nicht zuletzt seine schulische Leistungsentwicklung. Kein System wird auf allen Ebenen zugleich eine optimale Lösung anbieten können. Es kommt deshalb darauf an, dass die genannten Ziele in einem ausbalancierten VerhĂ€ltnis zueinander stehen. So, dass der grĂ¶ĂŸtmögliche Gewinn erzielt wird und die Nachteile gering ausfallen. Eine ideale Lösung wird es nicht geben: Die Anforderungen, die an die inklusive Schule gestellt werden, sollten sich daher im realistischen Rahmen dessen halten, was Schule vermag.
Ein Wettstreit zwischen den BundeslĂ€ndern um die höchsten Inklusionsquoten ist aus den genannten GrĂŒnden nicht unproblematisch. So wĂŒnschenswert hohe Inklusionsquoten im Prinzip auch sind: Allein auf sich gestellt, fĂŒhren sie nur zu begrenzt belastbaren Daten. Zumal dann, wenn politisch motiviert Umdefinitionen erfolgen, die es ermöglichen, dass spezielle pĂ€dagogische Settings in die Landesstatistiken nicht mehr als solche eingehen (vgl. Rauh, Laubenstein & Auer 2012, 24).
FĂŒr den innereuropĂ€ischen oder gar weltweiten Vergleich besteht die gleiche Problematik. Sie verschĂ€rft sich aber insofern, als die politischen, kulturellen, pĂ€dagogischen und institutionellen Rahmenbedingungen noch sehr viel stĂ€rker differieren. Hinzu kommt, dass der Behinderungsbegriff uneinheitlich definiert wird und sich die Erhebungsmerkmale erheblich voneinander unterscheiden (WHO 2011). So werden Kinder mit dem hiesigen Förderbedarf Lernen und emotional-soziale Entwicklung in einigen Staaten gar nicht gesondert als förderbedĂŒrftig ausgewiesen. Auch wirft die vergleichende Betrachtung von Schulsystemen einige Fragen auf.1
Dennoch ist unverkennbar, dass Deutschland im europĂ€ischen Raum eine besonders hohe Sonderschulbesuchsquote (4,3 %) aufweist, die nur noch von Belgien in beiden Landesteilen (5,5 %; 4,8 %) ĂŒbertroffen wird. Ebenfalls hohe Werte finden sich in der Slowakei (3,8 %), in Lettland (3,7 %) und in den Niederlanden (2,7 %). Einer der GrĂŒnde dafĂŒr dĂŒrfte darin liegen, dass in vielen LĂ€ndern Kinder mit Behinderung schulisch deutlich weniger erfasst werden, wie etwa in Schweden, Luxemburg, Spanien, Italien oder England (EADSNE 2012, 37 ff.). In Bulgarien oder RumĂ€nien sind die Beschulungsquoten behinderter Kinder extrem gering. In ihrer Mehrzahl gehen sie dort ĂŒberhaupt nicht zur Schule (WHO 2011, 204).
Aber auch unterschiedliche Integrationserfahrungen spielen eine Rolle. Viele andere LĂ€nder verfĂŒgen ĂŒber eine sehr viel lĂ€ngere Tradition der gemeinsamen Unterrichtung: Mit einem dementsprechend reichen Erfahrungsschatz, persönlichen Haltungen und pĂ€dagogischen Qualifikationen, die dieser Aufgabe zugute kommen. Insofern verfĂŒgen sie ĂŒber einige Vorteile. Ob dies durchgĂ€ngig fĂŒr alle LĂ€nder mit hohen Integrations-/Inklusionsquoten gilt, sei dahin gestellt. Die gegenwĂ€rtige Forschungslage jedenfalls ermöglicht dazu keine klare Aussage. Die »Analyse vorliegender Forschungsliteratur« fĂŒhrt nĂ€mlich zu dem »eher nĂŒchterne[n] Fazit, dass sowohl in der Historischen PĂ€dagogik â€șinternational vergleichende Untersuchungen in der Regel fehlenâ€č (LĂŒth 2000, 100) als auch in der Vergleichenden PĂ€dagogik â€șdie Erforschung der transnationalen Zivilgesellschaft im Bildungsbereich noch in den AnfĂ€ngenâ€č steht (Fuchs & Schriewer 2007, 146)« (Ellger-RĂŒttgardt 2013, 241).
Man sollte sich aber nicht tĂ€uschen: Auch die traditionell sehr integrationsbereiten und -erfahrenen, oftmals als Vorbilder angesehenen skandinavischen LĂ€nder verzichten nicht auf klassische Sonderschulen oder spezielle pĂ€dagogische Settings. Dazu Herz (2011, 33): »Eine inklusive SchulpĂ€dagogik und Kommunalpolitik scheint in den skandinavischen LĂ€ndern professionell umgesetzt zu werden; als Glanzlicht wird vor allem Finnland gepriesen. [Dabei] wird unterschlagen, dass Finnland 6 unseren Schulen fĂŒr Erziehungshilfe entsprechende Sonderschulen [
] vorhĂ€lt – eine Art Kleinstheimsonderschule –, 6 Kleinstschulen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie [
] bestehen sowie 3 geschlossene Unterbringungen fĂŒr etwa 30 – 40 Heranwachsende.« Das ist fĂŒr ein so bevölkerungsschwaches Land keine geringe Zahl, zumal Finnland kaum ĂŒber soziale Brennpunkte und nur geringe Migrantenquoten verfĂŒgt. In Finnland werden insgesamt 1,1 Prozent aller SchĂŒler in klassischen Sonderschulen unterrichtet, darĂŒber hinaus 2,7 Prozent in getrennten Spezialklassen in allgemeinen Schulen (EADSNE 2012, 21). Aufaddiert sind also 3,8 Prozent aller finnischen SchĂŒler betroffen; von den deutschen Sonderschulquoten ist dies nicht weit entfernt.
An diesen Zahlen ist die besondere geographische Lage nicht unbeteiligt: »40 % aller finnischen Schulen haben weniger als 50 SchĂŒler, 60 % haben weniger als sieben LehrkrĂ€fte. Über 500 SchĂŒler haben ganze 3 % aller Schulen« (von Freymann 2002, 1). Den Möglichkeiten, ein gegliedertes Schulsystem einzurichten, sind bereits dadurch kaum ĂŒberwindbare Grenzen gesetzt. Gleiches gilt fĂŒr den Aufbau eines differenzierten Sonderschulsystems. Die Zahl der SchĂŒler, die in speziellen Klassen unterrichtet wird, ist aber seit 1998 stetig angestiegen. »In 2008 upwards of 6,1 % of the students in comprehensive schools were placed in special classes at least part-time. The legitimization of the separate special class system is strong. In opposition to inclusion, the official policy promotes early intervention as a main area of development. The high legitimacy and constant growth of segregates special education can be understood as a consequence of the individual funding model, teacher professionalism and the Finnish value system originating from the late modernisation of overall society« (Saloviita 2009, 1).
Schweden kennt nur wenige Sonderschulen, dafĂŒr aber Sonderklassen, wenngleich nur in recht geringem Umfang (1,4 %; EADSNE 2012, 65). Allerdings hat sich die Zahl der Sonderklassen fĂŒr Kinder mit geistiger Behinderung seit Mitte der 1990er Jahre fast verdoppelt (gegenwĂ€rtig: 1,5 %; Barow 2011, 4). Ihre Existenz wird auch zukĂŒnftig nicht in Frage gestellt (Barow & Persson 2011, 22). Weiterhin bedeutet eine sogenannte integrative oder inklusive Beschulung nicht, dass alle Kinder tatsĂ€chlich gemeinsam unterrichtet werden; 2,3 % bis 3,1 % der schwedischen GrundschĂŒler verbringen »mindestens die HĂ€lfte ihres Unterrichts in gesonderten Lerngruppen« (Barow 2011, 4).
All das spricht nicht gegen die Integrations- und InklusionsbemĂŒhungen der genannten skandinavischen LĂ€nder, wohl aber gegen eine Idealisierung oder gar Idolisierung der dortigen VerhĂ€ltnisse. Institutionelle Differenzierungen werden auch in diesen LĂ€ndern vorgenommen, in einem nicht unbedeutenden Ausmaß, zwischen den Schulformen oder innerhalb der Gesamtschulsysteme. Von Freymann (2002) weist zudem darauf hin, dass sich die finnischen Schulen in ihrer fachlichen Ausrichtung und dem Unterrichtsniveau erheblich voneinander unterscheiden, sehr viel stĂ€rker als dies in Deutschland innerhalb einer Schulform der Fall ist.
Von der innerschulischen Struktur her mag das dortige Gesamtschulsystem vorteilhaft sein: Spezielle Settings können schneller eingerichtet, aber auch wieder aufgegeben werden. Diese grĂ¶ĂŸere FlexibilitĂ€t kann dazu beitragen, dass pĂ€dagogisch gezielter und letztlich effektiver gearbeitet werden kann.
Allerdings sind dort die Grundlagen der pĂ€dagogischen Arbeit andere: Generell weisen die skandinavischen LĂ€nder im Allgemeinen auffallend hohe Quoten speziellen Förderbedarfs auf. In Finnland liegt er nach neuesten Angaben bei 8,3 % aller SchĂŒler; zusĂ€tzlich erhalten 23 % der Kinder mit weniger gravierenden Lernproblemen eine zeitweilige spezielle UnterstĂŒtzung (EADSNE 2012, 21) – mit entsprechenden Folgen fĂŒr die Personalausstattung.
Diese kurzen AusfĂŒhrungen mĂŒssen an dieser Stelle genĂŒgen: Sie belegen, wie komplex sich die bildungspol...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. 1 Zum gegenwÀrtigen Stand schulischer Inklusion
  7. 2 Inklusion und Exklusion
  8. 3 Vielfalt, Normalisierung, Anerkennung
  9. 4 Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Oder: Was ist eine inklusive Gesellschaft?
  10. 5 Bedrohliche Differenzen
  11. 6 Bildungsgerechtigkeit
  12. 7 »Gute« und »schlechte« Menschen
  13. 8 Abschließende Überlegungen
  14. Literatur