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Ist Kapitalismus gerecht?
Die menschliche Natur in Kapitalismus, Sozialismus und Evolution
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Ist Kapitalismus gerecht?
Die menschliche Natur in Kapitalismus, Sozialismus und Evolution
About this book
Was ist gerecht? Eine Gesellschaft, die alle gleichstellt? Eine Gesellschaft, die gerade aufgrund der ungleichen natürlichen Voraussetzungen alle unterschiedlich behandelt? Sozialistische Theorien ebenso wie marktliberale Theorien geben hier unterschiedliche Antworten. Der Autor geht dem roten Faden der Argumente nach und räumt mit einigen Vorurteilen auf; unter anderem, dass die kapitalistische Ökonomie Konkurrenz erzeuge oder Ungerechtigkeit schaffe. Schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob die freie Marktwirtschaft nicht gerade unserer menschlichen Natur entspricht, wenn man evolutionsbiologische Erkenntnisse zulässt und deren Argumentationslinien folgt.
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Information
1. Gerechtigkeit ist normativ
Die ersten Wirtschaftstheorien nannten sich »Politische Ökonomien«. Der Begriff geht zurück auf den griechischen Begriff »Oikonomia« (Haushalt) und wurde auf den Staat übertragen. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff dann durch »Wirtschaftswissenschaften« bzw. »Volkswirtschaftslehre« ersetzt. Heute wird der Begriff der Ökonomie bzw. ihr Gegenstand durchaus mehrdeutig verstanden: zum einen als das Bestreben, möglichst viel mit möglichst geringem Aufwand zu erlangen. Der Philosoph Richard Avenarius nannte das im 19. Jahrhundert das »Prinzip des kleinsten Kraftmaßes«. Wir würden das heute mit »Effizienz« übersetzen. Zum anderen verstehen nicht nur der Volksmund, sondern auch Definitionen in Lexika und Fachbüchern die Wirtschaft als Garant dafür, Entscheidungen zu treffen, die eine bestmögliche Bedürfnisbefriedigung der Menschen bei knappen Ressourcen erlangen. Man kann beide Desiderate durchaus kritisch betrachten, denn wir wirtschaften weder besonders effizient, noch »gerecht«.
Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, sollten wir klären, was damit gemeint sein soll. Ich möchte folgende Bedeutungen unterscheiden: Gerechtigkeit im Sinne des geltenden Rechts, Gerechtigkeit als Gleichheit, immanente Gerechtigkeit (positivistisch, analytisch) und Metagerechtigkeit (normativ, kritisch). Ursprünglich bedeutet Gerechtigkeit die Übereinstimmung mit dem geltenden Recht. Gerechtigkeit heißt dann, dass vor dem Gesetz alle gleich sein sollen. Gleiche »Fälle« sind gleich zu behandeln, doch wann können wir überhaupt von gleichen Fällen sprechen? Die Lebenssituationen sind unterschiedlich, und die Menschen sind es auch. Die Anwendung setzt also per se schon eine Abstraktion voraus.
Man kann die Frage nach Gerechtigkeit auch mit der Begrenztheit unserer natürlichen Ressourcen in Verbindung setzen: »Wo ein Überfluss seitens der Natur herrscht, wird die Gerechtigkeit aber nur weitgehend, nicht vollständig arbeitslos.«2 Man kann diese Korrelation aber auch anzweifeln. Nicht umsonst werden überproduzierte Lebensmittel in den reichen Industriestaaten aus ökonomischen Gründen durchaus auch vernichtet, anstatt sie den Hungernden zuzuführen. Zudem muss Überfluss die soziale Ungleichheit nicht zwangsläufig aufheben, sondern kann diese auch verschärfen.
Gerechtigkeit gilt den meisten (Rechts-)Philosophen als die erste und wichtigste Kategorie des Zusammenlebens. Höffe etwa nennt die Gerechtigkeit die »geschuldete Sozialmoral« mit dem »Rang des elementar-höchsten Kriteriums allen Zusammenlebens«3. Und in der Tat: Wenn man sich Gedanken macht, wie gesellschaftliches Zusammenleben idealerweise erfolgen könnte, und dabei das Leben aller beteiligten Individuen als gleichwertig setzt, wäre die erste universelle soziale Norm die Gleichstellung aller Menschen.
Idealerweise deshalb, weil es zum einen voraussetzen würde, dass alle Beteiligten der Gleichstellung zustimmen, und diese Zustimmung zum anderen sehr wahrscheinlich davon abhinge, dass es zum Zeitpunkt der Gleichstellung noch keine ungleiche Verteilung von Ressourcen, Macht oder Herrschaft etc. gäbe. Dies einmal hypothetisch zugestanden, stellte sich die Frage des Maßstabs (Gerechtigkeit) damit gar nicht, denn Gerechtigkeit wäre gleichbedeutend mit Gleichheit. Alle unmenschlich zu behandeln, wäre demnach auch gerecht, wenn die Gerechtigkeit keinen Maßstab über oder neben der Gleichheit einnimmt. Nimmt sie aber auf einer Metaebene Platz, dann sollte gezeigt werden, woher der Maßstab der Gerechtigkeit kommt.
Auch gesellschaftspolitisch verweist die Gerechtigkeit auf Gleichheit bzw. auf das Maß an Ungleichheit, das zugelassen werden kann, bevor die gesellschaftliche Stabilität darunter leidet. So kann man feststellen, dass Gerechtigkeit in einer Gesellschaft soweit gesellschaftspolitisch verwirklicht wird, wie der soziale Druck der Bürger es fordert. Gerechtigkeit wird auf diese Weise nicht zu einer moralischen, sondern zu einer politischen Kategorie, die das Maß der Stabilität über die soziale Ungleichheit und das Maß der abgeleiteten Zufriedenheit des Volkes steuert.
Wenn man Gerechtigkeit gleichbedeutend mit dem geltenden Recht setzt, so verfährt man positivistisch. Gerecht ist dann immer das, was in einem geltenden Rechtssystem gilt. Überspitzt geht das nicht nur in einem sogenannten »Rechtsstaat«, denn im weiteren Sinne meint man mit »Rechtsystem« zunächst nur die geltenden Regeln. Der Vorteil dieser Gleichsetzung liegt in der praktischen Handhabung: Gerecht ist dann, wenn die bestehenden Rechte eingefordert werden. Der Nachteil liegt darin, dass wir dann den Maßstab verlieren, bestehende Verhältnisse moralisch oder kritisch zu beurteilen. Denn der Maßstab zur kritischen Beurteilung von etwas kann nicht aus der Analyse derselben erfolgen.
1.1 Analyse und Kritik
G. E. Moore hat den Sachverhalt, dass aus der Analyse keine Kritik abgleitet werden kann, mit dem Begriff »naturalistischer Fehlschluss« bezeichnet. Demnach kann man aus dem Sein kein Sollen ableiten, von der deskriptiven Ebene nicht einfach zur normativen Ebene wechseln. Tut man es dennoch, wird die Normativität von einem externen Maßstab begründet, welcher nicht aus der Analyse des Faktischen kommen kann. Aus der Analyse bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, z. B. Ungleichheit, Kapitalismus etc. ergibt sich demnach noch keine Kritik derselben, denn der Maßstab zur Beurteilung muss von außen kommen.
Hinzu kommt, dass eine »reine« Analyse des Faktischen gar nicht möglich ist, weil man nicht »rein« objektiv analysieren kann. Von welchem Maßstab aus würde denn die Objektivität bemessen? So gesehen beinhaltet jede Analyse immer schon Kritik in sich. Thomas Kuhn4 hat dies für die Wissenschaftstheorie so formuliert: Die Zustimmung zu einem Paradigma ist nicht zwangsläufig selbst wissenschaftlicher Natur. Die Gründe zur Zustimmung zu einem wissenschaftlichen Paradigma liegen außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre, im Lebenslauf, in der Persönlichkeit, in der jeweiligen Peer-Group oder in anderen externen Umständen. Die Wahl eines Paradigmas hat nach diesem Verständnis also keine rationalen Gründe.
Für die Ökonomie hat etwa Thorstein Veblen bereits darauf hingewiesen, dass die Wirtschaftswissenschaft nicht als eigene Wissenschaft bestehen kann, sondern Soziologie und Anthropologie ebenso beinhalten müsse. Kuhn und Veblen verweisen auf die Notwendigkeit der Begründung von Normen von der Metaebene aus. Normen wie Gerechtigkeit oder die Kritik an bestehenden Verhältnissen lassen sich nicht aus diesen Verhältnissen selbst ableiten, sondern müssen transzendent begründet werden.* Analysiert man aktuelle, historisch konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, so werden daraus keine historisch übergreifenden, anthropologischen Strukturen sichtbar. Mit anderen Worten: Aus der Analyse, wie die Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer gegebenen kulturellen Ausgestaltung beispielsweise die Verteilung von Ressourcen regeln, kann man nicht schließen, wie die Menschen generell den Umgang mit sozialer Ungleichheit bewerten sollten. Wenn man sich fragt, wie soziale Ungleichheit entsteht, so reicht es also nicht, beispielsweise eine ökonomische Analyse der bestehenden Verhältnisse durchzuführen, denn das könnte etwa heißen, Ungleichheit sei erst durch den Kapitalismus entstanden. Vielmehr haben es die »herrschenden Klassen« zu allen Zeiten geschafft, sich die gesellschaftliche Ordnung als Nutznießer zu gestalten. Wir finden dies in der Vorantike und Antike, im Feudalismus, im Kapitalismus und wahrscheinlich auch noch im Postkapitalismus.
Wenn man nur die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse untersucht, dann sieht man die gerade geltende geschichtliche Ausprägung von Herrschaft, angewandter Ungleichheit oder Ungerechtigkeit. Um diese zu beurteilen, reicht keine historisch konkrete Analyse, sondern man muss möglichst zeit- und kulturübergreifend beurteilen. Setzt man also Gerechtigkeit weder mit geltendem Recht gleich, noch in dem Sinne, dass eben das gerecht sei, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft vorfindet, so muss man einen Maßstab jenseits dieses Positivismus finden. Die Frage ist, woher dieser Metamaßstab kommt. Ich will auf zwei Möglichkeiten eingehen.
Eine Möglichkeit ist es, den Maßstab ideell abzuleiten. In diesem Sinne sind Gerechtigkeitstheorien zu sehen, die kulturelle Möglichkeiten entwerfen. Diese kulturellen Güter können rein virtuell sein, also beispielsweise noch nie in der Wirklichkeit vorgefunden, oder auch praktisch verwirklicht worden sein. Hierzu zähle ich etwa sozialistische, neomarxistische und philosophische Theorien allgemein, sowie jede Art von Utopien oder gesellschaftliche Ideologien.
Eine andere Möglichkeit ist, den Maßstab nicht aus der Kultur, sondern aus der Natur abzuleiten. Der Maßstab von Gerechtigkeit würde demnach aus unseren biologischen Voraussetzungen abzuleiten sein. Gerecht wäre so ein Attribut, das unseren evolutionsbiologischen Voraussetzungen entspricht bzw. diesen zumindest nicht entgegenläuft. Also: Gerechtigkeit ist ein normativer Maßstab. Soll sie nicht auf geltendes Recht reduziert werden, braucht es einen Maßstab, der nicht aus den bestehenden Verhältnissen abgeleitet wird. Dieser Maßstab kann kulturell oder evolutionär begründet werden.
2. Ist Gleichheit gerecht?
Die Geschichte kennt viele Formen gesellschaftlicher Ungleichheit: religiöse, vom Glauben her legitimierte Ungleichheit, Ständegesellschaften, die Menschen im Feudalismus aufgrund von Geburt und Herkunft einordnen, Kastengesellschaften, usw. All diesen Formen ist gleich, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zugleich die Lebensweise und die Lebenschancen der jeweiligen Individuen mehr oder minder bestimmt. Im antiken Griechenland galt Ungleichheit noch als natürlich. Sklaverei und Herrschaftsverhältnisse wurden als nützlich angesehen. Aristoteles etwa begründet das mit der Natur des Menschen, welche schon immer auf soziale Ungleichheit angelegt sei.
In der abendländischen Geschichte vollzog sich eine Abkehr von diesen natur- oder »gottgegebenen« Merkmalen der Ungleichheit insbesondere durch den Wandel der Aufklärung und den weiteren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, beispielsweise durch die Industrialisierung. Mit diesem Wandel hat sich aber auch ein veränderter Blick auf Ungleichheit ergeben: Ungleichheit war zunehmend kein gottgegebener oder in der Natur des Menschen begründeter Umstand mehr, sondern wurde als durch die jeweilige Gesellschaft bestimmt verstanden. Ungleichheit wurde zu einem kulturellen Kriterium, das durch den Menschen geschaffen wurde, und deshalb auch wieder von ihm abgeschafft werden konnte.
Rousseau etwa sah den Ursprung der Ungerechtigkeit nicht in angeborenen Eigenschaften, sondern im Aufkommen von Eigentum bzw. in der gesellschaftlichen Legitimation des Ausschlusses mancher Menschen vom Eigentum der anderen. Diesen Gedanken werden später die Marxisten und Neomarxisten aufnehmen und zum grundlegenden Thema ihrer Kritik an der Klassengesellschaft machen: Eine Klasse ist nach dieser Diktion durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt. Karl Marx sieht dementsprechend die Ursache sozialer Ungleichheit im Privateigentum an Produktionsmitteln.
Jedenfalls zeigt sich in dieser Debatte der Antike bis zur Aufklärung schon die grundsätzliche Kontroverse der Ungleichheitsdebatte: Ist soziale Ungleichheit natürlich? Ist soziale Ungleichheit kulturell gemacht? Muss soziale Ungleichheit überwunden werden? Oder ist sie vielleicht sogar notwendig für das gesellschaftliche Zusammenleben? Und schließlich: Ist soziale Ungleichheit gerecht?
Gerade die letzte Frage setzt voraus, dass wir mit »Gerechtigkeit« etwas anderes als »Gleichheit« verbinden, sonst könnten wir uns auf den Gebrauch der Gleich-, bzw. Ungleichheit beschränken. Der Begriff der Gerechtigkeit führt etwas Neues ein, nämlich einen Wert, ein Gut. Etwas, das gerecht ist, kann nämlich nur schwer als schlecht bewertet werden. Und wenn wir den Begriff »Ungerechtigkeit« benutzen, tun wir das immer mit der Konnotation von »schlecht«. »Gerecht« meint also immer etwas Gutes, »ungerecht« immer etwas Schlechtes. Fragt man, ob soziale Ungleichheit gerecht sei, so geht man davon aus, dass es auch gut sein könnte, dass eine Ungleichbehandlung stattfindet.
Bereits der amerikanische Soziologe Talcott Parsons5 fragte sich, ob soziale Ungleichheit nicht möglicherweise notwendig für unser gesellschaftliches Zusammenleben sei. Die Fragestellung bei seiner sogenannten »Funktionalistischen Schichtungstheorie« war also gar nicht, wie man Ungleichheit beseitigen könnte, sondern wofür sie nützlich sein könnte. Doch welche Argumente könnten für die Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit sprechen? Die funktionalistische Theorie argumentiert, dass stabile soziale Systeme Normen, Regeln und Ordnung benötigen, welche die Beziehungen der Über- und Unterordnung bestimmen. Während man Parsons Gedankengang anhand der Überlegung nachvollziehen kann, dass es historisch in jeder Gesellschaftsform Hierarchie, Herrschaft und Ungleichheit gab, erschließt sich seine Erklärung hierfür auch rein kulturell: Die Bereitschaft der Menschen, die jeweilige soziale Ungleichheit zu akzeptieren, erklärt Parsons nicht nur mit den sonst stattfindenden Sanktionen, sondern, auch mit der jeweiligen Sozialisierung.6
In der weiteren Historie der funktionalen Schichtungstheorie gibt es durchaus auch soziologische Ansätze, die den kulturellen Erklärungsrahmen verlassen, so etwa die Arbeiten von K. Davis7, G. E. Moore oder R. K. Merton8. Demnach sei soziale Ungleichheit deshalb erwünscht, weil eine Gesellschaft damit sicherstelle, dass wichtige Positionen in ihr durch die fähigsten Individuen bekleidet würden. Diese (latent evolutionsbiologische) Begründung enthält stillschweigend die Behauptung, dass gesellschaftliche Fitness ein grundlegender Wert ist, dem sich andere Werte wie etwa Gleichheit unterzuordnen haben.
Ähnlich verfährt in der Folge Ralf Dahrendorf9, der der sozialen Ungleichheit grundsätzlich eine Nützlichkeit attestiert, weil die sozialen Strukturen somit in Bewegung bleiben. Auch hier wird Ungleichheit nicht von gesellschaftlichen Normen und Sanktionen her begründet, sondern anthropologisch, denn Fitnessmaximierung oder gesellschaftliche Dynamik sind keine kulturell immanenten Werte. Ihre Begründung erfolgt metakulturell.
Wenn man Gerechtigkeit schlicht mit Gleichheit gleichsetzt, dann wird sie zum formalen Kriterium. Gerecht könnte dann auch sein, dass alle gleich unfrei sind. Erst wenn man Gerechtigkeit und Gleichheit trennt, bekommt der Gerechtigkeitsbegriff eine inhaltliche Note. Man muss nun inhaltlich bestimmen, was ihn ausmachen soll. Sobald man die Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit Gleichheit aufgibt, gibt man auch die Illusion eines absoluten, universellen Gerechtigkeitsprinzips auf. Gerechtigkeit ist dann immer relativ, interindividuell, intrasozial, oder intersozial bzw. global.
Will man Kriterien für einen universellen, absoluten Gerechtigkeitsbegriff finden, der auch dem Gleichheitsprinzip entspricht, hätte man die einzige Möglichkeit, zum formalen Prinzip der Gleichheit auch inhaltliche Kriterien zu formulieren. Die Frage ist, ob das möglich ist, bzw. welche das sein können, denn sie müssten universell, interkulturell und sogar historisch übergreifend gelten. Die Frage nach der zeitlichen Eingrenzung stellt sich hier ebenso (ab welcher Entwicklungsstufe – phylo- und ontogenetisch – sprechen wir vom »Menschen«?) wie die Frage nach der Abgrenzung zu anderen Lebewesen, denen diese Rechte nicht zugestanden werden.
Auch stellt sich die Frage, wer diese Rechte überhaupt verleihen könnte. Im Moment können nur Nationalstaaten Rechte vergeben und Gerechtigkeit garantieren. Sie tun dies aber relativ, auf ihre jeweilige Rechts- und Entwicklungssituation bezogen, und verfügen auch nur über die jeweiligen Sanktions- und Durchsetzungsinstrumente innerhalb bestimmter territorialer Grenzen. Auch Privateigentum wird traditionell von Nationalstaaten geschützt. Die hohen Kapitalvermögen, die nach dem 19. Jahrhundert angehäuft worden waren und dann aufgrund der Weltkriege erst wieder im 21. Jahrhundert wuchsen, ergaben sich sowohl aus geringem Bevölkerungswachstum, schwacher Produktionsentwicklung, sowie aus der politischen Förderung des Privatkapitals.10
Die Frage, ob eine Gesellschaft es für richtig erachtet, dass ihre Kapitalbesitzer höhere Renditen erhalten, als das mit Arbeitseinkommen möglich wäre, ohne jegliche Arbeitsleistung der Gesellschaft gegenüber zu erbringen, ist eine der zentralen Fragen sozialer Ungleichheit. Offensichtlich verstehen wir es heute nicht als ungerecht, dass Kapitalbesitzer ohne Beteiligung am Arbeitsmarkt bevorteilt werden. Dass dies möglich ist, ist eine der Eigenheiten des Kapitalismus, entspricht aber der Relativität gesellschaftlich kultureller Logik, ist also nicht per se ungerecht. Ungerechtigkeit kommt nicht durch die spezielle Form der kapitalistischen Ökonomie zustande. Sie ist ein metakulturelles Kriterium, das sich in unserer Zeit eben mit den kapitalistischen Mechanismen ökonomisch und sozial umsetzt. Würden wir also beispielsweise das Privateigentum abschaffen, wäre dies kein Garant für mehr (normativ überkulturelle) Gerechtigkeit oder Gleichheit, denn Ungleichheit ist auch ohne Privateigentum möglich. Also nochmal: Die inhaltliche Ausgestaltung der Gerechtigkeit kann nicht aus den gesellschaftlich konkreten V...
Table of contents
- Deckblatt
- Impressum
- Was Sie zu Beginn wissen sollten
- 1. Gerechtigkeit ist normativ
- 2. Ist Gleichheit gerecht?
- 3. Gleichheitstheorien: Marxismus und Sozialismus
- 4. Das Milieutheorie-Dilemma
- 5. Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Vernunftkonzepte
- 6. Ungleichheitstheorien: Kapitalismus und Evolution
- 7. Ist Gerechtigkeit unnatürlich?
- Endnoten
- Literatur