IV
Empirische Untersuchungen zur schulischen Inklusion und ihre Bedeutung für die Schulentwicklung
Empirische Befunde zum gemeinsamen Lernen und ihre Bedeutung für die Schulentwicklung
Christian Walter-Klose
Die Inklusion hat begonnen! Immer mehr Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam und besuchen die gleiche Schule vor Ort. Die Inklusionsquote, dies ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die den Gemeinsamen Unterricht besuchen, ist in den letzten Jahren auf 25% gestiegen (vgl. KMK, 2012). Andererseits besagt diese Statistik auch, dass zurzeit noch mehr als drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler mit Behinderung in einer spezialisierten Fördereinrichtung unterrichtet werden. Dies ist deutlich mehr als in vielen anderen Ländern wie z. B. Kanada, USA, Großbritannien, Italien oder Schweden (vgl. OECD, 2003). Was kann man tun, damit mehr Inklusion möglich wird? Wie lässt sich das Schul- und Bildungssystem inklusiver gestalten, wie es die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verlangt?
Eine Antwort wäre, einfach die Förderschulen zu schließen – doch entstehen dadurch neue inklusive Schulen? Sicherlich nicht, denn allein die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sichert nicht die bestmögliche schulische Bildung aller in einem Gemeinsamen Unterricht. Man kann sich vorstellen, dass neben einem barrierefreien Umbau der Schulen auch die sonderpädagogische Fachkompetenz in den Unterricht einbezogen werden muss. Neue inklusive Bildungssysteme müssen aufgebaut und geschaffen werden.
Hilfreich für den Aufbau inklusiver Schulsysteme kann neben theoretischen Überlegungen und der Anwendung von Modellen und Theorien aus der Heil- und Sonderpädagogik die Auswertung praktischer Erfahrungen aller am Inklusionsprozess Beteiligten sein. Auf Basis guter Praxisbeispiele aus dem In- und Ausland lassen sich Empfehlungen für die inklusive Schulentwicklung ableiten. So ist zu erklären, warum in den 1980er Jahren ein reger »Integrationstourismus« (Deppe-Wolfinger, 1990, S. 18) stattfand, bei dem Schulen in unterschiedlichen Ländern besucht wurden, um mit eigenen Augen zu sehen, wie beispielsweise der Gemeinsame Unterricht in Italien oder Schweden umgesetzt wurde.
Eine andere Vorgehensweise stellt die Durchführung und Auswertung wissenschaftlich empirischer Forschungsarbeiten dar. Auf der Grundlage eines systematischen, geplanten und kontrollierten Vorgehens werden Theorie und Praxis miteinander vereint. Anhand praktischer Erfahrungen in den Schulen können Theorien und Modelle entwickelt und überprüft sowie Empfehlungen für die Schulentwicklung abgeleitet werden. Positive Erfahrungen geben Hinweise auf Modelle mit Vorbildcharakter, negative Erfahrungen weisen auf Schwierigkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten hin.
Diese Grundidee stellt die Basis des vorliegenden Artikels dar, wobei zunächst zu klären ist, was als eine positive bzw. eine negative Erfahrung zu werten ist. Macht eine Schule guten inklusiven Unterricht, wenn alle Kinder mit und ohne Behinderung Teil der Klassengemeinschaft sind, oder ist eine Schule erst dann gut, wenn alle Kinder sich in ihren schulischen Leistungen bestmöglich entwickeln? Welche Rolle spielt die persönliche und gesundheitliche Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler?
Diese Fragen machen deutlich, dass die Beschäftigung mit Inklusion auch die Frage der Qualität schulischer Bildung berührt: Im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung sollen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Rahmen inklusiven Unterrichts bestmöglich in ihrer schulischen und sozialen Entwicklung unterstützt werden. Ohne an dieser Stelle die vergleichenden Schulleistungstests – man denke beispielsweise an die PISA-Studie – aufzugreifen oder Fragen nach Schul- und Bildungsstandards, Steuerungsgruppen oder Schulprogrammen zu thematisieren, ist eine qualitätsbezogene Betrachtung für die Schulentwicklung hilfreich. Es kann untersucht werden, welche Struktur- und Prozessmerkmale der Schul- und Unterrichtssituation sich positiv oder negativ auf die Ergebnisqualität auswirken.
Wertet man beispielsweise die Zufriedenheit mit der Schule als einen Qualitätsindikator, findet sich, dass die überwiegende Anzahl der befragten Eltern mit einer inklusiven Lernsituation, in der individualisierter Unterricht angeboten wird, sehr zufrieden ist (z. B. Lelgemann/Lübbeke/Singer/Walter-Klose, 2012).
Neben dem Blick auf die Qualität schulischer Bildung ist die Beschäftigung mit dem Begriff der Inklusion auch für die Schulentwicklung von besonderer Bedeutung. Wohin soll sich die Bildungslandschaft entwickeln, und was soll das Ziel der Veränderungsprozesse sein? Ist das Ziel aller Bemühungen, dass in allen Schulen Kinder mit und ohne Behinderung miteinander lernen können, oder reicht es, dass einige allgemeine Schulen offen für Kinder mit einer Behinderung sind? Haben Eltern eine freie Wahlmöglichkeit, welche Schulform ihr Kind besuchen soll? Sind Förderschulen Bestandteil eines inklusiven Bildungssystems, oder verdient eine Gesellschaft im schulischen Bereich erst dann das Prädikat »inklusiv«, wenn alle Förderschulen abgeschafft sind?
Antworten auf diese Fragen fallen nicht leicht, da der Begriff der Inklusion sehr heterogen definiert wird. Während die Inklusion für die einen eine Vision kennzeichnet, die einem Leitprinzip die Richtung gibt, sehen andere die Inklusion als realen Zielzustand, der mit der sofortigen Abschaffung aller Förderschulen verbunden ist. Wieder andere ersetzen den Begriff »Integration« einfach durch den der »Inklusion« und tragen so zur vielfältigen Begriffsverwendung und Verwirrung bei.
Um im vorliegenden Artikel Empfehlungen für die inklusive Schulentwicklung für die Schülerschaft mit körperlicher und/oder mehrfacher Behinderung abzuleiten, ist es aus diesem Grund sinnvoll, zunächst der Frage nachzugehen, was Inklusion eigentlich ist, bevor im weiteren Verlauf ein Modell vorgestellt wird, mit dem sich die Qualität schulischer Bildung beschreiben lässt und das neben der Heterogenität der Bildungssituationen auch die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler abbildet. Die Ergebnisse nationaler und internationaler Studien zum gemeinsamen Lernen, die in den letzten 40 Jahren durchgeführt wurden und insbesondere Schülerinnen und Schüler mit körperlichen Beeinträchtigungen berücksichtigten, werden im dritten Abschnitt vorgestellt. Sie stellen die Basis für die im letzten Abschnitt beschriebenen Empfehlungen für den Aufbau inklusiver Bildungssysteme dar.
1 Überlegungen zur Inklusion als Ziel der Schulentwicklung
Die Diskussionen zum Thema Inklusion sind häufig hitzige Auseinandersetzungen mit gegensätzlichen Polen: Während für die einen die Abschaffung der Förderschulen unumgänglich ist, wollen andere an einem pluralistischen Schulsystem mit gemeinsamen und separierten Lernangeboten festhalten. Doch was ist eigentlich Inklusion? Erlaubt ein Schulsystem, das inklusiv sein soll, das Vorhandensein spezialisierter Förderklassen, und wie viel Separation darf in einer inklusiven Schule stattfinden? Müssen alle Kinder immer in einer Klasse zusammen sein?
Die Vorstellung davon, wie ein inklusives Schulsystem aussehen soll, ist in Deutschland höchst unterschiedlich. Von Bundesland zu Bundesland unterscheiden sich die Umsetzungen in den Gesetzen der Länder (z. B. Klemm, 2013). Eine ähnliche Heterogenität in der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung findet sich auch im internationalen Kontext. Während für die einen gemeinsame Lernsituationen das Merkmal eines inklusiven Schulsystems darstellen, hier lässt sich beispielsweise Italien anführen, erlauben andere den Besuch von Förderklassen in Regelschulen wie z. B. USA, Frankreich oder Schweden (Walter-Klose, 2012).
Auch wenn diese Vielfalt inklusiver Bildungssysteme ganz im Sinne der Inklusion zu würdigen ist, erstaunt sie dennoch: Lässt die UN-Konvention in ihrer Umsetzung so viel Spielraum? Verbunden mit dieser Frage ist auch die Überlegung, inwiefern Inklusion etwas Neues ist und wie sie sich von der früheren Integrationspraxis unterscheiden soll. Manchmal scheint es so, als sei lediglich der bisher verwendete Begriff der Integration durch den der Inklusion ersetzt worden: Schülerinnen und Schüler mit Behinderung werden nicht mehr integriert, sondern inkludiert. Integrative Schulen werden zu inklusiven Schulen – und nicht immer verändert sich das Schulsystem bei diesem Namenswechsel.
In der Wissenschaft ist es nicht viel anders. Die Verwendung der Begriffe Integration und Inklusion gleicht einer »babylonischen Sprachverwirrung«, wie Wocken (2011, S. 59) feststellt. Während für die einen Inklusion mit Integration gleichzusetzen ist – man denke an die Übersetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ins Deutsche – bevorzugen andere den Begriff der Integration, da er »auf der theoretischen Ebene […] umfassender und tiefer gehend« sei (Reiser, 2007, S. 99; vgl. auch Singer hier im Buch). Nur die Praxis und die Tatsache, dass im Zusammenhang mit der Integration in der Vergangenheit häufig keine wesentlichen Anpassungen des Unterrichts an die Kinder mit Behinderung stattfanden, habe dazu geführt, dass die visionäre Kraft des Begriffs Integration verlorenging (Reiser, 2003, S. 308). Sander (2003, S. 319f.) sieht den Begriff der Inklusion in diesem Zusammenhang als Chance und bezeichnet sie als »optimierte und erweiterte Integration«, damit die defizitäre Praxis der Integration überwunden und eine individualisierte Förderung zum Vorteil für alle Kinder und Jugendlichen werden kann.
Dabei findet sich, dass auf einer pragmatischen Ebene beide Begriffe einen Gemeinsamen Unterricht beschreiben, in dem Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden (Tab. 1). Auch wird mit beiden Begriffen das Ziel verbunden, dass durch die Integration bzw. Inklusion eine Veränderung der Gesellschaft in Hinblick auf mehr Toleranz und Wertschätzung von Unterschiedlichkeit stattfindet. Die Gesellschaft soll Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt behandeln und die Vielfalt der Schülerinnen und Schüler als bereichernd erleben. Erst der Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ermöglicht, dass gegenseitige Ängste, Unsicherheiten und Vorurteile abgebaut werden.
Unterschiede zwischen den Begriffen Integration und Inklusion finden sich zum einen in ihrer juristischen Bedeutsamkeit. Wenn auch die Vision, die mit der Integration verbunden war, mit der der Inklusion vergleichbar ist, blieb die Forderung der Integration aus juristischer Sicht nur eine Empfehlung in den Gesetzen und Ausführungsbestimmungen. In der Praxis hatte der empfehlende Charakter der Integration die Folge, dass Kinder in Regelklassen nur aufgenommen werden konnten, wenn sie sich an das Regelsystem anpassen konnten und Unterricht mit Hilfe sonderpädagogischer Begleitung und individuellen Hilfsmitteln möglich war. Die Idee der Integration war von dem guten Willen aller Beteiligten abhängig. Die Verankerung des Inklusionsgedankens in einer UN-Konvention und der Forderung nach dem Recht auf den Zugang zur allgemeinen Schule vor Ort dagegen verpflichtet das Bildungssystem zur Veränderung: Nicht Kinder mit Behinderung müssen integriert werden, sondern das Bildungssystem muss sich flexibel an die Bedürfnisse der Kinder anpassen (z. B. Bielefeldt, 2010, S. 67; UNESCO, 2005).
Integration in der Praxis Inklusion
Tab. 1: Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Begriffe Integration und Inklusion in der Praxis
Anhand dieser Gegenüberstellung der Begriffe wird deutlich, dass mit dem Wort Inklusion im pädagogischen Verständnis mehr verbunden ist, als sich nur durch eine Übersetzung des Wortes »includere« in »einschließen« oder »einbeziehen« erahnen lässt. Es geht bei der Forderung nach schulischer Inklusion, wie sie durch die UN-Konvention formuliert wurde, nicht nur um die soziale Teilhabe im Gemeinsamen Unterricht. Ein weiterer Bestandteil ist die Aufforderung an das Schul- und Bildungssystem, sich an alle Schülerinnen und Schüler derart anzupassen, dass diese sich bestmöglich entwickeln können und Heterogenität konstruktiv genutzt werden kann. Eine dritte Dimension ist mit der normativen Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen verbunden. Inklusion ist Menschenrecht.
Neben diesen drei Ebenen, die in der Diskussion im Zusammenhang ...