2Der Bereich des Arztstrafrechts war hierbei lange Zeit entsprechend seiner historischen VorprĂ€gung8 beschrĂ€nkt auf die besonderen strafrechtlich bedeutsamen GefĂ€hrdungslagen des Arzt-Patienten-VerhĂ€ltnisses (sog. âklassisches Arztstrafrechtâ):
Bei den meisten Völkern der Antike, die die Medizin noch als MĂ€chte der Natur ansahen und einen Kausalverlauf zwischen Ă€rztlichem Verhalten und SchĂ€digung daher nicht behaupteten, geschweige denn nachweisen konnten, war ein Arzthaftungsrecht noch unbekannt oder zumindest sehr beschrĂ€nkt9: In Altbabylonien kannten die Gesetze des Königs Hammurabi (1793â1750 v. Chr.) zwar eine Bestrafung von Ărzten, aber nur von Chirurgen fĂŒr fehlerhafte Schnitte mit dem Operationsmesser.10 In Ăgypten waren â nach Aussage von Diodor (um 60 v. Chr.) â Ărzte ânicht zu belangenâ und gingen straffrei aus, sofern sie sich âan die entsprechenden Regeln, die sie einem heiligen Buchâ entnahmen, hielten, selbst wenn âsie etwa den Erkrankten nicht rettenâ konnten. Handelten sie aber diesen Regeln zuwider, so wurden sie âeines todeswĂŒrdigen Verbrechens angeklagt. Denn der Gesetzgeber war der Ansicht, niemand könne vermöge seines Verstandes etwa jenen Heilmethoden ĂŒberlegen sein, die aus alter Zeit ĂŒberkommen und von den besten Vertreters ihres Faches angewandt worden seien.â11 Gleiches galt nach dem 9. Buch von Platons Gesetz aus der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. fĂŒr Griechenland; âStrafeâ war lediglich ein schlechter Ruf der Ărzte.12
Erst als die Medizin bei den Römern groĂe Fortschritte machte, begann man, sich ĂŒber die rechtlichen Konsequenzen Ă€rztlicher Fehlleistungen Gedanken zu machen13: So unterfiel im römischen Recht der Lex Aquilia (287/286 v. Chr.) auch die vorsĂ€tzliche (sowie nach der Lex Cornelia de iniuriis [88 v. Chr.] fahrlĂ€ssige) Verletzung durch einen Arzt (z. B. durch unsachgemĂ€Ăe Operation oder das Verabreichen eines schĂ€dlichen Arzneimittels), wobei bei Vorliegen eines Kunstfehlers die KausalitĂ€t fĂŒr den Schaden vermutet wurde, da das begrenzte medizinische Wissen der damaligen Zeit einen Nachweis nicht zulieĂ.14 Im Mittelalter wurde nach Art. 134 der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 153215 â die bis ins 18. Jahrhundert hinein unmittelbare oder mittelbare Anwendung fand â ein Arzt fĂŒr eine Tötung âaus UnfleiĂ oder Unkunstâ bestraft. Unter den Landesgesetzgebungen war Anfang des 19. Jahrhunderts die Zahl der Strafverfahren gegen Ărzte wegen Behandlungsfehlern angesichts der noch nicht sehr weit entwickelten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse jedoch noch Ă€uĂerst gering.16 Ein anschauliches Beispiel hierfĂŒr ist der berĂŒhmte Fall âHornâ17: 1811 wurde die 21-jĂ€hrige, an einer unbestimmten psychischen Erkrankung leidende Louise Thiele in der CharitĂ© in Berlin vom Wundarzt Dr. Heinrich Horn in der Psychiatrie mit den damals gĂ€ngigen Methoden der WechselbĂ€der, Brechmittelgabe, Fesselung in der Zwangsjacke sowie des Steckens in einen Sack bei besonders heftigen AnfĂ€llen behandelt; bei einer solchen Behandlung mit dem Sack erstickte sie. Ein Verwandter erstattete Anzeige. Dennoch nahm das Kammergericht keine Ermittlungen auf, da es in der Behandlung keinen verschuldeten Tod erblickte. Daraufhin schrieb Dr. Kohlrausch, ebenfalls in der CharitĂ© tĂ€tig und seit langem im Streit mit Dr. Horn, einen Brief an einen hohen preuĂischen Beamten, in dem er Dr. Horn der grausamen und unmenschlichen Behandlung bezichtete sowie als Verursacher des Todes der Louise. Nach der Einholung von drei medizinischen Gutachten, die die Methoden des Dr. Horn jedoch als allgemein ĂŒblich und nicht ursĂ€chlich fĂŒr das Ersticken der Patientin bezeichneten, sprach das Kammergericht Dr. Horn 1812 frei. Dr. Kohlrausch wurde der bewussten falschen VerdĂ€chtigung beschuldigt, ihm konnte dies aber nicht nachgewiesen werden. Dr. Horn wurde nach dem Freispruch von der CharitĂ© befördert, Dr. Kohlrausch verlieĂ sie.
Erst in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Arzthaftungsprozesse deutlich an. Dennoch enthielten das PreuĂische Strafgesetzbuch von 1851 sowie das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (und trotz diverser Reformversuche das Strafgesetzbuch auch heute noch immer) keine Spezialnormen fĂŒr den (grundsĂ€tzlich straflosen) Ă€rztlichen Heileingriffs wie (einen Spezialtatbestand fĂŒr) die eigenmĂ€chtige Heilbehandlung (unten Rn. 25).
3Stattdessen sind in den letzten Jahrzehnten zu den klassischen Bereichen der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte als Folge des Ă€rztlichen Heileingriffs, dem Schwangerschaftsabbruch, der Verletzung der Ă€rztlichen Schweigepflicht, der Sterbehilfe und der Verschreibung von BetĂ€ubungsmitteln immer weitere (vor allem wirtschaftsstrafrechtliche) Deliktsbereiche im Zusammenhang mit der Ă€rztlichen TĂ€tigkeit in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden geraten, wie Abrechnungsbetrug, Vertragsarztuntreue, Vorteilsannahme und Bestechlichkeit, so dass der Begriff der Arztstrafrechts inzwischen in diesem Sinne (alle Delikte im Zusammenhang mit der Ă€rztlichen TĂ€tigkeit) wesentlich weiter gefasst werden muss (sog. âArztstrafrecht im weiteren Sinneâ). Die Zahl neuer strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in diesem weit verstandenen arztstrafrechtlichen Bereich hat sich (mangels verlĂ€sslicher bundesweiter Zahlen) nach SchĂ€tzungen auf der Grundlage exemplarischer empirischer Untersuchungen18 auf einem hohen Niveau von jĂ€hrlich 1.50019 â 3.00020 eingependelt.