Hyperaktivität
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Hyperaktivität

Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie

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Hyperaktivität

Kulturtheorie, Pädagogik, Therapie

About this book

Die Hyperaktivität von Kindern ist für Eltern, Lehrer und Erzieher zu einem zentralen Gegenwartsproblem geworden, das keine befriedigende medizinische Erklärung erfährt. Ihre explosionsartige Vermehrung verweist auf einen schnellen kulturellen Wandel, dem immer mehr Kinder in unguter Weise ausgesetzt sind. Zeitverknappung, Reizüberflutung und die zunehmende Flüchtigkeit persönlicher Beziehungen stellen dazu wesentliche Stichworte dar. Es scheint, als würden bestimmte Kinder auf diese Zeitumstände mit besonderer Sensibilität reagieren - teil so intensiv, dass ihr übersteigertes Verhalten am Ende eine pathologische Ausprägung annimmt.Der Band enthält kulturtheoretische Überlegungen, die sich mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen von Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen beschäftigen. Anhand zahlreicher pädagogischer und therapeutischer Praxisbeispiele wird analysiert, wie sich diese Bedingungen auf den Einzelfall auswirken können, und gezeigt, welche pädagogischen und therapeutischen Konsequenzen sich daraus ziehen lassen.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2007
eBook ISBN
9783170276840
Edition
1

Hyperaktivität, innere Welt und kultureller Wandel

Bernd Ahrbeck
„Je falscher die Richtung, desto sinnloser das Tempo.“
K. Modick

Einleitung

Unaufmerksame, motorisch unruhige und impulsive Kinder erzeugen seit vielen Jahren Probleme, die sich mit alltäglicher Erziehung im Elternhaus und gängigen Konzepten professioneller Pädagogik nicht mehr lösen lassen. Davon zeugt die massive Zunahme diagnostizierter Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen und auch die damit verbundene fokussierte Aufmerksamkeit, mit der Eltern, Lehrer und Ärzte diesem vielfach beklagten Phänomen begegnen. „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) oder „Hyperkinetische Störung“ (HKS) – so lauten die gern genutzten und oft erleichtert aufgenommenen Diagnosen, die von den international verbreiteten Klassifikationsschemata angeboten werden.
Die hyperkinetische Störung (ICD-10) bzw. die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (DSM-IV) ist definiert durch einen Mangel an Ausdauer bei kognitiv fordernden Aufgaben, eine leichte Ablenkbarkeit, eine starke, nur schwer steuerbare Impulsivität sowie überschießende Aktivität (Hypermotorik). Störungen des Sozialverhaltens und ein oppositionelles Verhalten gegenüber Autoritäten kommen hinzu. Zweifelsfrei gehört sie zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen, wobei die Angaben bei starken Steigerungsraten erheblich schwanken. Eine Metaanalyse von Angold, Costello & Erkanli, die allerdings bereits aus dem Jahr 1999 stammt, ergibt einen Durchschnittswert von 3,3 %. Die „American Psychiatric Assoziation“ (APA, 2000) geht von einer Prävalenzrate von 5 % aus, das „Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung“ (BMGS, 2002) von 2–6 %. Andere Angaben liegen erheblich höher, sie reichen in Deutschland nach DSM-IV bis zu einer Rate von 15,86 % (Riedesser 2006, 112). Inzwischen findet das Störungsbild auch im Erwachsenenalter zunehmende Beachtung (Schäfer & Rüther 2005).
Die medikamentöse Behandlung ist weit verbreitet: „80 Millionen Kinder werden weltweit, so aktuelle Schätzungen, mit Amphetaminen behandelt, …. 400.000 davon in Deutschland“ (Leuzinger-Bohleber 2006, 11). Nach Barbaresie et al. (2002) bekommen 86 % der einschlägig diagnostizierten Kinder Stimulanzien. Amft (2004; 2006) berichtet für Deutschland über eine extreme Steigerung der Ritalin®-Verschreibung in den letzten zwei Jahrzehnten. Sie fällt selbst dann noch dramatisch aus, falls Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre eine medikamentöse Unterversorgung vorgelegen haben sollte.
Der Mainstream der Hyperaktivitätsforschung ist sich darin einig, dass primär hirnorganische Faktoren für diese Störungsbilder verantwortlich sind, die heute in besonderen neuronalen Netzwerken und synaptischen Verschaltungen gesehen werden.
Umwelteinflüsse, sog. exogene Risikofaktoren, sind demnach von sekundärer Bedeutung, sie treten nur als verstärkende Bedingungen in Erscheinung (Wender 2002; Amft 2004; Pschyrembel 2004; ZEIT-Lexikon 2005). Das hirnorganische Verursachungsmodell blickt auf eine lange Tradition zurück: Mit wechselnden Inhalten und der gleich bleibenden Überzeugung, den Kern der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen in dem jeweils aktuellen biologischen Modell gefunden zu haben. Neben der Vererbungshypothese waren es zunächst prä-, peri- oder postnatale Verletzungen des Gehirns, die als Krankheitsursache galten, dann Minimale Cerebrale Dysfunktionen (MCD), zuletzt Auffälligkeiten des Zentralen Nervensystems im Bereich des Frontalhirns und tiefer liegender subkortikaler Schichten. Ein vornehmlich genetisch bedingter Neurotransmittermangel im Gehirn der Betroffenen gilt gegenwärtig als die entscheidende Größe. Bei einer historischen Betrachtung fällt auf, wie hartnäckig die einzelnen Verursachungsmodelle auch dann noch verteidigt wurden, wenn ihr wissenschaftlicher Gehalt längst das Verfallsdatum überschritten hatte (Ahrbeck & Henning 2004; Henning 2004).
Das hirnorganische Defizitmodell gilt auch gegenwärtig so sehr als ultima ratio, dass der Vorstand der Bundesärztekammer (2006, 42) kurz und bündig erklärt: „Die Behandlung stützt sich im Wesentlichen auf drei Maßnahmenbündel: Psychoedukation, Verhaltenstherapie und die medikamentöse Behandlung.“1 Psychoedukation meint in erster Linie die Aufklärung über das Krankheitsbild und seine Behandlung. Verhaltenstherapie soll ausdrücklich als direkte Intervention unter Verwendung operanter Techniken durchgeführt werden. Und bei den Medikamenten gelten „Stimulanzien aufgrund ihrer erwiesenen Wirksamkeit [als Mittel] der ersten Wahl“. Psychodynamische Interventionen sind als nicht-evidenzbasierte Methoden, „… in der Behandlung der Primärsymptome nicht indiziert“ (Vorstand der Bundesärztekammer 2006, 42f). Sie werden zu den „alternativen Ansätzen“ gezählt und in eine Reihe mit der Bachblütentherapie gestellt.
Die darin enthaltene Trivialisierung der seelischen Situation hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder und Jugendlicher ist unübersehbar. Was interessiert, sind symptomatische Veränderungen, die ein äußerst privilegiertes Eigenleben genießen. Symptome werden als Ärgernisse verstanden, die schnellstmöglich beseitigt werden müssen. Ein Medikamenteneinsatz – daran lassen die Autoren keinen Zweifel – soll bereits dann erfolgen, wenn „eine psychoedukative und psychotherapeutische Hilfe … innerhalb der Frist einiger Wochen nicht hilfreich war“ (Vorstand der Bundesärztekammer 2006, 42), wobei mit Psychotherapie Verhaltentherapie gemeint ist. Dass Symptome der Ausdruck unverstandener kindlicher Not und einer ungelösten inneren Konflikthaftigkeit sein können, steht außerhalb des Kalküls. Ebenso wie Fragen, die dem komplizierten Verhältnis von Symptombildung und inneren Problemlagen nachgehen. Dazu hat das innere Leben der Kinder und Jugendlichen zu grundlegend an Wert und Bedeutung verloren. Und zugleich das Bemühen, sich Kindern in ihren inneren Nöten zu nähern.
Gemessen an der Gesamtzahl wissenschaftlicher Publikationen werden nur vergleichsweise selten Zweifel an der Sinnhaftigkeit organischer Verursachungstheorien laut. Insbesondere psychoanalytische Beiträge zu ADHS und HKS sind ein Randphänomen geblieben. Daran haben bisher auch die größeren Schriften der letzten Jahre von Passolt (2001), Amft, Gerspach & Mattner (2004), Bovensiepen, Hopf & Molitor (2004), Leuzinger-Bohleber, Brandl & Hüther (2006) nur begrenzt etwas ändern können. Einschlägig relevante kulturtheoretische Überlegungen nimmt der Mainstream der ADHS-Forschung nur in wenigen Ausnahmefällen zur Kenntnis. Beides ist angesichts der bestehenden Forschungslücken durchaus erstaunlich: Die Gruppe der als hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört geltenden Kinder und Jugendlichen erweist sich als äußerst heterogen und ätiologische Fragen sind von einer abschließenden wissenschaftlichen Klärung weit entfernt (von Lüpke 2001, 2004; Riedesser 2006). Dazu trägt bei, dass sich die alten organischen Verursachungstheorien aufgrund neuer Erkenntnisse der Hirnforschung nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Vieles spricht inzwischen dafür, dass der ehemals starre Gegensatz zwischen Natur und Kultur durch ein Ergänzungsverhältnis ersetzt werden muss. Die Hirnentwicklung hängt nämlich, wie sich gezeigt hat, wesentlich von den Anregungen der frühen Umwelt ab, das heißt vor allem von Bindungs- und Beziehungserfahrungen. Insofern müssen auch die Folgen des kulturellen und gesellschaftlichen Wandels in den Blick geraten, der sich in den letzten Jahrzehnten eingestellt hat.

Kultureller Wandel und veränderte Lebensrealitäten

Selbst wenn man gewisse modische Tendenzen und zeittypische diagnostische Präferenzen einrechnet und viele Diagnosen voreilig oder gar leichtfertig gestellt werden mögen, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen sind zu einem Leitthema des Kindseins geworden. Sie verweisen auf gravierende Entwicklungsprobleme, die seit vielen Jahren bei einer bemerkenswerten Anzahl von Kindern und Jugendlichen anzutreffen sind. Da von einer radikalen Veränderung der hirnorganisch vorgegeben Grundstruktur nicht ernsthaft ausgegangen werden kann, liegt es auf der Hand, dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen und den Konsequenzen, die sich daraus für das Leben des Einzelnen ergeben, genauer nachzugehen. Dabei werden im Folgenden primär jene Entwicklungen in den Blick genommen, die als Neuerungen die letzten zwei Jahrzehnte bestimmt haben. Also denjenigen Zeitraum, der sich annäherungsweise mit der Vervielfachung der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsdefizitdiagnosen bzw. der verstärkten Beachtung dieses Phänomens deckt. Das Interesse gilt dabei vor allem der Beschleunigung der Lebensverhältnisse, dem damit verbundenen Abschied von Beständigem und sicherndem Halt, den sozialen und psychischen Folgen neuer Kommunikationsmittel und insbesondere einer kulturellen Entwicklung, die zunehmend erregenden Sensationen einen bevorzugten Platz einräumt.
Die Veränderungsprozesse der letzten Zeit werden gemeinhin im Übergang zu einer „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) gesehen, die ein gesteigertes Lebensrisiko (Beck 1986) beinhaltet, das sich aus der Schwächung institutionalisierter Absicherungssysteme ergibt. Der Einzelne ist dadurch aufgefordert und zugleich gezwungen, eigene Wege zu finden. Seine Suche danach kann gelingen oder auch scheitern. Er steht deshalb verstärkt unter psychischem Druck, muss sich immer wieder seiner selbst vergewissern und ist vor folgenschweren Selbsttäuschungen nicht gefeit. Auch Sennett (2006) betont die Risiken des neuen Kapitalismus, der einen flexiblen Menschen erfordert – begleitet von der immer währenden Drohung, sich zu verlieren und in seiner Selbstfindung zu scheitern. Stärker als der marktträchtige deutsche Titel „Der flexible Mensch“ bringt der amerikanische Titel zum Ausdruck, worum es Sennett geht: „The Corrosion of Character“ – die „Zerstörung der Persönlichkeit“.
Die rasante Beschleunigung und stetige Veränderung führt dazu, dass von Vertrautem immer wieder Abschied genommen werden muss. Verlusterfahrungen sind in unterschiedlichen Lebensbereichen angesiedelt. Sie betreffen Berufliches ebenso wie Privates, das kulturelle Umfeld und alltägliche Lebensformen gleichermaßen. Mehr noch: Sie machen vor dem Inneren der Person nicht Halt und erfordern, auch von Teilen ihres Selbst Abschied zu nehmen. In der Folge müssen erhebliche Fähigkeiten entwickelt und aufgeboten werden, damit Trennungsprozesse innerlich verarbeitet werden können. Eine Bewältigung kann deshalb nur scheinbar problemlos oder gar konfliktfrei gelingen. Im Inneren der Person arbeiten Trennungen und Verluste weiter: Auch bei wenig sensibilisierten und Abwehr erprobten Personen, die sich alle Mühe geben, genau dies nicht zu bemerken, weil sie dem Ideal von Flexibilität, Leistungsfähigkeit und Unbekümmertheit entsprechen möchten. Däuker (2005, 32) fragt deshalb: „Wenn wir den Trennungs- und Verlustschmerz angesichts von so viel Fortschritt und Beschleunigung nicht mehr wahrnehmen, tragen wir dann einen unbewussten Phantomschmerz in uns, ein eigenartig bizarres, fremdartiges Ding? Vielleicht drohen wir ja alle mehr oder weniger zu jenen unsicher gebundenen Kindern zu werden, welche die Liebe scheuen, sich also davor schützen müssen zu lieben, weil sie unbewusst den Schmerz der Trennung antizipieren?“
Zur Ablenkung wird nach Däuker kulturell ein erregendes Szenarium produziert, mit dem der Einzelne das unerkannte Verlusterleben zu beheben sucht. Gefühle der inneren Taubheit und Ermüdungserscheinungen treten dabei unvermeidlich auf. Ihnen wird mit Dosissteigerungen begegnet. Deshalb ist es nahe liegend, dass sich „ein Kreislauf installiert, demzufolge gesteigertes Ablenkungsbedürfnis und zunehmender Sensibilitätsverlust sich wechselseitig verstärken. Der Bedarf an und nach Erregung wüchse“ (Däuker 2005, 35). Erregung tritt an die Stelle von Bedeutung, so lässt sich die Entwicklung schlagwortartig umreißen. „Erregung statt Bedeutung“ ist auch der Titel einer bemerkenswerten Schrift aus dem Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannhein, die den Beitrag Däukers enthält.
Reizung und Überreizung des Nervenkostüms stellen jedoch keine neuartigen Phänomene dar. Schon bei Freud (1982, 15) findet sich folgende, vor fast 100 Jahren geschriebene Passage: „…. das Leben in den großen Städten ist immer raffinierter und unruhiger geworden. Die erschlafften Nerven suchen ihre Erholung in gesteigerten Reizen, in stark gewürzten Genüssen, um dadurch noch mehr zu ermüden …“. Seitdem hat sich die äußere Reizflut in einer Weise verdichtet und dramatisiert, die Freud vermutlich kaum für möglich gehalten hat. Die zu seiner Zeit vorfindbare verstärkte Mobilität, der Rausch erhöhter Reisegeschwindigkeiten, die schnellere weltweite Kommunikation durch Telefone und Telegrafen, Unruhe und Lärm in den Städten, ein hastigeres Alltagsleben und eine gezielte Sinnesreizung in Literatur, Theater und Musik mögen heute trivial anmuten und als vergleichsweise harmlose Neuerungen belächelt werden. Neben einer weiteren Steigerung der äußeren Reize ist inzwischen eine neue Qualität dadurch eingetreten, dass der überbordende Informationsfluss immer näher an die Person selbst heranrückt und immer stärker in sie eindringt. Das zumindest ist eine der gewichtigen Thesen, die Christoph Türcke (2002) in seinem Buch über die „Erregte Gesellschaft“, Untertitel: „Philosophie der Sensation“, vertritt.
Computer und Handys sorgen als entscheidende technische Innovationen für eine ständige Empfangsbereitschaft mit ebenso totalen Sendemöglichkeiten, zu jeder Tageszeit und an jedem Ort. Der Kommunikationsfluss wird dadurch immer schneller, die verbreiteten Daten kürzer, flüchtiger und vor allem kurzlebiger. Wer nicht auf sich aufmerksam macht, geht in der Informationsflut verloren, er wird übersehen. Nur wer sich nachdrücklich – möglichst farbig, intensiv und aufreizend – ins Spiel bringt, hat die Chance, wahrgenommen zu werden. Verbunden damit ist ein allgemeiner Beschäftigungszwang, im beruflichen Bereich ebenso wie im privaten Leben. Das oberste Gebot lautet Bewegung. Es muss etwas geschehen, mit welchem Inhalt und wie ungerichtet auch immer. Nichts wird so sehr gefürchtet wie der Stillstand. Die Vorstellung, man könne sich dem allgegenwärtigen Kommunikationsfluss schadlos entziehen, ist nach Türcke eine folgenschwere Illusion. Denn hinter einem solchen Rückzug steht die Drohung des sozialen Ausschlusses. Und die ist durchaus mächtig. Mehr noch: Mit dem schwindenden Gefühl der äußeren Zugehörigkeit steigt die Sorge vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, davor, seinem Sein keinen Ausdruck mehr zu verschaffen. „Daten aufrufen, senden, empfangen wird zur Tätigkeit schlechthin. Beschäftigungszwang spezifiziert sich zum Sendezwang. Der aber wird zu einer existentiellen Lebensäußerung. Senden heißt wahrgenommen werden: Sein“ (Türcke 2002, 43).
Eine weitere Wahrnehmungsreizung besteht durch die fast allgegenwärtige mediale Präsenz, die das Alltagsleben durchzieht. Sei es in Form von öffentlicher Werbung, durch Schriftzeichen, Musik oder sprachliche Lautbeschallung, in Einkaufszentren, in Kneipen und Restaurants, auf den Monitoren von Bahnhöfen oder in den Zügen selbst. Als nur störend dürfte sie allerdings nicht erlebt werden. Denn wie sollte man sonst erklären, dass derartige Reize auch im privaten Lebensraum aktiv hergestellt werden. Die Begleitung durch Musik (Stichwort: MP3-Player) ist dafür noch ein recht harmloses Symptom, das Zappen durch die Fernsehsender die stärkere Form einer erregenden Reizsuche, durch die eine Eigenstimulation gesucht wird.
All das mag auf den ersten Blick recht harmlos klingen und als ein unbedeutendes Randphänomen des gegenwärtigen Lebens erscheinen. Aber bereits ein oberflächlicher Blick auf das Alltagsleben zeigt, wie gravierend die in den wenigen Jahrzehnten eingetretenen Veränderungen sind. Dazu einige Beispiele: Die Werbung ist zunehmend durch die Suche nach sensationellen Botschaften bestimmt, die so drastisch vermittelt werden, dass sie punktuell die ganze Person gefangen nehmen. Die Sexualisierung ihrer Inhalte spielt dabei eine wichtige Rolle. Vor allem aber werden inzwischen schockierende Effekte erzeugt und öffentlich toleriert, die durch das bewusste Verletzen von Intimitäts- und Schamgrenzen entstehen. Etwa dann, wenn mit Bildern von Selbstmördern für technische Artikel geworben wird oder hungernde Kinder und drogensüchtige Jugendliche für bestimmte Markenartikel der Bekleidungsbranche posieren. Diese Grenzüberschreitungen dienen einem einzigen Ziel, sie sollen möglichst reflexhaft eine unbedingte Aufmerksamkeit erzwingen. Das Ringen um Aufmerksamkeit durchzieht auch den großen Teil der Printmedien, wohl wissend, dass ihre Mitteilungen in kürzester Zeit dem Vergessen anheim fallen und durch andere, oft ebenso wenig bedeutsame Fakten ersetzt werden. Das gilt auch für den Funk, den Film und das Fernsehen. Die Geschwindigkeit der ausgestrahlten Bilder hat rasant zugenommen und mit ihr die Zahl der wechselnden Inhalte. Nachrichtensendungen sind zum Teil durch mehrere laufende Textspalten unterlegt und bei der Programmplanung des Fernsehens gilt als gewichtige Größe, dass Programme nicht zu Ende gesehen werden. Wichtig ist jeweils nur, dass hingesehen oder hingehört wird – und sei es auch nur für wenige Augenblicke. Die Voraussetzung dafür besteht darin, dass ein hinreichend hohes Erregungsniveau erzielt wird. „Sensationen stehen im Begriff, zu Orientierungsmarken und Pulsschlägen des gesamten sozialen Lebens zu werden“ (Türcke 2002, 11).
Eine Schwächung der Wahrnehmungskraft ist die Folge. Reize, die in hoher Geschwindigkeit, rascher Abfolge und aus den unterschiedlichsten Richtungen auf den Einzelnen einströmen, erzeugen zwar Erregung, hinterlassen aber kaum noch innere Spuren. Unter der Flut von Informationen wird es immer schwieriger, sich auf einzelne Inhalte einzulassen und sie mit Bedeutung zu versehen. Dem überforderten Einzelnen fehlen Fixpunkte, mit deren Hilfe er der Reizflut etwas entgegen setzen könnte. Da...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einführung
  6. Hyperaktivität, innere Welt und kultureller Wandel
  7. Ich bin nicht in mir und nicht außer mir Bindungsstörungen, Symbolisierungsschwäche und die depressive Nervosität moderner Kinder
  8. Das Drängen des Triebes und die postmoderne Nervosität
  9. Zum Erregtsein verführt, zum Stillhalten gezwungen Die Instrumentalisierung der kindlichen Unruhe
  10. Einmal bitte Öl wechseln und die Schaltung reparieren Sprache und metaphorische Wahrnehmungen zur kindlichen Verhaltensbeschreibung
  11. Die Psychotherapie hyperaktiver Kinder – zum Scheitern verurteilt?
  12. Hyperaktivität – Ausdruck einer gestörten Autonomieentwicklung
  13. Autorenverzeichnis