III
Anwendungen
5
Aktive Imagination und Malen
Christa Henzler
»Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied. Damals begann es, und die späteren Einzelheiten sind nur Ergänzungen und Verdeutlichungen. Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewussten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete.
Es war der Urstoff für ein Lebenswerk.«
(C. G. Jung, in Jaffé, 2009, S. 222)
5.1 Imaginieren und Malen bei C. G. Jung
In diesem Zitat wird deutlich, dass die Arbeit mit den inneren Bildern und das heißt, die Arbeit mit und am Symbol, für C. G. Jung Dreh- und Angelpunkt sowohl für ihn persönlich als auch in seiner psychologischen Forschungstätigkeit war. Wenn Jung hier von seiner wesentlichen Erfahrung – nämlich den inneren Bildern zu folgen – spricht, dann können wir davon ausgehen, dass er damit schon die Methode der Aktiven Imagination anpeilt, die er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht so benennt. Er beschreibt sie allerdings in sehr eindrucksvoller Weise als eine Methode, die er für sich selbst entdeckt hat, in einer Zeit großer innerer Bedrängnis (ebd.). Schließlich hat er sie theoretisch aus- und aufgearbeitet als eine Methode unserer Selbsterforschung und persönlichen Entwicklung, in der wir uns bewusst unseren inneren Bildern zuwenden und diese als Ausdruck unseres innersten Seelenlebens verstehen. Die Arbeit mit den inneren Bildern bedeutet demnach, dass wir in ihnen unsere Möglichkeit zur Selbstentfaltung entdecken, sowohl in Bezug auf die Verarbeitung innerer und äußerer Konflikte (Arbeit an Komplexen) als auch in Bezug auf die Auseinandersetzung und Begegnung mit archetypischen inneren Gestalten, die uns Hinweise auf unser Entfaltungspotential geben. Wenden wir uns den inneren Gestaltungen zu, so können wir mit ihnen Begegnungen erleben, die uns oft überraschen. Die Aktive Imagination ist nun die Methode, mit der wir uns in geordneter und sogar auch in autodidaktisch strukturierter Weise unserer Bilder-Innenwelt zuwenden können, denn sie ist eine Methode, sich unabhängig von einem Therapeuten auf die Selbsterforschung und -entfaltung einzulassen.
Befasst man sich nun mit der Ausübung der Aktiven Imagination als therapeutischer Methode und als Möglichkeit der Selbsterfahrung, so begegnen wir heute verschiedenen Ansätzen des methodischen Zugangs. Jung selbst gibt eine sehr detaillierte Anleitung dazu, wenn er schreibt:
»Bei der Aktiven Imagination kommt es darauf an, dass Sie mit irgendeinem Bild beginnen […] Betrachten Sie das Bild und beobachten Sie genau, wie es sich zu entfalten oder zu verändern beginnt. Vermeiden Sie jeden Versuch, es in eine bestimmte Form zu bringen, tun Sie einfach nichts anderes als beobachten, welche Wandlungen spontan eintreten. Jedes seelische Bild, das Sie auf diese Weise beobachten, wird sich früher oder später umgestalten, und zwar aufgrund einer spontanen Assoziation, die zu einer leichten Veränderung des Bildes führt. Ungeduldiges Springen von einem Thema zum anderen ist sorgfältig zu vermeiden« (Jung, 2009, S. 76).
Oftmals ist es ein Traum, den wir nicht verstehen und den wir durch die Aktive Imagination zu entschlüsseln suchen oder auch ein unangenehmer Gefühlszustand, mit dem wir in die Aktive Imagination eintreten, wozu wir ein Bild kommen lassen und beobachten, wie es sich verändert. Wesentlich scheint mir in Jungs Auffassung, dass sich das Ich – das Ich verstanden als das Subjekt der Bewusstheit – in der Imagination so zu den Gestaltungen des Unbewussten verhält, wie das Ich sich auch zu den Begebenheiten der Alltagswirklichkeit verhielte. Das heißt, das Ich bewegt und verhält sich in der Aktiven Imagination so, wie es sich in seinem Wollen, Wissen, Können und Wahrnehmen auch in der realen Welt bewegen und verhalten würde. Vom Verständnis der Analytischen Psychologie aus gesehen, bedeutet dies, dass das Ich sich auf das Unbewusste bezieht, indem es in einen aktiven Dialog mit den Gestalten des Unbewussten eintritt, sich also dialogisch verhält. Die Inhalte des Unbewussten werden in der Aktiven Imagination personifiziert und zu einem Gegenüber gemacht, mit denen man in einen realen Dialog eintreten kann:
»Halten Sie an dem einen von Ihnen selbst gewählten Bild fest und warten Sie, bis es sich von selbst wandelt. Alle diese Wandlungen müssen Sie sorgsam beobachten, und Sie müssen schließlich selbst in das Bild hineingehen: Kommt eine Figur vor, die spricht, dann sagen auch Sie, was Sie zu sagen haben, und hören Sie auf das, was er oder sie zu sagen hat. Auf diese Weise können Sie nicht nur Ihr Unbewusstes analysieren, sondern Sie geben dem Unbewussten die Chance, Sie zu analysieren. Und so erschaffen Sie nach und nach die Einheit von Bewusstsein und Unbewusstem, ohne die es überhaupt keine Individualität gibt.« (Jung, 2009, S. 76)
Dies also wiederum bedeutet, dass das Ich sich z. B. mit einer Gestalt, einem Tier oder vielleicht sogar mit einem Baum, die in einer Imagination auftauchen, nicht identifiziert, sondern diesen Figuren immer gegenübersteht und mit ihnen in einen Dialog eintritt. Ich möchte mich hier direkt an die zitierten Äußerungen Jungs anschließen, auch wenn es heute unterschiedliche Ansätze dazu gibt, wie Aktive Imagination praktiziert werden kann. Wie die Aktive Imagination überhaupt in die Landschaft der imaginativen Verfahren als Therapeutikum einzuordnen sei, wird in anderen Beiträgen in diesem Buch schon beschrieben.
Mein Anliegen ist es zu untersuchen, wie sich die Aktive Imagination in Entsprechung zum gestalterischen Prinzip, also zum Malen oder Zeichnen, verhält und darzulegen, warum ich es als sehr sinnvoll betrachte, dass das innerlich Geschaute gleich im Anschluss an die Durchführung der Aktiven Imagination malerisch oder zeichnerisch aufs Papier gebracht wird. Ich möchte gerade jene dazu ermuntern, zu Pinsel und Farbstift zu greifen, die sich selbst als nicht künstlerisch begabt erleben und in Schule und im Kunstunterricht oftmals durch Kränkungen gehen mussten, wenn es um ihre bildliche Darstellungen ging. Es geht hier in gar keiner Weise um künstlerische und ästhetisch besonders eindrückliche Bildgestaltungen, sondern es geht darum, sich die Mühe zu machen, innerlich Geschautes irgendwie nach außen zu bringen, sich überraschen zu lassen, was sich von innen her herausarbeitet und wie es sich darstellt. Jung beschreibt in Ziele der Psychotherapie sehr anschaulich, wie er dazu gekommen ist, den Patienten zu raten, zu einem verwirrenden Traum oder einem inneren nicht zu fassenden Zustand ein Bild zu malen, indem er allzu oft den Ausspruch eines Patienten zu hören bekam: »Sehen Sie, wenn ich jetzt ein Maler wäre, so würde ich davon ein Gemälde machen« (Jung, 1995, GW 16, § 101). Diese Hinweise hat er sich zunutze gemacht und forderte seine Patienten in diesem Augenblick tatsächlich dazu auf, das im Traum oder in der Phantasie Gesehene zu malen, es also in eine sichtbare Bildsprache zu übersetzen:
»In der Regel begegne ich dem Einwand, man sei kein Maler (diesem Einwand begegne auch ich wirklich sehr oft, C. H.), worauf ich zu sagen pflege, daß (…) es (…) auf die Schönheit sowieso nicht ankomme, sondern bloß auf die Mühe, die man auf das Bild verwende […] Es handelt sich nicht um Kunst, vielmehr, es soll sich nicht um Kunst handeln, sondern um mehr und anderes als bloß Kunst, nämlich um lebendige Wirkung auf den Patienten selber. Was der soziale Standpunkt als das Geringste bewertet, steht hier am höchsten, nämlich der Sinn des individuellen Lebens, um dessentwillen sich der Patient bemüht, Unaussprechbares in kindlich unbeholfene, sichtbare Form zu übersetzen.« (ebd. § 102.).
Es gilt also, sich zu lösen von übernommenen Zuschreibungen und Beurteilungen, was ein »schönes Bild« sei, sich zu lösen also von »sozialen Standpunkten«, womit er offenbar allgemein anerkannte Beurteilungen meint. Wie oft konnte ich erleben, wie überrascht die Maler und Malerinnen waren, dass sich auf dem Papier noch anderes zeigte als nur das, was sie bewusst malen wollten. Da konnten sie sich lösen von einengenden Vorstellungen ihres beurteilenden Ich (oft ein Ausdruck ihres Über-Ich) und sich dem Gestaltungsprozess anvertrauen. Dabei können wir in einen Zustand geraten, der von Picasso einmal so benannt wurde: »Oftmals weiß ich nicht, ob ich den Pinsel führe oder der Pinsel mich führt«, frei nach meiner Erinnerung zitiert. Und oft ist es genau das, was uns weiterbringt auf dem eigenen, inneren Entwicklungsweg. Deshalb also macht es Sinn, wenn wir eine Aktive Imagination malerisch weiterführen, bzw. wenn wir unsere Patienten veranlassen, wie Jung selbst es auch schon tat, sich in einem gewissen Entwicklungsstadium durch Pinsel oder Stift auszudrücken, nämlich um in erster Linie eine emotionale Wirkung auf uns selber zu erzeugen (ebd. § 105).
In der Folge erläutert Jung weiter, dass wir, wenn wir malen oder zeichnen, uns aus einem passiven Zustand herausholen und in Aktion treten und dabei sinn(en)haft erleben können, dass wir an unserer Selbstgestaltung arbeiten:
»[…] Überdies zwingt die materielle Gestaltung des Bildes zu einer anhaltenden Betrachtung desselben in allen Teilen, so dass es dadurch seine Wirkung voll entfalten kann. Dadurch kommt in die bloße Phantasie ein Moment der Wirklichkeit hinein, wodurch der Phantasie ein größeres Gewicht, eben größere Wirkung verliehen ist. Und es gehen nun auch tatsächlich Wirkungen von diesen selbstgefertigten Bildern aus, Wirkungen, die allerdings schwer zu beschreiben sind. Es braucht zum Beispiel ein Patient nur einige Male gesehen zu haben, wie er aus einem miserablen seelischen Zustand dadurch erlöst wird, dass er ein symbolisches Bild anfertigt, um stets wieder zu diesem Mittel zu greifen, sobald es ihm schlecht geht. Damit ist etwas Unschätzbares gewonnen, nämlich ein Ansatz zur Unabhängigkeit, ein Übergang zur psychologischen Erwachsenheit. Mit dieser Methode – wenn ich dieses Wort überhaupt gebrauchen darf – kann sich der Patient schöpferisch unabhängig machen. Er hängt jetzt nicht mehr von seinen Träumen ab und nicht mehr vom Wissen seines Arztes, sondern, indem er sozusagen sich selbst malt, kann er sich selbst gestalten.« (ebd. § 106)
Die Chance des Malens, Zeichnens oder Skizzierens liegt also darin, dass undeutlich wahrgenommene Inhalte der Imagination einer Verdeutlichung zugeführt werden können, denn, wie er sagt: »Oft wissen die Hände ein Geheimnis zu enträtseln, an dem der Verstand sich vergebens mühte« (Jung, 1995, GW Bd. 8 § 180). So können wir das Malen, das sich an eine Aktive Imagination anschließt, als eine Fortführung der Aktiven Imagination verstehen, als einen weiteren Zugang zum Unbewussten, indem wir uns aktiv – mit Pinsel, Stift, Kreide – mit den sich einstellenden Bildern aus dem Unbewussten auseinandersetzen, was den dialogischen Prozess des Aktiven Imaginierens fortsetzt. Voraussetzung für ein Gelingen ist das vorurteilsfreie Fließenlassen und Sich-Gestaltenlassen der inneren Bilder. Wir stellen uns einerseits mit unserem Ich-Bewusstsein den sich andrängenden unbewussten Inhalten zur Verfügung, so dass diese sich auf dem Zeichenpapier zum Ausdruck bringen können, andererseits wirken wir mit unserem Ich aktiv und gestaltend auf die unbewussten Inhalte ein. Die erste Entscheidung, die das Ich fällt, ist die, womit es zu malen beginnen möchte. Denn wenn wir nach der Imagination die Inhalte zu gestalten versuchen, müssen wir immer eine Entscheidung treffen, womit wir anfangen zu malen und was wir letztlich zum Ausdruck bringen wollen. Die Imagination als solche ist dynamisch bewegt, eine fließende Bilderfolge, d. h. in der Imagination bleiben wir nicht bei einem Bild stehen und frieren dieses ein, sondern es bewegt sich und es entwickelt sich weiter. Oft haben wir es mit einer ganzen Geschichte zu tun, die sich vor dem inneren Auge abspielt. Als Imaginierende muss ich mich also entscheiden, was ich denn nun aufs Papier bringen möchte. Oft ist es das, was mich am meisten berührt hat, oder ich mache einfach eine Skizze zu dem, was ich gesehen habe, oder ich zeichne oder male auch mehrere Etappen der Imagination, um so die Bewegtheit und die Geschichte skizzenhaft zum Ausdruck zu bringen. Immer entwickelt sich die Aktive Imagination auf dem Papier weiter, immer ist es eine weitere Auseinandersetzung mit den unbewussten Inhalten, mit den Affekten, mit Konflikten, mit Inhalten, die aus dem Unbewussten neu aufsteigen und unser Ich zur Stellungnahme auffordern. Gerade zur Auseinandersetzung mit unangenehm erlebten Affekten, mit unklaren diffusen Gefühlszuständen eignet sich das Malen, denn durch das Malen wird manches in der Aktiven Imagination unklar Gesehene deutlicher, wird in »eine Form gegossen« (Jung 1995, GW Bd. 18/1, § 400).
Im Folgenden werde ich ein Beispiel der Aktiven Imagination mit anschließendem Malen vorstellen, was die wesentlichen Gründe, warum das Malen als eine hilfreiche Ergänzung zur Aktiven Imagination eingesetzt werden kann, deutlich macht. Bevor ich Teilnehmerinnen meiner Kurse – z.B. während einer der Lindauer Psychotherapiewochen – einlade, während dieser Woche jeden Tag eine Einheit der Aktiven Imagination durchzuführen, gebe ich ihnen folgende Hinweise, die das selbstständige Durchführen der Aktiven Imagination erleichtern sollen.
Nützliche Hinweise zur Durchführung einer Aktiven Imagination
Ehe wir in die Aktive Imagination eintreten, können wir uns z. B. eine Frage an uns selbst stellen oder auch von einem im Moment schwierigen Gefühlszustand ausgehen. Wir konzentrieren uns auf unsere Frage oder auf unser Gefühl, auf unseren Affekt und lassen dazu Bilder aufsteigen.
Hilfreich ist die Aktive Imagination oft auch zur Bearbeitung eines Traumes, der in seiner Bedeutung noch unklar ist. Dabei ist es ratsam, an der Stelle in den Traum »einzusteigen«, von der wir uns am stärksten angesprochen fühlen. Es ist jedoch nicht unbedingt nötig, mit einem definierten Ziel zu beginnen, wir können auch einfach mit einer Entspannung beginnen und sehen, was uns begegnet:
♦ Suchen Sie sich einen ruhigen Platz und stellen Sie sicher, dass Sie ungestört sind.
♦ Nehmen Sie eine Sitzhaltung ein, die Ihnen angenehm ist und die sowohl Entspannung als auch Aufmerksamkeit zulässt.
♦ Achten Sie eine Zeitlang ruhig und bewusst auf Ihren Atem, nehmen Sie Ihren Körper wahr, nehmen Sie wahr, wie Sie sich mit jedem Atemzug tiefer entspannen.
♦ Stellen Sie sich vor, wie Sie eine Treppe, Stufe für Stufe, hinuntergehen, langsam und behutsam. (Sie können auch das Bild einer Wiese wählen, auf der Sie auf einen Hügel zugehen, in den eine Tür eingelassen ist).
♦ Stellen Sie sich vor, wie Sie, unten angekommen, an eine Tür oder ein Tor gelangen, wie Sie diese öffnen und hineintreten, in einen neuen Raum.
♦ Gestatten Sie Ihren Bildern nicht, sich wie ein Kaleidoskop zu verändern, d. h. springen Sie nicht von einem Bild zum andern. Eine wichtige Regel ist, dass Sie Ihre volle Aufmerksamkeit auf das richten, was Sie in der Imagination sagen oder tun, genauso, wie Sie es in einer wichtigen Situation im Alltag tun würden.
♦ Sehr wesentlich ist, dass Sie dem, was Ihnen in der Imagination begegnet, eine unvoreingenommene Haltung entgegenbringen, dass Sie bereit sind anzunehmen, was ...