Generation ADHS - den "Zappelphilipp" verstehen
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Generation ADHS - den "Zappelphilipp" verstehen

  1. 213 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Generation ADHS - den "Zappelphilipp" verstehen

About this book

Die Zahl der Ă€rztlichen ADHS-Diagnosen und die Menge der dagegen verschriebenen Medikamente haben alarmierende Werte erreicht. Der Autor stellt sich als PĂ€dagoge dem Problem ADHS. Ihm sind Kinder, die Probleme machen, Kinder, die Probleme haben. Das Buch fragt deshalb kritisch, ob sich aus der "Störung" nicht vor allem eine Selbstmitteilung ĂŒber die eigene Befindlichkeit und das eigene Leiden herauslesen lĂ€sst und welche vornehmlich pĂ€dagogischen Antworten dies erforderlich macht. Der Dominanz hirnphysiologischer ErklĂ€rungsmodelle und der Vorherrschaft biologischer Faktoren wird ein differenzierteres Bild entgegengestellt: die komplexe Wechselwirkung von UmwelteinflĂŒssen, Beziehungserfahrungen und biologischen VorgĂ€ngen, komprimiert in einer psychodynamisch orientierten AnnĂ€herung an das PhĂ€nomen ADHS. Das Buch warnt nachdrĂŒcklich vor der Gefahr, Kindheit zu einer Krankheit umzudefinieren.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Generation ADHS - den "Zappelphilipp" verstehen by Manfred Gerspach in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Education & Inclusive Education. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2014
Print ISBN
9783170239494
eBook ISBN
9783170240872
Edition
1

1 Mythos ADHS

1.1 Zum Stand der Betrachtung

Bei 750.000 Menschen wurde in Deutschland nach Angaben des Barmer GEK Arzneimittelreports 2013 und des Barmer GEK Arztreports 2013 im Jahre 2011 die Diagnose ADHS gestellt. Der Großteil ist unter 19 Jahren alt: insgesamt 620.000 Kinder, die ĂŒberwiegende Mehrheit Jungen (470.000). Von 2006 bis 2011 stieg die Zahl der diagnostizierten FĂ€lle von Kindern und Jugendlichen um 42 % (von 2,92 % auf 4,14 %). Die altersbedingten Steigerungsraten bei der Diagnosestellung in diesem Zeitraum bildet Abbildung 1 ab.
2011 erhielten 7 % der Jungen und 2 % der MĂ€dchen im Alter von 11 Jahren Methylphenidat (bekannt u. a. unter dem Handelsnamen RitalinÂź) – es ist die Altersgruppe mit den höchsten Verordnungsraten. Rund ein FĂŒnftel aller Jungen, die im Jahr 2000 geboren wurden, bekamen die Diagnose ADHS, wĂ€hrend bei den MĂ€dchen die Rate unter 10 % lag. Regionale Unterschiede hĂ€ngen offenbar mit der Versorgungsdichte mit Kinder- und Jugendpsychiatern zusammen. In WĂŒrzburg wurden 18,8 % Diagnosen bei zwölfjĂ€hrigen Jungen gestellt, wĂ€hrend der Bundesdurchschnitt in dieser Altersgruppe bei knapp 12 % liegt. Ein Viertel aller MĂ€nner erhĂ€lt im Leben die Diagnose ADHS (vgl. Glaeske, Schicktanz 2013; Grobe, Bitzer, Schwartz 2013).
Laut einer Analyse der Arzneimittelabrechnungsdaten der einzelnen BundeslĂ€nder aus dem Jahre 2012 stellte der Verband der Ersatzkassen (vdek) fest, dass Hamburger Kinder am meisten Methylphenidat erhalten. Dort kommen auf 1.000 Kinder, die bei Ersatzkassen versichert sind, 18,6 Tagesdosen. In Berlin etwa werden gemĂ€ĂŸ dieser Untersuchung
Images
Abb. 1: ADHS: Zuwachs in allen Altersstufen Quelle: BARMER GEK Arztreport 2013
nur etwa halb so viele Dosen verordnet (9,8). Auf den zweiten und dritten PlĂ€tzen folgen Rheinland-Pfalz (16,7) und Bremen (15,1). Die wenigsten Verordnungen sind in Mecklenburg-Vorpommern verzeichnet (6,7). Der Bundesdurchschnitt liegt bei 12,1 Tagesdosen pro 1.000 Kinder (vgl. www.spiegel.de). Gerade zum Ende des Grundschulalters, vor dem Übergang auf weiterfĂŒhrende Schulen, sind hohe Diagnoseraten zu verzeichnen. Gleichzeitig stellen die schlechte Ausbildung der Eltern, ihre Arbeitslosigkeit oder ein Alter unter 30 Jahren ein erhöhtes Verschreibungsrisiko dar. Bei Kindern gut verdienender Familien wird die Aufmerksamkeitsstörung weniger oft diagnostiziert.
Landesweit stieg der Verbrauch des Wirkstoffes Methylphenidat laut Bundesopiumstelle zwischen 1993 und 2011 von 34 kg auf 1,8 Tonnen um das 52-fache an, wie Abbildung 2 veranschaulicht.
Die Zahl der verordneten Tagesdosen von MethylphenidatprĂ€paraten hat sich seit 1990 auf deutlich ĂŒber 50 Millionen Dosen, d. h. um mehr als das 150-fache erhöht. Allein von 2002 bis 2011 nahmen die Tagesdosen
Images
Abb. 2: Verbrauchsstatistik Methylphenidat Quelle: BfArM, Bundesopiumstelle
von 17 Millionen auf 56 Millionen zu (vgl. www.barmer-gek.de;www.gesundheitlicheaufklaerung.de;www.deutsche-apotheker-zeitung.de). Der Handel mit Psychostimulanzien ĂŒber das Internet ist zudem kaum bezifferbar (vgl. Glaeske, Merchlewicz 2013, S. 34).
Insgesamt beklagt der Barmer GEK Arzneimittelreport 2013 eine besorgniserregend hohe Zahl von Verschreibungen sogenannter Antipsychotica (AP) an Kinder und Jugendliche. Diese ist in Deutschland von 2005 bis 2012 um rund 40 % gestiegen. Auch bei Kindern mit der Diagnose ADHS werden solche Antipsychotica eingesetzt, obwohl weder eine Indikation noch eine Leitlinienempfehlung existieren.
Vergleicht man die Tendenz der vermehrten Verschreibung von Antipsychotica mit jener anderer Psychopharmaka, so findet man im genannten Zeitraum eine vergleichbare Zunahme bei der Verordnung von ADHS-Medikamenten und Antidepressiva fĂŒr Kinder und Jugendliche um annĂ€hernd 50 %, wĂ€hrend der Anstieg aller verordneten Psychopharmaka nur bei 10 % lag. Mögliche ErklĂ€rungsansĂ€tze sind:
1. eine Zunahme psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, die jedoch nicht belegt ist,
2. verstÀrkte Interventionen der Pharmaunternehmen zur Sicherung der Marktanteile;
3. eine medikamentöse Behandlung ist zeitsparender als das Warten auf einen Psychotherapieplatz (vgl. Glaeske, Schicktanz 2013, S. 170 ff.).
Der Report zeigt zudem auch, dass die HĂ€lfte der demenzkranken Heimbewohner in der höchsten Pflegestufe schwere Beruhigungsmittel verabreicht bekommt. Die Frankfurter Rundschau titelte dazu am 12.06.2013 auf ihrer Wirtschafts(!)seite: »Pillen ersetzen Personal« (vgl. Szent-Ivanyi 2013, S. 16). Hier tut sich in der Tat eine Parallele zum pĂ€dagogischen Feld auf: Kinder medikamentös ruhig zu stellen erscheint dort vor dem Hintergrund der derzeitigen personellen (Unter-)Versorgung weitaus gĂŒnstiger.
Man schĂ€tzt, dass in Deutschland 250.000 Kinder Medikamente wie RitalinÂź nehmen, weltweit liegt die Anzahl medikamentös behandelter Kinder mit der Diagnose ADHS bei weit ĂŒber 10 Millionen. In den USA zeigt eine neue Studie ebenfalls einen weiteren Zuwachs der diagnostizierten Kinder. Von 2001 bis 2010 erhöhte sich der Anteil von 2,5 % auf 3,1 %. Bei Kindern mit schwarzer Hautfarbe betrĂ€gt die Zunahme annĂ€hernd 70 %. Allerdings suchen besser gestellte amerikanische Eltern dann medikamentöse Hilfe fĂŒr ihre Kinder, wenn diese den schulischen Erwartungen nicht entsprechen (vgl. Getahun u. a. 2013).
Nach einer weiteren Studie wurden zwischen 1994 und 1997 in den USA bei rund 12 von 1.000 Kindern Verhaltensstörungen festgestellt. Im Zeitraum zwischen 2006 und 2009 waren es bereits ca. 19 von 1.000 Kindern. Die beliebteste Diagnose war ADHS, gefolgt von Disruptive Disorder, also einer Störung des Sozialverhaltens. Dennoch fĂŒhrte die steigende Zahl von Diagnosen nicht automatisch zu einer hĂ€ufigeren Verschreibung von Psychopharmaka. Diese Praxis erreichte zwischen 2002 und 2005 ihren Höhepunkt, als 1,45 % aller kindlichen Patienten ein entsprechendes Medikament verabreicht bekamen. Zwischen 2006 und 2009 sank der Wert wieder auf nahezu das Niveau der spĂ€ten 1990er Jahre, nĂ€mlich auf 1 %. Dieser Effekt mag darin begrĂŒndet liegen, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA im Jahre 2004 vor einem erhöhten Selbstmordrisiko durch Psychopharmaka, im Jahre 2005 vor Kreislaufstörungen durch Amphetamine und im Jahre 2006 vor Herzproblemen durch Stimulanzien warnte (vgl. SchlĂŒter 2013).
Der Konzern Novartis, der RitalinÂź herstellt, machte damit im Jahr 2010 einen weltweiten Umsatz von 464 Millionen Dollar. 2006 waren es noch 330 Millionen Dollar gewesen (vgl. HĂŒther, Bonney 2010, S. 13; HĂŒther 2011, S. 4; Schiffl 2011; www.faz.net/aktuell; Kunst 2012, S. 17). RitalinÂź ist das am hĂ€ufigsten verschriebene Medikament bei Kindern und Jugendlichen der Altersgruppe 11 bis 14 und rangiert noch vor Mitteln gegen ErkĂ€ltung oder Schmerzen (vgl. www.aerzteblatt.de/v4archiv; von LĂŒpke 2009, S. 31). Vergleichbare PrĂ€parate sind unter dem Namen MedikinetÂź oder Concerta auf dem Markt. Hinzu kommt als Alternative zu diesen dem BetĂ€ubungsmittelgesetz unterliegenden Mitteln der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Atomoxetin im PrĂ€parat namens StratteraÂź.
Bekannte Nebenwirkungen bei MethylphenidatprĂ€paraten sind hoher Blutdruck, erhöhte Herzfrequenz, beschleunigte Atmung, Ess- und Wachstumsstörungen, Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit, Depression, AggressivitĂ€t, Reizbarkeit oder paranoide Wahnvorstellungen. Aus den USA werden einige wenige TodesfĂ€lle gemeldet. Einzelne Studien sprechen von einem dreifach erhöhten Krebsrisiko und der Gefahr von ChromosomenverĂ€nderungen (vgl. Boyles 2005; El-Zein u. a. 2005; Holtmann u. a. 2006; University of Texas Medical Branch at Galveston 2005; Walitza u. a. 2007), wiewohl es auch entgegengesetzte Aussagen gibt. Insgesamt ist die Datenlage erstaunlich dĂŒnn. Zudem ist der Begriff Nebenwirkung eigentlich unzureichend. Die verabreichten Medikamente wirken als ein Teil in einem komplexen organo-psychischen Zusammenhang.
Dass es sich bei Methylphenidat um ein mildes Stimulans handele, ist eine weit verbreitete Auffassung, obwohl auch andere Forschungsergebnisse vorliegen, die sogar von einer stĂ€rkeren Wirkung als bei Kokain ausgehen. HĂ€ufig werden aber solch unerwĂŒnschte Forschungsergebnisse gar nicht erst veröffentlicht. In bezug auf Atomoxetin wird zudem vor dem Risiko von Leberstörungen und erhöhter Suizidgefahr bzw. erheblichen emotionalen Schwankungen gewarnt (vgl. Schmidt 2010, S. 193 ff.).
Seit Juni 2013 wird mit Lisdexamfetamin (Elvanse) ein weiteres AmphetaminprÀparat als Reservemittel zur Behandlung von ADHS bei Kindern angeboten, die auf Methylphenidat nur unzureichend ansprechen. Zu den gelisteten und auch von anderen PrÀparaten bekannten Störwirkungen gehören hÀufige bis sehr hÀufige Magen-Darm-Störungen, Appetit- und Gewichtsverlust, Wachstumsretardierung, Kopfschmerzen, Unruhe, Schlafstörungen, AggressivitÀt, Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck sowie psychiatrische Komplikationen. AussagekrÀftige Daten zum Nutzen in der zugelassenen Indikation liegen allerdings nicht vor (vgl. arznei-telegramm 2013, S. 75 f.).
Nicht zuletzt aufgrund des uneinheitlichen Störungsbildes einer »ADHS« ist die Wirkungsweise der MethylphenidatprÀparate noch nicht erschöpfend erforscht. So bleibt etwa unklar, warum 20 bis 30 % der behandelten Heranwachsenden so genannte Nonresponder sind (vgl. Karch 2003, S. 498; Olde 2010, S. 43). Das hÀngt u. a. mit der Tatsache zusammen, dass diese Psychostimulanzien nicht auf einen spezifischen Ort im Gehirn einwirken, sondern weite Teile des gesamten Nervensystems beeinflussen.
Die Neurone im menschlichen Gehirn verstĂ€ndigen sich ĂŒber synaptische Kommunikationspunkte. Das Senden einer Botschaft beginnt zwar mit einem elektrischen Impuls, die Kommunikation an den Synapsen ist allerdings chemischer Art. Dieser Impuls setzt die in den Synapsen der Neurone produzierten Neurotransmitter frei, die die SignalĂŒbertragung vornehmen. Eine optimale Konzentration der Neurotransmitter wird durch Proteine, sogenannte Enzyme, aufrechterhalten. Die PrĂ€synapse gibt den Neurotransmitter in den synaptischen Spalt ab, von wo er zu den Rezeptoren der Postsynapse gelangt und, nachdem die Botschaft dort angekommen ist, an die PrĂ€synapse zurĂŒcktransportiert wird. Neurotransmitter sind also primĂ€re Botenstoffe, die zwischen den Neuronen ausgetauscht werden. Die wichtigsten sind Dopamin, Noradrenalin, Serotonin oder Acetylcholin. Die ADHS-Forschung konzentriert sich auf den Neurotransmitter Dopamin, der als zentral fĂŒr die interzellulĂ€re Weitergabe von Informationen und die Steuerung der extrapyramidalen Motorik angesehen wird.
ZunĂ€chst ging man von einer Dopaminmangelhypothese aus, weshalb die betroffenen Kinder nicht genĂŒgend Aufmerksamkeit und Impulskontrolle aufbringen könnten, was durch die Vergabe von Methylphenidat gleichsam kompensiert werde. Belege fĂŒr diese Hypothese gab es nicht. HĂŒther stellte die Frage, ob es sich nicht vielleicht eher um einen DopaminĂŒberschuss handele und das Methylphenidat den ohnedies bereits erhöhten Dopaminspiegel noch weiter steigere. Da die Kinder schon bis zur Grenze des ErtrĂ€glichen stimuliert seien, komme es durch die plötzliche massive Dopaminfreisetzung zu einer raschen Entleerung der Dopamin-Speichervesikel in den PrĂ€synapsen. Danach seien die Speicher leer und könnten nur sehr langsam wieder mit neu synthetisiertem Dopamin aufgefĂŒllt werden.
Heute geht man allgemein davon aus, dass Methylphenidat mit Dopamin um die Bindung an das Transportereiweiß konkurriert, so dass weniger Dopamintransporter fĂŒr die RĂŒckfĂŒhrung an die PrĂ€synapse zur VerfĂŒgung stehen. Dadurch resultiert eine Erhöhung der DopaminverfĂŒgbarkeit im synaptischen Spalt und eine Optimierung der SignalĂŒbertragung. Unter Einbeziehung der Funktion des sogenannten terminalen Autorezeptors muss diese These modifiziert werden. Dieser Rezeptor reagiert auf die Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt und er reguliert die Freisetzung von Dopamin dorthin. Die orale Verabreichung von Methylphenidat bewirkt eine allmĂ€hliche Erhöhung von Dopamin im synaptischen Spalt mit der Folge, dass durch die RĂŒckmeldung des terminalen Autorezeptors die impulsveranlasste DopaminausschĂŒttung aus der PrĂ€synapse begrenzt wird. Durch diese Hemmung der dopaminergen AktivitĂ€t der PrĂ€synapse werden die Handlungsmöglichkeiten des Probanden erheblich reduziert – er kann nicht mehr auf jedes ankommende Signal reagieren.
Kritisch eingewendet werden muss an dieser Stelle, ob zwangslĂ€ufig von einem Dopaminmangel auszugehen ist oder ob die klinisch erhöhte Handlungsbereitschaft eines Kindes nicht vor dem Hintergrund einer hohen AusprĂ€gung seines dopaminergen Systems zu betrachten wĂ€re. Dann könnte die Verabreichung von Methylphenidat die impulsgetriggerte AusschĂŒttung von Dopamin reduzieren und das Kind somit an der unwillkĂŒrlichen AusfĂŒhrung einer beabsichtigten Handlung hindern. Wie es sich genau verhĂ€lt, ist noch immer unklar, zumal auch andere Neurotransmitter als Dopamin an den Hornstoffwechselprozessen beteiligt sind. Zudem kennen wir im Einzelfall sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Medikation. Nach einer Untersuchung von Volkow u. a. (2002) geht die Wirkung nicht auf die Blockade der Dopamin-Transporter zurĂŒck, sondern auf die wahrscheinlich individuell differierende zellulĂ€re Produktion von Dopamin. Bei Menschen mit hoher zellulĂ€rer Dopaminproduktion erzeugt Methylphenidat offenbar grĂ¶ĂŸere VerĂ€nderungen als bei Menschen mit niedriger Produktion. Nach Wang u. a. ist der Überschuss an Dopamintransportern im ventralen Striatum, der bislang als typisches Merkmal von ADHS galt, sogar auf die Behandlung mit Methylphenidat zurĂŒckzufĂŒhren (vgl. Wang u. a. 2013).
Insgesamt sind Zweifel an den Menschenbildern und vorgebrachten Hypothesen anzumelden, mit denen einzelne Faktoren zu isolieren gesucht werden und die die KomplexitĂ€t der ablaufenden und ineinander greifenden VorgĂ€nge nicht abzubilden vermögen. Allein schon das vereinfachte Modell zweier kommunizierender Synapsen vernachlĂ€ssigt die Tatsache, dass jede Nervenzelle gut 10.000 Synapsen aufweist, wir ĂŒber ungefĂ€hr 1012 Neurone in unserem Großhirn verfĂŒgen und sich diese ohnedies schon ĂŒberaus komplexe Struktur stĂ€ndigen VerĂ€nderungen ausgesetzt sieht (vgl. Andreasen 2002, S. 49 ff.; Bonney 2008a, S. 118 ff.; HĂŒther 2001, S. 480; MĂŒller u. a. 2011, S. 82 ff.; Schmidt 2010, S. 192 ff.; Schmidt u. a. 2011, S. 28; Volkow u. a. 2002).
HĂ€ufig wird auch argumentiert, dass sich bei Neuroenhancern wie RitalinÂź kein Suchtpotenzial nachweisen lasse, wobei unterschlagen wird, dass die moderne Suchtmedizin nicht mehr zwischen seelischen und körperlichen PhĂ€nomenen unterscheidet. In den modernen Suchttheorien wird gerade dem dopaminergen Botenstoffsystem eine SchlĂŒsselfunktion zugewiesen. »Denn alle bekannten Substanzen mit AbhĂ€ngigkeitspotenzial setzen Dopamin im Belohnungssystem frei und verstĂ€rken so den weiteren Drogenkonsum« (vgl. Kipke u. a. 2010, S. 2384 ff.).
Noch immer wird also bei uns eine immens große Zahl von Kindern medikamentös mit Psychostimulanzien behandelt, ungeachtet eines eng gefassten Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses fĂŒr das Gesundheitswesen aus dem Jahre 2010, wonach die Diagnose ADHS noch grĂŒndlicher zu stellen sei und die Verordnung nur durch Spezialisten fĂŒr Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen dĂŒrfe. So kam es seit 2010 trotz anhaltend steigender Diagnose- und auch Verordnungszahlen zumindest bei den Neun- bis ElfjĂ€hrigen zu einem leichten RĂŒckgang der Verordnungen, wie Abbildung 3 zeigt.
Images
Abb. 3: Verordnungsstatistik RitalinÂź Quelle: BARMER GEK Arztreport 2013
Nach einer neueren reprĂ€sentativen Befragung von annĂ€hernd 500 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiatern wird ADHS zu hĂ€ufig diagnostiziert. Die Befragten erhielten je eine von vier Fallgeschichten und sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier FĂ€lle lag anhand der geschilderten Symptome und UmstĂ€nde keine ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien einer Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitĂ€tsstörung zuzuordnen. Da auch noch das Geschlecht variiert wurde, gab es insgesamt acht FĂ€lle. Es stellte sich heraus, dass in ĂŒber 20 % eine falsche Diagnose bzw. eine falsche Verdachtsdiagnose gestellt wurden. Insbesondere bei Jungen wurden mehr Fehldiagnosen gestellt als bei MĂ€dchen. Mit der falsch gestellten Diagnose ging zudem die Empfehlung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung einher. Die Fachvertreter fĂ€llen ihr Urteil offensichtlich entlang von Faustregeln, so genannten Heuristiken, und neigen zur Überdiag...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Copyright
  4. Inhalt
  5. 1 Mythos ADHS
  6. 2 Zum Verstehen des PhÀnomens ADHS
  7. 3 Offene Fragen – pĂ€dagogische Antworten
  8. 4 Was bleibt vom ADHS-Konzept ĂŒbrig?
  9. 5 Literatur