Die Reichskanzler der Weimarer Republik
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Die Reichskanzler der Weimarer Republik

Von Scheidemann bis Schleicher

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Die Reichskanzler der Weimarer Republik

Von Scheidemann bis Schleicher

About this book

Die Kanzler der Weimarer Republik wirkten in einer Epoche, den "Goldenen Zwanzigern", die durch extreme Gegensätze gekennzeichnet war: Kriegsniederlage, wirtschaftliche Dauerkrise und langsam heraufziehende Diktatur auf der einen Seite, demokratischer Neuanfang, Aufbruch in die Moderne und kulturelle Blüte auf der anderen Seite. Der Band stellt in einer Gruppenbiographie die Regierungschefs dar, arbeitet anhand persönlicher Lebenswege das Typische ihrer Zeit heraus und liefert auf diese Weise eine personenbezogene Geschichte der Weimarer Republik.Spannend ist es außerdem, anhand dieser Biographien zu verfolgen, wie die nach Herkunft, parteipolitischer Bindung und Persönlichkeit sehr unterschiedlichen Reichskanzler die eng gesteckten Möglichkeiten ihres Amtes zu nutzen verstanden, um die krisengeschüttelte erste deutsche Demokratie bis zum Beginn der 1930er Jahre am Leben zu erhalten.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2012
Print ISBN
9783170218994
eBook ISBN
9783170233157

Karrierehöhepunkte in der Dauerkrise – Die Kanzlerschaften

Die Weimarer Republik: Vierzehn Jahre, zwölf Kanzler, vierzehn Kanzlerschaften und in einigen Phasen mehr Probleme in vier Wochen als in einer gesamten vierjährigen Legislaturperiode der Bundesrepublik Deutschland. Natürlich können hier nicht alle Einzelheiten dieser Amtszeiten geschildert werden, sondern nur die wirklich herausragenden Ereignisse. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Wie gingen die Kanzler mit ihren Ämtern um? Welche Krisen bewältigten sie? Woran scheiterten sie?
Als die Nationalversammlung am 6. Februar 1919 in Weimar zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat, war klar, dass die künftige Regierung nur von einem SPD-Mann geführt werden konnte. Seit November 1918 hatten Sozialdemokraten die revolutionäre Übergangsregierung, den Rat der Volksbeauftragten, gebildet, der zunächst aus je drei Vertretern der SPD und der USPD bestand, seit dem Austritt der Unabhängigen Sozialdemokraten am 29. Dezember 1918 aus nur noch fünf Mehrheitssozialdemokraten. Gleichberechtigte Vorsitzende waren seit dem 29. Dezember Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann gewesen. Es stand Anfang 1919 außer Frage, dass innerhalb der SPD nur diese beiden Männer, Parteifreunde und nicht zuletzt Rivalen die entscheidenden Ämter des Staatsoberhauptes und des Regierungschefs besetzen würden. Bei der Abwägung, welche Positionen er und Ebert nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung in Weimar übernehmen sollten, unterschätzte Scheidemann die Gestaltungsspielräume des künftigen Reichspräsidentenamtes, das Ebert für sich beanspruchte. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass er zu Ebert unter Verwendung einer maritimen Metapher gesagt habe,„der sozialdemokratische Reichspräsident ist der rote Wimpel, der über dem Schiffe flattert und nicht viel zu bedeuten hat. Der Reichskanzler dagegen wäre dem Kapitän oder dem Steuermann vergleichbar.“
Das dann am 10. Februar 1919 von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt legte in seinem Paragraphen 6 unmissverständlich fest: „Die Geschäfte des Reichs werden von einem Reichspräsidenten geführt.“ Die im August 1919 in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung schuf mit dem Reichspräsidentenamt das bis heute mächtigste Amt in der deutschen Demokratiegeschichte, an das die Machtfülle des Bundeskanzlers des Grundgesetzes nicht annähernd heranreicht. Um bei Scheidemanns Bild zu bleiben: Kapitän des Schiffes war der Reichspräsident, der dem Steuermann, dem Reichskanzler, nicht nur jederzeit ins Steuerrad greifen konnte, sondern ihn auch mit einem Federstrich der Brücke und des Schiffes verweisen konnte. Dass sich diese Machtfülle des Reichspräsidentenamtes einmal als verhängnisvoll erweisen sollte, war aber 1919 noch nicht absehbar, zumal der erste Reichskanzler oder Reichsministerpräsident, wie sein Titel bis zur Verabschiedung der Verfassung noch lautete, sich in einer Situation befand, von der die meisten seiner späteren Nachfolger nur träumen konnten. Philipp Scheidemanns Regierung vom 13. Februar 1919 wurde auf der Grundlage einer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP gebildet, der sogenannten Weimarer Koalition. Diese drei Parteien vertraten 76,1 Prozent der bei den Wahlen vom 19. Januar abgegebenen Stimmen und verfügten bei der entsprechenden Mandatszahl über eine Dreiviertelmehrheit. Nur eine einzige Bundesregierung nach 1945 verfügte über eine noch breitere Majorität: die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD von 1966 bis 1969.
In seiner Regierungserklärung vom 13. Februar 1919 hatte Scheidemann ausgeführt:
„Nicht die Revolution zu beenden, sondern ihr Werk ganz methodisch aufzubauen, ohne Bürgerkrieg und Blutvergießen hervorzurufen, das muss die Aufgabe jeder künftigen deutschen Volksvertretung und auch jeder künftigen deutschen Regierung sein, die vor der Geschichte in Ehren bestehen will.“
Dies sollte ein frommer Wunsch bleiben. Scheidemanns Regierungszeit war im Inneren durch Streiks, spartakistische Aufstände und separatistische Bestrebungen gekennzeichnet, die überall im Reich aufflackerten. Hervorzuheben sind die Berliner Märzkämpfe und die Münchener Räterepublik. Umstritten ist nicht, dass diese die Einheit und die Stabilität des Reiches gefährdenden Aktionen unterdrückt werden mussten, sondern die Verhältnismäßigkeit der Mittel, die dabei angewandt wurden. Bei der Niederschlagung der Berliner Märzerhebung gab es über 1200 Tote, die weitaus meisten auf Seiten der Aufständischen. Am 21. Februar 1919 war der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (USPD) auf offener Straße ermordet worden. Als Spätfolge konstituierte sich am 7. April 1919 in München eine Räterepublik, die zunächst unter Führung pazifistischer oder anarchistischer Intellektueller wie Ernst Toller und Erich Mühsam stand, dann aber von kommunistischen Aktivisten unterwandert wurde. Zur Auflösung der Münchener Räterepublik und der von ihr zu ihrem Schutz aufgestellten Roten Armee forderte die neue bayerische Regierung von Johannes Hoffmann (SPD) militärische Unterstützung aus Berlin an. Die von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) am 27. April entsandten regulären Truppen und Freikorps zerschlugen die Münchener Räterepublik äußerst blutig; mehrere ihrer Protagonisten wie der Anarchist Gustav Landauer wurden brutal ermordet. Während die überlebenden Anführer der Räterepublik zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, war der Eisner-Mörder Graf Arco bereits 1924 wieder auf freiem Fuß. Diese Vorgänge entfremdeten erhebliche Teile der Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie und der Weimarer Republik, was seinen ersten Niederschlag bei den Reichstagswahlen 1920 finden sollte.
Völlig überlagert wurden diese bürgerkriegsähnlichen Szenarien von der Außenpolitik, die wiederum von einer einzigen Frage beherrscht wurde: Wie wird der künftige Frieden mit den Siegermächten aussehen? Auch hier äußerte sich Scheidemann in seiner Regierungserklärung (zu) optimistisch:
„Der Frieden, den abzuschließen die schwere Aufgabe dieser Regierung ist, soll kein Frieden werden von jener Art, wie ihn die Geschichte kennt, keine mit neuen Kriegsvorbereitungen ausgefüllte Ermattungspause eines ewigen Kriegszustandes der Völker, sondern er soll das harmonische Zusammenleben aller zivilisierten Völker begründen auf dem Boden einer Weltverfassung, die allen gleiche Rechte verleiht. Die kommende Friedenskonferenz wird das erneuerte deutsche Volk und seine Regierung bereit finden, an einer solchen Verfassung der Völker mit zu arbeiten nach dem Programm des Präsidenten Wilson, das wir angenommen haben und an dem wir festhalten aus innerer Überzeugung.“
Auch diese Hoffnung sollte sich innerhalb weniger Wochen als illusorisch erweisen. Als der Versailler Vertragsentwurf am 7. Mai 1919 veröffentlicht wurde, übertraf er selbst die schlimmsten deutschen Befürchtungen. Frankreich hatte sich mit seinen Wünschen gegenüber US-Präsident Wilson in fast allen Punkten durchgesetzt. Neben territorialen Verlusten wie einem Siebtel des Reichsgebietes und sämtlicher Kolonien, der in der Höhe noch nicht festgelegten Entschädigung der Kriegskosten und der erzwungenen Abrüstung sorgte vor allem die verlangte Anerkennung der Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges für Empörung. „Frieden der Vernichtung“ lautete die Schlagzeile auf der Titelseite des Vorwärts vom 8. Mai 1919. Als Zeichen nationaler Trauer ersuchte die Reichsregierung alle Landesregierungen anzuordnen,
„dass für die Dauer einer Woche alle öffentlichen Lustbarkeiten unterbleiben und in den Theatern nur solche Darstellungen zur Vorführung gelangen, die dem Ernste dieser schwersten Zeit entsprechen.“
Philipp Scheidemann plädierte, wie zunächst die gesamte Reichsregierung und der Reichspräsident, leidenschaftlich für eine Ablehnung des Vertrages. Als an die Deutschen, aber besonders auch an die Adresse des Auslands gerichteter demonstrativer Akt fand am 12. Mai eine Sondersitzung der Nationalversammlung in der Neuen Aula der Humboldt-Universität in Berlin statt. Zeit und Ort waren symbolisch gut gewählt. Es war die einzige Sitzung zwischen dem 15. April und dem 22. Juni 1919. Unter dem Monumentalgemälde „Fichtes Rede an die deutsche Nation“ von Arthur Kampf kleidete Scheidemann seine Ablehnung der Vertragsannahme in die berühmt gewordenen Worte: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“ Entscheidender als diese oft zitierte, bildhafte Metapher, die lediglich „lebhaften Beifall“ auslöste, ist ein eher schlichter Satz Scheidemanns: „Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar!“ Die Reaktion der Zuhörerschaft war nach diesem Satz unvergleichlich emotionaler: „Minutenlanger brausender Beifall im Hause und auf den Tribünen. – Die Versammlung erhebt sich. – Erneutes stürmisches Bravo und Händeklatschen.“
Diese Protesthaltung entsprach völlig der deutschen Volksseele, aber sie verkannte, dass es für Deutschland keine Alternative zur Vertragsunterzeichnung gab, wollte man nicht die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen und die militärische Besetzung des Deutschen Reiches in Kauf nehmen. Als am 16. Juni die nur unwesentlich zugunsten Deutschlands verbesserten Vertragsbedingungen (über die Abtretung Oberschlesiens an Polen sollte nunmehr eine Volksabstimmung entscheiden) von Seiten der Alliierten vorgelegt wurden und deren Annahme mit einem Ultimatum verknüpft wurde, schwenkten Friedrich Ebert und die Hälfte des Reichskabinetts um und plädierten nun für eine Annahme. Für Philipp Scheidemann war diese Kehrtwende unvereinbar mit seiner persönlichen Glaubwürdigkeit. Ihm blieb konsequenterweise nur der Rücktritt. Am 20. Juni 1919 legte er nach 128 Tagen sein Amt nieder. Das Bedauern von Reichspräsident Friedrich Ebert, seinen größten innerparteilichen Rivalen losgeworden zu sein, hielt sich in engen Grenzen.
In aller Schnelle mussten nun ein Regierungschef und eine Regierungsmehrheit gefunden werden, die bereit waren, sich dem am 23. Juni ablaufenden Ultimatum zur Unterzeichnung des Friedensvertrages zu beugen. Für viele überraschend, wurde Gustav Bauer am 21. Juni 1919 zum zweiten Regierungschef der Weimarer Republik ernannt. Favoriten der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung waren der Minister ohne Geschäftsbereich Eduard David, Reichswehrminister Gustav Noske und der frisch gewählte Parteivorsitzende Hermann Müller gewesen. Philipp Scheidemann nennt Gustav Bauer in einem posthum herausgegebenen Essay Kritik der deutschen Sozialdemokratie den „getreuen Fridolin“ in Anlehnung an Friedrich Schillers Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer, die mit dem Vers beginnt: „Ein frommer Knecht war Fridolin“. Wo es Knechte gibt, muss es auch Herren geben. Scheidemann spielt damit auf die enge Freundschaft zwischen Ebert und Bauer als ausschlaggebendes Motiv für seine Ernennung an. Allerdings verfügte Bauer anders als Hermann Müller über neun Monate Regierungserfahrung. Zudem war die Bildung des „Unterzeichnungskabinetts“ eine im politischen Tageskampf und vor der Geschichte äußerst undankbare Aufgabe, die der gebürtige Ostpreuße Bauer, der erklärter Gegner der Annahme gewesen war, überzeugender verkörpern konnte als etwa der Annahmebefürworter Eduard David. Für die neue Regierung, die nur noch aus SPD und Zentrum gebildet wurde, weil die Mehrheit der DDP eine Zustimmung zum Friedensvertrag ablehnte, betonte Gustav Bauer in seiner ersten Ansprache als Reichsministerpräsident, dass es trotz aller Empörung keine Alternative gebe: „Denn die Ablehnung wäre keine Abwendung des Vertrages. Ein Nein wäre nur eine kurze Hinausschiebung des Ja.“ Er empfahl deshalb die Annahme des Vertrages unter Vorbehalt zweier Punkte: der Nichtakzeptanz der deutschen Alleinschuld am Kriege und der Weigerung, vermeintliche deutsche Kriegsverbrecher an die Siegermächte auszuliefern. Als der Vor behalt von den Franzosen zurückgewiesen und die bedingungslose Annahme verlangt wurde, ergriff Gustav Bauer am 23. Juni nur wenige Stunden vor Ablauf des Ultimatums erneut das Wort. In seiner berühmtesten Rede plädierte er für die Einsicht in die aussichtslose politische Lage:
„Unterschreiben wir! Das ist der Vorschlag, den ich Ihnen im Namen des gesamten Kabinetts machen muss. Bedingungslos unterzeichnen. Ich will nichts beschönigen. Die Gründe, die uns zu diesem Vorschlag zwingen, sind dieselben wie gestern. Nur trennt uns jetzt eine Frist von knappen vier Stunden von der Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. Einen neuen Krieg könnten wir nicht verantworten, selbst wenn wir Waffen hätten. Wir sind wehrlos. Wehrlos ist aber nicht ehrlos!“
Gustav Bauers Zeit an der Regierungsspitze ist noch mit einer weiteren historischen Unterzeichnung verknüpft: Am 11. August 1919 trat die Verfassung der Weimarer Republik, die bis heute aufgrund ihrer größeren Mitwirkungsrechte der Bevölkerung (Direktwahl des Staatsoberhaupts, keine Fünfprozentklausel, Volksbegehren, Volksentscheid) freiheitlichste Verfassung in der deutschen Geschichte, durch die Unterschriften des Reichspräsidenten und der Mitglieder der Reichsregierung in Kraft. Der Titel des Regierungschefs lautete nun wieder wie im Kaiserreich „Reichskanzler“. Von der für dieses Amt in der Verfassung vorgesehenen Richtlinienkompetenz machte Bauer jedoch nach der Aussage zeitgenössischer Beobachter zu wenig Gebrauch, weil er sich als verlängerter Arm des Reichspräsidenten verstanden habe.
Zwei Reformen während der Regierungszeit Gustav Bauers stärkten die Zentralgewalt gegenüber den Einzelstaaten: die Überführung der regionalen Eisenbahnen in eine echte Reichsbahn und die Finanzreform von Reichsfinanzminister Matthias Erzberger von der Zentrumspartei, die etwa durch die Einführung des direkten Lohnsteuerabzugs und der Progression die Grundlagen des noch heute in Deutschland geltenden Steuersystems legte.
Eine Reform, deren Gelingen bereits für die nahe Zukunft der Weimarer Republik existentiell war, ging nur schleppend vorwärts: die gerade auch aufgrund der im Versailler Vertrag fixierten Abrüstungsbestimmungen notwendige Demokratisierung der Reichswehr. Am 7. Oktober 1919 äußerte sich der Reichskanzler in einer Rede im Reichstag nicht nur positiv über den soeben vollzogenen Wiedereintritt der DDP in die Regierung, nicht nur über die geplanten Gesetzesvorhaben bis zu den für das Frühjahr vorgesehenen Neuwahlen, sondern auch über die monarchistische Gesinnung des Militärs:
„Es war aber die Aufgabe des Reichswehrministers – und wird sie bei der durch den Friedensvertrag auferlegten Verkleinerung erst recht sein –, jeden Missbrauch der Reichswehr in dieser Hinsicht zu vermeiden, Elemente, die auf einen solchen Missbrauch hinarbeiten, auszumerzen und den Männern mehr und mehr Einfluss zu verschaffen, die nicht nur widerwillig, sondern aus Überzeugung auf dem Boden der heutigen Staatsordnung stehen. […] Wer aber die militärische Disziplin, wer das Vorgesetzten- und Untergebenenverhältnis zu Hetzereien gegen Republik, Regierung und gegen die missliebigen Parteien benutzt, der – das kann ich Ihnen im Namen der gesamten Regierung versichern – darf fernerhin keinen Platz mehr in der Reichswehr haben.“
Offensichtlich hielt es der Reichswehrminister Gustav Noske nicht für notwendig, diese richtige Erkenntnis des Reichskanzlers umzusetzen. Am 13. März 1920 zettelten rechtsgerichtete Militärs einen Aufstand gegen die Regierung an, den sogenannten Kapp-Lüttwitz-Putsch, und besetzten das Regierungsviertel in Berlin. Die Reichswehr weigerte sich, gegen die Putschisten vorzugehen. Reichspräsident, Reichskanzler und mehrere Minister flohen über die Zwischenstation Dresden nach Stuttgart, wohin auch die Nationalversammlung einberufen wurde. Als Gegenmaßnahme riefen die Gewerkschaften und die SPD, gebilligt von Friedrich Ebert, Gustav Bauer und den sozialdemokratischen Ministern seiner Regierung, den Generalstreik aus, an dem sich landesweit cirka 12 Millionen Arbeiter beteiligten. Nach wenigen Tagen brach der Putsch zusammen. Massive Vorwürfe wurden gegen den Reichswehrminister erhoben, er sei gegenüber den führenden Militärs zu blauäugig gewesen: Am 22. März musste Gustav Noske seinen Hut nehmen. Nach dem Noske-Trauma sollte es fast fünfzig Jahre dauern, bis wieder ein Sozialdemokrat, Helmut Schmidt im Jahr 1969, den Posten des Verteidigungsministers übernahm. Auf Druck der Gewerkschaften und der SPD-Reichstagsfraktion unter ihrem Wortführer Philipp Scheidemann musste am 26. März auch die Regierung insgesamt zurücktreten, da ihr nicht zu Unrecht vorgeworfen wurde, eine Demokratisierung der Reichswehr und der Verwaltung nicht energisch genug betrieben zu haben, wobei der Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien auch noch eine offene Rechnung mit seinem früheren Stellvertreter Gustav Bauer auszufechten hatte. Nach neun Monaten im Amt musste Friedrich Ebert seinen Lieblingskanzler schweren Herzens ziehen lassen.
Zu Gustav Bauers Nachfolger ernannte der Reichspräsident den bisherigen Außenminister Hermann Müller, der von der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung zuvor einstimmig nominiert worden war. Die Koalitionszusammensetzung und die meisten Ministerposten blieben unverändert. Allen Beteiligten war klar, dass es sich angesichts der a...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Irrwege der Erinnerungskultur
  6. Der Kanzlerposten als Schleudersitz – Die kurzen Amtszeiten
  7. Viele junge Kanzler, geprägt vom Kaiserreich – Alter und Generation
  8. Drei Badener, neun Preußen – Herkunft und Heimat
  9. Mehrheitlich „bescheidene Heimstätten“ – Der Familienhintergrund
  10. Das Leben vor der Politik – Ausbildungen und Berufe
  11. „Dein Vater hat aach den Soz gewählt!“ – Politische Prägungen
  12. Wie wurde man „kanzlerabel“? – Die Kanzlerkompetenzen
  13. Karrierehöhepunkte in der Dauerkrise – Die Kanzlerschaften
  14. Das Leben nach der Kanzlerschaft – Die Altreichskanzler
  15. Von der „Reichskanzlerin“ und ihren Kindern – Die Kanzlerfamilien
  16. Im Zweifel für die Reichskanzler – Ein Schlussplädoyer
  17. Literaturverzeichnis
  18. Abbildungsverzeichnis