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Expressive Sandarbeit in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen
This book is available to read until 5th December, 2025
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Expressive Sandarbeit in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen
About this book
Psychotherapiemethoden, die ohne sprachliche VerstĂ€ndigung auskommen, den Körper als Ausdrucksorgan miteinbeziehen, interkulturell anwendbar sind und die psychischen SelbstheilungskrĂ€fte aktivieren, gehört die Zukunft. Die von Dora Kalff konzipierte Sandspieltherapie und die von Eva Pattis Zoja entwickelte Expressive Sandarbeit kann auch in der Therapie mit fremdsprachlichen Kindern und Jugendlichen eingesetzt werden und so einen wichtigen Beitrag zur Arbeit mit FlĂŒchtlingsfamilien leisten. Zehn Autoren aus unterschiedlichen Kulturkreisen und LĂ€ndern beschreiben in diesem Buch anschaulich und ĂŒbersichtlich Sandspielprozesse von Kindern verschiedener Altersgruppen. Im Vordergrund stehen die Themen Migration und Adoption.
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Information
Teil I: Sandspieltherapie
1 Sandspieltherapie als prÀverbale Sprache und Ausdruck des Körpers
Ana Deligiannis, aus dem Spanischen ĂŒbersetzt von Elisabeth Zoja
Dieses Kapitel der argentinischen Analytikerin Ana Deligiannis bildet den theoretischen Rahmen, der es uns ermöglicht, Sandspieltherapie und Expressive Sandarbeit einzuorden. Das Hauptaugenmerk liegt auf prĂ€verbalen Ausdrucksformen und Prozessen. Und gerade weil letztere noch in keiner sprachlichen Struktur eingebettet sind (sprechen bedeutet ja bereits denken), ist es wesentlich, dass einerseits die vom Therapeuten beobachteten PhĂ€nomene nicht unreflektiert und unartikuliert âșin der Luft hĂ€ngenâč und andererseits auch nicht in starre Interpretationsschemen gepresst werden. Welche wesentliche Rolle der Körper und das reziproke Körperbewusstsein von Therapeut und Klient dabei spielt, wird hier angedeutet und in den folgenden Kapiteln vertieft.
Die Sandspieltherapie ist eine psychotherapeutische Methode, die mit tiefen, prĂ€verbalen Ebenen der Psyche arbeitet. Die theoretische Grundlage dafĂŒr bietet die Psychologie Carl Gustav Jungs: Sandspieltherapie kann im weitesten Sinne als eine Form von Aktiver Imagination betrachtet werden. Sie stellt einen unbewussten Prozess dar, der direkt in Kontakt mit der Innenwelt steht und als BrĂŒcke zur AuĂenwelt fungiert, das Hervortreten einer symbolischen Haltung fördert und die Möglichkeit bietet, vergangene Situationen und sich wiederholende Muster neu zu gestalten.
Die heilende Wirkung liegt dabei nicht in der Interpretation der Gestaltung, sondern vor allem im Erleben des Prozesses, wobei dasselbe selbstverstĂ€ndlich verschiedene Bewusstseinsgrade hat. Im Unterschied zu rein verbalen Therapien (bei denen Erkenntnisse auf kognitiver Ebene bleiben könnten), wird hier ĂŒber den taktilen Kontakt der HĂ€nde mit dem Sand und der benutzten Objekte der Körper miteinbezogen, also eine »Verköperung« der Prozesse angestrebt. Der Körper registriert neue Erlebnisse, die als verkörperte Erkenntnisse aufbewahrt werden, sodass sie spĂ€ter in Form von spontanen Bildern wieder auftauchen können. Sandspieltherapie aktiviert die prĂ€verbale Kommunikation: deshalb ermöglicht sie uns, zu Erinnerungen aus dem Unbewussten und in das implizite GedĂ€chtnis vorzudringen, Abwehrmechanismen zu umgehen und verborgenen BedĂŒrfnissen, seelischen Verletzungen oder unausgedrĂŒckten Talenten auf die Spur zu kommen. Die Erfahrung von PrimĂ€rgefĂŒhlen â Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel und Ăberraschung â die vor dem Eintreten der SprachfĂ€higkeiten stattfand, ist in frĂŒhen Bewegungsmustern abgespeichert und leben in unserer Gestik und Körperhaltung weiter: Der Körper kann sich entweder ĂŒber psychosomatische Symptome an eine traumatische Erfahrung erinnern oder sie völlig ausschalten, in dem er die bewusste Erinnerung blockiert bzw. betĂ€ubt. Diese im Körper abgespeicherten Emotionen â »verkörperte Erinnerungen« â sind in einem GroĂteil der FĂ€lle wiederum nur ĂŒber den Körper, ĂŒber die Bewegung oder auch ĂŒber das Gestalten im Sand zugĂ€nglich. Doch selbst emotional intensive Erfahrungen aus spĂ€teren Lebensjahren können oft nicht verbalisiert werden, wĂ€hrend ihnen eine Inszenierung im Sandspiel Ausdruck verleihen kann. Traumatische Erlebnisse aus der frĂŒhen Kindheit sind meist dissoziiert, d. h. aus dem Bewusstsein ausgeblendet und in Form von Komplexen im Unbewussten, im impliziten GedĂ€chtnis aufbewahrt (Wilkinson, 2007). Solche Erfahrungen erhöhen die TĂ€tigkeit der Amygdala und verursachen eine AktivitĂ€tssteigerung des impliziten emotionalen GedĂ€chtnisses: Damit wird die Einspeicherung neuer Inhalte im expliziten oder deklarativen GedĂ€chtnis gehemmt, was natĂŒrlich den Erinnerungsprozess erschwert. Jene emotional geladenen Fragmente, die in Form von Komplexen im Unbewussten aufbewahrt werden, werden auch im Körper gespeichert und treten oft in Form somatischer Symptome auf. Solche zurĂŒckgehaltenen oder eingefangenen Affekte können durch imaginative TĂ€tigkeiten ihren Ausdruck finden und dazu beitragen, eine Beziehung zwischen implizitem und explizitem GedĂ€chtnis herzustellen. Das Imaginieren mit Hilfe der HĂ€nde begĂŒnstigt sowohl den dramaturgischen Ausdruck psychischer Inhalte als auch die meist ĂŒberraschende Begegnung mit einer neuen, krĂ€ftigenden Instanz, der transzendenten Funktion. Laut Chodorow (1994) ist Imagination nicht nur ein symbolischer Prozess, sondern fĂŒhrt zum emotionalen Kern der Komplexe. Die Imagination hat neben der reproduktiven auch eine produktive Funktion, dank der sie Bilder erschafft. Seit dem Beginn neurowissenschaftlicher Forschung hat Johnson (1992) die These aufgestellt, dass Imagination die körperlichen Strukturen und das kognitive Denken miteinander verbindet und deshalb bei Prozessen wie VerstĂ€ndnis, methodischem Gedankengang und Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Johnson argumentiert, dass es keine unĂŒberwindbare Kluft zwischen Vernunft und Imagination und damit keine nackte RationalitĂ€t gibt: Es sei also unentbehrlich, unseren Erfahrungen mit Imagination zu begegnen, um ihren Sinn zu erkennen. Diese ermöglicht nĂ€mlich erst den Ablauf von Prozessen wie Schlussfolgern, Problemlösen, propositionelle Strukturen und Abstrahierung von Konzepten. Nach Johnson (1992) wirkt die Imagination als eine Art BrĂŒcke zwischen konkreter Erfahrung und abstrakter Konzeptualisierung. Aus philosophischer Perspektive hat Bachelard die Imagination als VorlĂ€uferin wissenschaftlicher Entdeckungen betrachtet. Wenn man nun von dieser imaginierenden FĂ€higkeit der Seele (Jung, 1926) und von der Idee der Imagination als via regia zum Unbewussten ausgeht, kann man annehmen, dass Sandspiel die schöpferische Fantasie fördert: Es werden dabei KanĂ€le geöffnet, die der Psyche ermöglichen, sich auszudrĂŒcken und zu verwandeln. Die Arbeit mit dem Sandspiel ist ein Weg der Erkenntnis, der auf die prĂ€verbale Stufe zurĂŒckgreift: Er zielt weniger auf eine kathartische Entladung der Emotionen ab und versucht vielmehr, Bedeutungen zu enthĂŒllen und seelische Verletzungen zu versorgen, in anderen Worten: es entstehen neue Sinnesinhalte. Dabei wird »[d]iese merkwĂŒrdige VerwandlungsfĂ€higkeit der menschlichen Seele, die sich eben in der transzendentalen Funktion ausdrĂŒckt [âŠ]« (Jung GW 7, 1934, S. 241, §360) aktiviert: eine angeborene FĂ€higkeit, die im Rahmen der Selbstregulierung und Kompensation der Psyche wirkt, einen Bereich von GrenzĂŒberschreitungen generiert und damit letztendlich eine neue symbolische Haltung erzeugt. Sie ermöglicht dem zurĂŒckgehaltenen oder eingefangenen Affekt einen Ausdruck ĂŒber die Bilder, in einem Stadium, in dem die Wörter noch nicht in der Lage sind, ihn zu erfassen.
Heutzutage sind die NeuroplastizitĂ€t und ihre Beziehung zur KreativitĂ€t bedeutende Bestandteile der Neurowissenschaften. Dieses Konzept könnte mit dem jungianischen der schöpferischen Kraft und ihren Implikationen fĂŒr das therapeutische Arbeiten in Bezug gesetzt werden (Wilkinson, 2007). Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen organischer und psychischer PlastizitĂ€t. Inzwischen ist bekannt, wie wichtig fĂŒr Kinder in den ersten Lebensjahren die Beziehung zu ihren Bezugspersonen ist und wie gravierend andererseits die Auswirkungen emotionaler Deprivation sein können. Nichtsdestoweniger kann man sagen, dass GehirnplastizitĂ€t â auch im Falle negativer Erfahrungen oder einer beschrĂ€nkten emotionalen Entwicklung â die Möglichkeit zur VerĂ€nderung bietet, vor allem im Rahmen offen-annehmender und stĂŒtzender Beziehungen. Siegel (1999) schreibt: »Es sind die menschlichen Beziehungen, die den neuronalen Verbindungen, aus denen der Geist entsteht, Form geben«. Im Unterschied zum genetischen Determinismus eröffnet die NeuroplastizitĂ€t die Möglichkeit der Andersartigkeit und Einzigartigkeit. Wenn das neuronale Netz die Möglichkeit seiner eigenen VerĂ€nderung impliziert (Anserment & Magistretti, 2010) und das Unbewusste nach Jung eine schöpferische und heilende Kraft besitzt, könnten sich selbst die seelischen Wunden frĂŒhester Kindheit tilgen, oder genauer, sich einen Weg bahnen, der anders ist als der bisher betretene. Im Kontext eines therapeutischen Prozesses könnten sowohl die Ăbertragungsbeziehung als auch Methoden zur Aktivierung der transzendenten Funktion neue Wege einleiten und somit die Entstehung einer neuen inneren Wirklichkeit ermöglichen. Aus neurologischer Sicht: Es könnten neue neuronale Verbindungen entstehen.
Eine Reihe von therapeutischen Prozessen könnten mit dem Konzept der Umgestaltung im Rahmen der Psychoanalyse in Beziehung gesetzt werden. Es ist bereits bekannt, dass der Wiederholungszwang den unbewussten Versuch darstellt, zur konflikthaften oder traumatischen Situation zurĂŒckzukehren, um sie ein fĂŒr alle Mal zu berichtigen. Das Unangenehme oder Schmerzhafte zeigt sich demnach immer wieder in Form von Wiederholungen: sowohl im Leben, als auch im analytischen Ăbertragungsprozess. Im klinischen Bereich kann immer wieder diese Art von »Wiederholung« beobachtet werden, doch seit zwei Jahrzehnten spricht man im psychoanalytischen Kontext auch von Umgestaltung. Statt das Altbekannte zu wiederholen, wird es neu gestaltet. Dabei geht es darum, das bisher UnverĂ€nderte zu verarbeiten, das bereits Erlebte zu verĂ€ndern statt zu wiederholen (Lerner, 2001). Es bezieht sich auf die Erscheinung dessen, was niemals erlebt wurde, sich jedoch im therapeutischen Rahmen zum ersten Mal ereignen kann. Wie kann man das bisher UnverĂ€nderte verĂ€ndern? Wie das bisher niemals Dargestellte darstellen? Welche sind die Bedingungen, die fĂŒr die Möglichkeit eines Umgestaltens im therapeutischen Rahmen notwendig sind? Die Möglichkeit Geschehnisse zu verarbeiten und umzugestalten existiert in einem potentiellen Raum. Es ist ein vertrauenswĂŒrdiger Rahmen mit folgenden Faktoren nötig: Empathie, VerstĂ€ndnis, UnterstĂŒtzung bei der Symbolisierung (Lerner, 2008), bei der Reflexion sowie der KohĂ€renzerzeugung, der Bezeichnung und Unterscheidung von Emotionen (Nemirovsky, 2009). Eine Bindung solcher Art kann bei der Umgestaltung von Mustern behilflich sein und ermöglicht die Bewusstwerdung frĂŒher unbefriedigter BedĂŒrfnisse und entsprechender Verarbeitungsmöglichkeiten.
Zusammenfassung
Sandspieltherapie aktiviert die prĂ€verbale Kommunikation: deshalb ermöglicht sie uns, zu Erinnerungen aus dem Unbewussten und in das implizite GedĂ€chtnis vorzudringen, Abwehrmechanismen zu umgehen und verborgenen BedĂŒrfnissen, seelischen Verletzungen oder unausgedrĂŒckten Talenten auf die Spur zu kommen. Davon ausgehend werden die Konzepte von Imagination, Körperbewusstsein, NeuroplastizitĂ€t und psychische Umgestaltung erlĂ€utert.
Literatur zur vertiefenden LektĂŒre
Jung, C.G. (1971). GW Bd. 7. Olten: Walter Verlag.
Ammann, A. (1991). Aktive Imagination, Darstellung einer Methode. Olten: Walter Verlag.
Siegel, D. (2012). Mindsight, die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. MĂŒnchen: Goldmann.
HĂŒther, G. (2006). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
MĂŒller, L., Lutz, A. (2003). Wörterbuch der analytischen Psychologie. DĂŒsseldorf: Patmos.
WeiterfĂŒhrende Fragen
âą Auf welche Weise stehen Immagination und kognitives Denken miteinander in Zusammenhang?
âą Ăber welche vorsprachlichen KommunikationskanĂ€le teilen sich unbewusste Inhalte in der Sandspieltherapie dem Therapeuten mit?
⹠Wie stehen der von Jung geprÀgte Begriff der Komplexe und die von Jung beobachtete Tatsache, dass die Psyche Bilder erzeugt (Bild = Seele) zueinander?
2 Psychische Aspekte bei Kindern und Jugendlichen der zweiten Generation nach Migration1
Alexander von Gontard
Der Kinderpsychiater und Sandspieltherapeut Alexander von Gontard beschreibt hier anhand von zwei Therapiebeispielen von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen das Thema der sogenannten »secundos«, nÀmlich Kinder aus der zweiten Generation der Migration.
Migration und Flucht haben in den letzten Jahren zugenommen und waren das bestimmende politische Thema in Deutschland seit 2015. Nach dem Lagebericht der Unicef (2016) reisten 2015 ca. eine Million Menschen nach Deutschland, wobei mehr als 40% aus Syrien stammten. Es wurden 440 000 Erst-AsylantrÀge gestellt, davon 137 000 von MinderjÀhrigen. Von Januar bis Mai 2016 folgten weitere AsylantrÀge von Kindern und Jugendlichen, von denen 90 000 begleitet und 9 000 unbegleitet waren. Ende Februar befand...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Autorenverzeichnis
- Inhalt
- Vorwort
- Teil I: Sandspieltherapie
- Teil II: Expressive Sandarbeit
- Literaturverzeichnis
- Stichwortverzeichnis
- Teil III: Anhang