1 Frühförderung und Gesellschaft
Moderne Kindheit. Neue Risiken – Neue Präventionskonzepte
Günther Opp
Ein Kind wird geboren! Das ist eine Freude für die Eltern und eine neue Herausforderung zugleich. Die Familie muss ihr Leben jetzt neu strukturieren. Es geht um eine Ausbalancierung familiärer Lebenswelten mit den kindlichen Bedürfnissen (goodness of fit). Die moderne Familie ist eine Familie im Stress. Mit der abnehmenden Kinderzahl und den Möglichkeiten einer bewussten Planung des Kinderwunsches hat die Bedeutung der Kinder, die geboren werden, zugenommen.
Das Kind wird zu einem Projekt. Erziehung zu einem enttäuschungsanfälligen Unternehmen, in dem Eltern kalkulieren, was sie in ihre Kinder investieren und welchen »Gewinn« sie davon erwarten. Die erziehungsengagierten Eltern wollen nichts falsch machen oder auslassen, was die Entwicklung des Kindes befördern könnte und sie werden dabei beraten von einer umfangreichen Ratgeberliteratur, die höchst widersprüchliche Empfehlungen für sie bereit hält. Dazu gehören Kinder brauchen Disziplin und Grenzen (Bueb 2006; Winterhoff 2009), Kinder brauchen Tigermütter (Chua 2011), Kinder brauchen Weltwissen (Elschenbroich 2003) Kinder brauchen positive Zuwendung und Freiräume (Juul 2014), bis hin zu Kinder brauchen Monster (Jones 2002). Und natürlich brauchen Kinder Mitgefühl (Bergmann 2012).
Logischerweise entsteht zum Gegenbild der guten Mütter die »Rabenmutter«, die diesen Idealbildern nicht entspricht. V. a. die Mütter fühlen sich überfordert (Senior 2014). Aber auch für die modernen Väter ist die Ausbalancierung der beruflichen Herausforderungen mit den eigenen Erwartungen an die Vaterrolle und den Unterstützungserwartungen der Mütter konfliktträchtig. Nicht zuletzt müssen schwierige berufliche Entscheidungen getroffen werden, die den materiellen Wohlstand der jungen Familien bestimmen.
In modernen Gesellschaften steht dem eine über Jahre hin wachsende Zahl von armen Familien und insbesondere alleinerziehenden Eltern gegenüber, die einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind. V. a. chronische familiäre Armutserfahrungen sind ein signifikantes Entwicklungsrisiko für Kinder. Die Bertelsmann Stiftung veröffentlichte vor kurzem eine Studie (Gross & Jehles 2015), in der aufgezeigt wurde, dass »arme Kinder« beim Schuleintritt über geringere Sprachkompetenzen, körperliche Koordinationsfähigkeiten, Probleme in der Visuomotorik, dem Zahlenverständnis und der selektiven Aufmerksamkeit sowie verstärkt Übergewichtigkeit zeigten. Armut wurde in dieser Studie über Sozialgeldbezug definiert.
Kann man Armut so einfach mit einer staatlichen Unterstützung gleichsetzen, die Armut doch eigentlich bekämpfen soll? Die Journalistin Susanne Gaschke (2015) hat diesbezüglich einen Widerspruch eingelegt und von einer »anderen Armut« gesprochen, die nicht allein durch finanzielle Zuweisungen zu beheben ist. »Dabei geht es um die fehlende Fähigkeit zur Selbstorganisation, um mangelnde Kenntnisse über gesunde Ernährung, um Suchtprobleme, um Ratlosigkeit in der Kindererziehung, um die Fehlnutzung von Medien, um eine generelle Hoffnungslosigkeit.« Es geht um Familien, denen es nicht gelingt, stabile Beziehungen aufzubauen, die Belastungen überdauern, deren Mitglieder wenig Einfühlungsvermögen zeigen, sich einsam fühlen, Familien, in denen Sprachlosigkeit herrscht, denen es nicht gelingt, alltägliche Routinen und einen sicheren Raum für die Kinder zu entwickeln.
Robert Putnam (2015) kommt in seiner neuen Studie Our Kids, zu dem Ergebnis, dass die größer werdenden Einkommensunterschiede die Vorteile der Kinder aus wohlhabenderen Familien immer mehr vergrößern und es gleichzeitig für benachteiligte Kinder immer schwieriger macht, sich nach oben zu arbeiten. Amerikanische Sozialdaten zeigen, dass wohlhabendere Kinder in der Mehrzahl mit beiden Elternteilen aufwachsen. Dies hat nach Putnam für den Erziehungserfolg von Kindern in den USA inzwischen eine höhere Bedeutung als die Ethnie, der sie angehören.
Ein früheres Buch Putnams (2000) verweist auf ein weiteres Problem moderner Gesellschaften, das Kinderleben sehr stark beeinflussen kann. Unter dem Titel Bowling Alone belegte er mit statistischen Daten, dass sich Freundschaften, Nachbarschafts- und andere soziale Beziehungen in den USA immer mehr ausdünnen. Das Individualisierungsversprechen selbstbestimmter Lebensplanung und Lebensführung moderner Gesellschaften führt auf seiner Schattenseite eine Vereinzelung und in extremeren Fällen die Vereinsamung von immer mehr Menschen mit sich. Der Preis der gewonnen Freiheit ist ein Verlust an sozialer Einbindung und Gemeinschaften, der sich in den aktuellen Burnout- und Depressionsdiskursen widerspiegelt (Ehrenberg 2008). Selbstbestimmung und Zugehörigkeit sind zwei grundsätzliche und durchaus spannungsreiche Grundbedürfnisse des Menschen. In Gemeinschaften suchen wir emotionale Resonanz, Intimität, Anerkennung, Anregungen, aber auch Schutz.
Die Spiegelung dieser gesellschaftlichen Transformationsprozesse in aktuellen Erziehungsdiskursen sind die Metaphern der »verinselten Kindheit«, der »verhäuslichten Kindheit« und der »mediatisierten Kindheit«. Gegenläufig dazu ist der starke Trend hin zu einer »institutionalisierten Kindheit« (Deutscher Bundestag 2014) der die wachsenden Zeiträume markiert, in denen immer jüngere Kinder außerhalb der Familie in Erziehungseinrichtungen unterschiedlicher Art betreut werden.
Die öffentlichen Erziehungseinrichtungen werden für die Kinder immer mehr zu sozialen Kontaktbörsen und zum Mittelpunkt von Peerbeziehungen. Im Gegensatz zu freieren Spielsituationen in den nahen Lebensfeldern lernen sich die Kinder in den Kindereinrichtungen erst kennen, spielen in größeren Gruppenverbänden und können sozialen Kontakten mit anderen Kindern bei Streit kaum ausweichen. Das erhöht die Konflikthaltigkeit institutioneller Spielkontexte (Streit, Zurückweisung, Ausschluss, Mobbing). Die Kitas sind mit diesen pädagogischen Herausforderungen konfrontiert.
Frühförderung mittendrin: Das Ich entsteht
Das Wissen über die frühe kindliche Entwicklung hat in den letzten Dekaden signifikant zugenommen. Kinder lernen über die Kommunikation mit der Mutter schon früh Stress zu regulieren. Die neuronalen »Verschaltungen« der Kinder verändern sich permanent mit den Herausforderungen in ihren Lebenswelten und durch ihre Reaktionen auf Umwelterfahrungen.
Sozial-emotionale und kognitive Entwicklungsprozesse sind aufs Engste miteinander und mit der Ausdifferenzierung neuronaler Schaltkreise verknüpft. Dabei lässt sich ein Paradox frühkindlicher Entwicklung konstatieren.
»Human development is shaped by the ongoing interplay among sources of vulnerability and sources of resilience« (National Research Council and Institute of Medicine 2000, 4).
Auch die genetischen Voraussetzungen interagieren mit Umwelterfahrungen. Dabei gibt es so etwas wie einen Dreiklang von genetischer Ausstattung, von Erfahrungen und neuronaler Entwicklung. Die ersten drei Lebensjahre sind Zeiten besonders schnell voranschreitender Kompetenz- und Gehirnentwicklung. In diesen ersten Lebensjahren werden Grundlagen für weitere Lernprozesse gelegt. Sie sind eine Art Blaupause für das spätere subjektive Wohlbefinden und das gelingende Leben der Kinder, Jugendlichen und späteren Erwachsenen.
Es gibt gute Belege über die Wirksamkeit früher Förderprogramme in sozialen, emotionalen und kognitiven Bereichen (Reynolds et al. 2001; Heckmann 2006), die über die Lebensspanne nachweisbar sind. Die Qualität dieser Förderprogramme im Sinne ihrer Ausstattung (Ressourcen), der Betreuungsverhältnisse und der Ausbildung der Betreuer spielen dabei eine Rolle. Studien mit hospitalisierten Kindern aus rumänischen Kinderheimen (Nelson, Fox & Zeanah 2014) belegen die Effekte veränderter Umwelt- und Beziehungserfahrungen für Kinder, die in Pflegefamilien aufgenommen wurden. Am stärksten waren dies Effekte bei Kindern, die im frühen Alter zwischen einem bis drei Jahren in Pflegefamilien kamen. V. a. grundlegende Kompetenzen im Bereich der Regulation von Stress, der Regulation von Emotionen sowie auch der Entwicklung von (gemeinsamer) Aufmerksamkeit, die später die Grundlagen sozialer Kooperation und kognitiver Lernprozesse sind, werden bedeutsam für die Entwicklungs- und Erziehungserfolge von Kindern.
Die Ergebnisse der Resilienzforschung belegen, dass etwa ein Drittel der Kinder, die in hochbelasteten Lebenswelten aufwachsen, in ihrer Entwicklung nicht auffällig werden. Diese Kinder verfügen über Ressourcen in ihren Lebens- und Beziehungswelten, die sie für gelingende Entwicklungsprozesse nutzen. Die Anzahl der Risikofaktoren (Risikokumulation), ihre Dauer (Chronizität) und das Geschlecht haben wesentlichen Einfluss auf die Entwicklungsergebnisse. Unter den protektiven Faktoren wird v. a. die Bedeutung der Bindungserfahrungen im frühen Lebensalter betont (Grossmann & Grossmann 2007). Die primären Fürsorgepersonen bilden den Mittelpunkt kindlicher Sozialerfahrungen in den ersten Lebensjahren. In der Regel ist es die Feinfühligkeit der Mutter als primärer Bezugsperson, die als sichere Basis für das Explorationsverhalten des Kindes und als Spiegelbild eigener Empfindungen und Gefühle dient. Aus diesen Spiegelungen heraus entwickelt sich ein positives Selbstbild und es öffnen sich Vorstellungen von den Gedanken und Gefühlen anderer (Fonagy et al. 2002). Das Kleinkind lernt über die Ko-Regulierung mit den Bezugspersonen, seine affektiven Reaktionen selbst zu moderieren und zu kontrollieren.
Neuere Zusammenfassungen der Ergebnisse der Resilienzforschung fokussieren sehr stark auf die Bedeutung sozialer Beziehungen für gelingende Entwicklung:
»The message is that interventions need to serve the provision of good social relationships and not just the focussed learning of specific coping skills or particular cognitive strategies« (Rutter 2013, 483 f.).
Es geht also um die kindlichen Beziehungswelten, die Beziehung zu Erwachsenen, die Zugehörigkeit zu positiven Gruppen und Gemeinschaften, Freundschaften, positive Peerbeziehungen und die soziale Unterstützung, die das Kind daraus ziehen kann.
Suniya Luthar (2006) betont das tief sitzende menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit. »Resilience rests, fundamentally, on relationships. The desire to belong is a basic human need, and positive connections with others lie at the very core of psychological development […]« (780). Gute Beziehungen zeichnen sich aus durch emotionale Wärme und angemessene Kontrolle oder Disziplin aus. Sie sind später die Grundlage intimer Beziehungen, gelingender Lebensbewältigung und sozialer Kooperation.
Frühförderung mittendrin: Ich und die Anderen
Babys zeigen schon im ersten Lebensjahr Interesse aneinander. Sie blicken sich an, beobachten sich gegenseitig, gestikulieren, bewegen sich aufeinander zu und berühren sich. In immer längeren Spielsequenzen beziehen sich die Kinder aufeinander (turn taking), beginnen Dinge zu teilen und geben sich gegenseitige Hilfestellungen (Rubin, Bukowski & Parker 2006). Das dritte Lebensjahr markiert einen wichtigen Entwicklungsschritt. Etwa in diesem Alter entsteht eine neue Welt der Gefühle, in der sich die Kinder über eigene Gefühle und die Gefühle anderer zunehmend bewusster werden. Eigene und fremde mentale Zustände werden in verschiedensten Als-ob-Aktivitäten (Fantasiespielen, Rollenspielen) verarbeitet und reflektiert. Die Kinder setzen sich in spielerischen Beziehungen zur Welt und eignen sich die Welt spielerisch an. Dabei geht es v. a. auch um soziales Lernen.
»Da das Selbst nur im Kontext des Anderen existiert, geht man gemeinhin davon aus, dass die Selbstentwicklung gleichbedeutend ist mit dem Sammeln von ›Erfahrungen des Selbst-in-Beziehungen‹« (Fonagy et al. 2002, 48).
Das soziale Verstehen wird durch eine verstärkte Zuwendung zu intimeren Freundschaftsbeziehungen und zur größeren Gruppe der Spielkameraden erweitert (Peers). Anders als die asymmetrischen Beziehungen zu Erwachsenen erlauben symmetrische Peerbeziehungen Lern- und Kooperationserfahrungen auf gleicher Ebene (Youniss 1994).
Eine miteinander gelebte Kinderkultur wird in ko-konstruktiven Prozessen entwickelt. Spielregeln und Routinen werden gemeinsam ausgehandelt. Sie dienen v. a. dazu, das gemeinsame Spiel zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten. Fairness spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Regeln der Gleichaltrigenwelt werden gegen Verstöße verteidigt und behauptet: »In unserer Kindergruppe machen wir das so!«. Regeln und Routinen geben Sicherheit. Die Regeln und Routinen der Kindergruppe werden auf andere Lebensbereiche übertragen und machen diese dadurch erwartbarer und sicherer. Auch in der Familie wird das gemeinsame Essen mit den gewohnten Ritualen der Kindergruppe eröffnet: »Piep, piep, piep …«.
Kinder lieben es, mit anderen Kindern zusammen zu sein und zu spielen. Streiten und Versöhnen gehören dazu. Sie sind wichtige Erfahrungen des sozialen Lernens, des Austestens von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Die Welt der Gleichaltrigen ist durchaus auch rau, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Körperliche Auseinandersetzungen sind im Alter bis etwa dreieinhalb Jahren am häufigsten. Andere insbesondere verbale Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung sind dann noch nicht oder nur ansatzweise verfügbar. Der Spaß am Spiel hängt ab von den Fähigkeiten der emotionalen Regulation (Frustrationstoleranz), der sozialen Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft, Kreativität und nicht zuletzt dem Geschick, Konflikte aushandeln und fairen Lösungen zuführen zu können. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Gleichaltrigen, Freunde zu haben, gewinnt nun immer größere Bedeutung und trägt ganz wesentlich zum subjektiven Wohlbefinden der Kinder bei.
Diese Freundschaftsbeziehungen zu initiieren und aufrechtzuerhalten, erfordert ganz neue Fähigkeiten. Anders als bei den Beziehungen innerhalb der Familie muss man sich um diese Beziehungen aktiv kümmern. Die Kinder müssen Kontakte initiieren können, »um eine Freundschaft zu unterhalten müssen sie in der Lage sein, sich miteinander abzustimmen«. Freundschaften schränken die Beliebigkeit von Verhalten ein und stellen Anforderungen. Ein begehrter Spielpartner zu sein heißt, »Hilfe zu geben und zu empfange...