II
Unterrichtsgestaltung
ADHD is not due to lack of skill or knowledge, but is a problem of sustaining attention, effort, and motivation, and inhibiting behavior in a consistent manner over time, especially when consequences are delayed, weak, or absent.« (Pfiffner, DuPaul & Barkley, 2006, p. 549)
Kinder und Jugendliche mit ADHS zeigen – neuropsychologisch bedingt – Besonderheiten im Verhalten, im Denken und auch in den Emotionen und der Motivation (
Kap. 1). Zahlreiche Anforderungen im Unterricht, z. B. still zu sitzen, alle relevanten Informationen systematisch zu erfassen, konzentriert und über einen längeren Zeitraum mitzuarbeiten, sich auf eine Sache zu fokussieren und ablenkende Reize auszublenden sowie bei auftretenden Schwierigkeiten durchzuhalten und sich weiter anzustrengen, können oft nur für kurze Zeit oder in Ansätzen bewältigt werden. In vielen Fällen folgen Unterrichtsstörungen, z. B. in Form von motorischer Unruhe, Dazwischen-Reden oder Ablenken anderer Kinder; oder die Kinder und Jugendlichen wirken abwesend, träumen und sind nicht bei der Sache (z. B. Frölich, Döpfner, Biegert & Lehmkuhl, 2002; Frölich, Döpfner & Banaschewski, 2014). Eine Beobachtungsstudie in Grundschulen konnte zeigen, dass Kinder mit Symptomen einer ADHS seltener im Unterricht aufmerksam mitarbeiten (on-task) als Kinder ohne diese Probleme. Allerdings fiel in dieser Studie auch auf, dass beide Gruppen in der beobachteten Zeit durchschnittlich mehr On-task- als Off-task-Verhalten zeigen, das unaufmerksame oder störende Verhalten nimmt folglich nur einen kleineren Teil der gesamten Unterrichtszeit ein (Lauth & Mackowiak, 2004).
Eine Reihe von Studien kann außerdem belegen, dass Schüler/innen mit einer ADHS in vielen schulischen Erfolgsmaßen schlechter abschneiden, obwohl deren intellektuelle Fähigkeiten in der Regel nicht eingeschränkt sind – auch wenn das von Lehrkräften oft angenommen wird. So sind sie häufiger von Rückstellungen, Klassenwiederholungen und Suspendierungen betroffen, und sie erreichen schlechtere Noten und Abschlüsse. Bis zu 80 % der von ADHS betroffenen Schüler/innen zeigen schulische Probleme (im Überblick Harris, Danoff Friedlander, Saddler, Frizzelle & Graham, 2005; Trout, Ortiz Lienemann, Reid & Epstein, 2007; DuPaul, Weyandt & Janusis, 2011). 20–30 % der Schüler/innen mit ADHS weisen sogar einen sonderpädagogischen Förderbedarf im (schulischen) Lernen auf (DuPaul & Stoner, 2014).
Für Lehrkräfte ist die Unterrichtsplanung und -gestaltung für Schüler/innen mit ADHS und Problemen beim schulischen Lernen besonders herausfordernd. Sie müssen mit den genannten Besonderheiten umgehen und eine gute Balance zwischen einer individuellen Unterstützung dieser Schüler/innen und der gleichzeitigen Beachtung der curricularen Anforderungen der Regelschule finden (Frölich et al., 2002). Da die Zusammensetzung einer Klasse in der Regel heterogen ist, fällt es nicht leicht, die große Bandbreite an Kompetenzen, Stärken, Interessen, Bedürfnissen und Schwierigkeiten (nicht nur von Kindern mit ADHS) bei der Unterrichtsplanung und -gestaltung zu berücksichtigen (Pfiffner, DuPaul & Barkley, 2006; Kiel, Frey & Weiß, 2013; Bönsch, 2014). Komplex wird das Unterrichten vor allem dadurch, dass zeitgleich viele unterschiedliche Prozesse ablaufen, die jeweils spezifische Anforderungen an die Lehrkräfte stellen. Diese müssen ansprechbar sein für die Belange der Schüler/innen, müssen Aufgaben geben und überprüfen, müssen mit Unterrichtsstörungen umgehen. Dabei kann immer etwas Unerwartetes passieren, und die Reaktionen der Schüler/innen lassen sich selten präzise vorhersagen.
Angesichts dieser Komplexität fühlen sich Lehrkräfte häufig überfordert, all diesen Anforderungen gerecht zu werden. Befragungen von Lehrkräften zeigen, dass der Anteil an Kindern mit einer (vermuteten) ADHS in der eigenen Klasse häufig überschätzt wird; so lagen die Angaben mit über 10 % (Lauth & Mackowiak, 2004; Ruhmland & Beckerle, 2014) etwa doppelt so hoch wie die im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) für Grundschulkinder in Deutschland ermittelte Prävalenz von gut 5 % (Schlack et al., 2007, 2014). Dies kann als Hinweis auf die Brisanz des Themas und auch auf die subjektiv erlebte Belastung von Lehrkräften interpretiert werden. Darüber hinaus äußern Lehrkräfte, dass sie sich wenig sicher in ihrem Wissen über ADHS fühlen (z. B. Schmiedeler, 2013) und ihnen insbesondere wirksame Maßnahmen im Umgang mit diesen Schüler/innen fehlen. So konnten Ruhmland und Beckerle (2014) in ihrer Fragebogenstudie mit über 100 Grundschullehrkräften zeigen, dass diese zwar recht viele Handlungsstrategien nennen konnten, aber nur etwa die Hälfte der genannten Maßnahmen auf der Basis der Fachliteratur als wirksam gilt. Die meisten Angaben beziehen sich auf korrektive Strategien im Rahmen der Klassenführung (z. B. den Einsatz von Verhaltensregeln und deren Konsequenzen), nur einige auf Maßnahmen zur Unterstützung kindlicher Lernprozesse (z. B. die Gestaltung von Materialien) und ganz wenige auf die emotionale Unterstützung und Beziehungsgestaltung (z. B. das Zeigen von Fürsorge). Auch in der Literatur zeigt sich ein ähnliches Bild: In vielen Studien werden Maßnahmen zur Veränderung des störenden Verhaltens von Kindern mit ADHS im Kontext Schule berichtet; weit weniger Befunde beziehen sich auf konkrete methodisch-didaktische Interventionen, die zudem positive Effekte auf das Lern- und Leistungsverhalten haben (z. B. Miranda, Jarque & Tárraga, 2006).
Die Gestaltung des Unterrichts und dessen Qualität haben wesentlichen Einfluss auf kindliche Lern- und Entwicklungsprozesse, wobei diese immer im Wechselspiel mit den individuellen Schülervoraussetzungen stehen. Die Lehrkraft gestaltet eine Lernumgebung mit vielfältigen Lerngelegenheiten, welche im Sinne eines Angebots von den Schüler/innen unterschiedlich genutzt werden kann (vgl. Angebot-Nutzungs-Modell, Helmke, 2003). Im Zentrum des Unterrichtsgeschehens stehen nicht nur die Leistungsentwicklung, sondern auch die Entwicklung von Motivation, Interesse und Lernfreude der Schüler/innen sowie die Verinnerlichung von Regeln (Disziplin) im Schulkontext (Klieme & Rakoczy, 2008). Die Arbeitsgruppe um Klieme (Klieme, 2006; Klieme et al., 2006; 2009) hebt hervor, dass es dabei nicht um den bloßen Einsatz von bestimmten Methoden, Medien oder Sozialformen geht – diese haben für sich genommen wenig Einfluss auf kognitive Entwicklungsprozesse. Vielmehr lässt sich die Unterrichtsqualität durch drei Basisdimensionen beschreiben, die sich a) auf das Klassenklima und die damit zusammenhängende Beziehungsgestaltung, b) die Aufbereitung fachlicher Inhalte und c) die Klassenführung beziehen (Klieme,
2006). Eine solche Strukturierung lässt sich in ähnlicher Weise auch in der internationalen Literatur finden lassen, so z. B. im Classroom Assessment Scoring System, einem Beobachtungsverfahren, das in den USA weit verbreitet ist, aber inzwischen auch in Deutschland Anwendung findet und sowohl in vorschulischen als auch schulischen Institutionen die Qualität der Interaktion zwischen Pädagog/innen und Kindern erfasst (CLASS, Pianta et al., 2008) (
Abb. 2).
Abb. 2: Dimensionen von Unterrichtsqualität
Das Klassen- oder Unterrichtsklima wird maßgeblich durch die Beziehungsgestaltung zwischen Lehrkraft und Schüler/innen sowie zwischen den Schüler/innen bestimmt; eine besondere Rolle spielt dabei die emotionale Unterstützung durch die Lehrkraft. Die Beziehungsgestaltung und das Klassenklima haben vor allem Einfluss auf die kindliche Lernmotivation, aber auch auf die Bereitschaft, sich entsprechend den Anforderungen der Lehrperson zu verhalten. Der Lernprozess der Kinder kann durch vielfältige Unterstützungsmaßnahmen der Lehrkraft mitgestaltet werden, wobei es darum geht, jedem Kind die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Hierbei kommt der kognitiven Aktivierung der Kinder eine große Bedeutung zu. Als Rahmenbedingung für das Zusammenleben und Lernen in der Klasse ist die Klassenführung (»classroom management«) anzusehen; diese trägt dazu bei, den Unterrichtsfluss zu gewährleisten und Störungen zu vermeiden, um die Lernzeit zu maximieren.
In den folgenden drei Kapiteln werden die drei oben genannten Dimensionen vorgestellt und spezifische Gestaltungsmöglichkeiten beschrieben. Grundsätzlich sind diese Maßnahmen für alle Kinder einer Klasse von Vorteil, weil sie das Lernen unterstützen und die Voraussetzungen dafür schaffen; worauf bei Kindern und Jugendlichen mit Problemen in der Aufmerksamkeit und Selbstregulation besonders zu achten ist, wird an den entsprechenden Stellen hervorgehoben.
3
Beziehungsgestaltung und Klassenklima im Kontext von ADHS
Christine Beckerle & Katja Mackowiak
Wie in der Einleitung bereits ausgeführt wurde, spielen die Beziehungsgestaltung und das Klassenklima eine bedeutsame Rolle für den Unterricht. Studien belegen, dass diese Dimension der Unterrichtsqualität die Lernmotivation und den Lernerfolg von Schüler/innen maßgeblich beeinflusst (Götz & Nett, 2011; Kiel, Frey & Weiß, 2013; Rüedi, 2014; The Australian Society for Evidence Based Teaching, 2015). Geprägt werden die Beziehungsgestaltung und das Klassenklima durch die Lehrpersonen, ihre emotionale Unterstützung gegenüber den Kindern und Jugendlichen und ihren Beitrag zur Entwicklung eines schülerorientierten Sozialklimas (Hattie, 2013). Die Tragweite dieser Unterrichtsdimension ist selbst in Expertenkreisen noch nicht völlig im Bewusstsein verankert. So kommentierte der anerkannte Unterrichtsforscher Andreas Helmke Folgendes zur bekannten Studie von John Hattie (2013):
»Überrascht hat mich zum einen das Ergebnis, wie wichtig die affektive, motivationale und emotionale Seite des Lernens ist, also der Beziehungsaspekt. In der bildungspolitischen Diskussion ist dieser Bereich ja gelegentlich mit einer gewissen Herablassung behandelt worden […]. Spätestens jetzt sollte es auch Hardlinern klar geworden sein, wie ungeheuer wichtig und nötig es beim Lernen ist, ein Klima zu haben, das von wechselseitigem Respekt, Wertschätzung und Vertrauen gekennzeichnet ist. Die Wahrnehmung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses aus Schülersicht steht von allen 138 Variablen immerhin auf Rang 11.« (Helmke & Reinhardt, 2013, S. 9)
Der empirische Forschungsstand zeigt, dass es Lehrkräften in Deutschland in der Regel gut gelingt, positive Beziehungen zu ihren Schüler/in...