I. Theologische Grundfragen vor der Herausforderung von Behinderung
Inklusion als theologische Leitkategorie!
Ottmar Fuchs
1. Inklusionsdynamik beginnt in Kopf und Herz
Als Beschenkte können Menschen fĂ€hig werden zu Verzicht, zur Hingabe und zum Opfer. Menschen können in dem MaĂ solidarisch sein, als sie selbst SolidaritĂ€t geschenkt bekommen. Sie können nicht mehr an Ăngsten und Unsicherheiten aushalten bzw. bewĂ€ltigen, als ihnen Vertrauen geschenkt wird und sie Vertrauen schenken können. Es geht fĂŒr die besitzenden Menschen und LĂ€nder in Zukunft nicht nur darum, den Eigennutz nicht zu steigern, sondern das, was man an eigenem Nutzen schon besitzt, zu Gunsten allgemeiner Verbesserung abzubauen. Das geht nicht postulatorisch oder durch moralisierende Anwandlungen.
Dies gelingt eher auf eine Weise, wie sie Freundschafts- oder Liebesbeziehungen zwischen Menschen charakterisieren. Wenn diese einander zugetan sind und zueinander sagen: âFĂŒr dich bin ich da, ohne Wenn und Aber!â, wenn sie also fĂŒreinander Verantwortung ĂŒbernehmen, nicht weil es von auĂen gefordert wĂ€re, sondern weil diese Verantwortung unmittelbar aus einer Beziehung heraus wĂ€chst, die als Geschenk, die als Gnade erlebt wird. Forderungen allein geben keine Kraft und machen defensiv.
Theodor W. Adorno prĂ€zisiert das Problem mit der âLiebeâ: âJeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fĂŒhlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann.â Diese Liebe kann man nicht verordnend predigen, denn sie setzt âbereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verĂ€ndern will.â7 Und er bringt die BegrĂŒndung: âDenn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, dass sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so liebenswert.â8 Adorno trifft hier das entscheidende Dilemma der Liebe als SolidaritĂ€t, sofern sie nicht eine vital geschenkte Liebe zwischen Menschen ist. Wie kann letztere in den angesprochenen Bereich der zweiten Liebe (als SolidaritĂ€t auch vital Nicht-Geliebten gegenĂŒber) hineingeraten? Aufforderungen helfen hier nichts. âDie Aufforderung, den Kindern mehr WĂ€rme zu geben, dreht die WĂ€rme kĂŒnstlich an und negiert sie dadurch ⊠Der Zuspruch zur Liebe â womöglich in der imperativischen Form, dass man es soll â ist selber Bestandteil der Ideologie, welche die KĂ€lte verewigt. Ihm eignet das Zwanghafte, UnterdrĂŒckende, das der LiebesfĂ€higkeit entgegenwirkt.â9 Adorno ahnt, dass es einer der entscheidenden und âgroĂen ⊠Impulse des Christentums (war), die alles durchdringende KĂ€lte zu tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rĂŒhrte, welche die KĂ€lte produziert und reproduziert.â10 Theologisch gesprochen: Die Botschaft von der universalen und unbegrenzten Liebe Gottes, die immer zuerst gibt, um zu ermöglichen, und die nicht erst geschenkt wird, wenn Bedingungen erfĂŒllt werden, hat also zu wenig das reale Leben der Menschen getragen, erreicht und verĂ€ndert â weil diese Liebe durch Jahrhunderte hindurch immer wieder zu sehr mit allzu menschlichen und unmenschlichen Bedingungen verbunden wurde.
Weit davon entfernt, Adorno mit christlichem Antwortgehabe zu begegnen, darf diese Ahnung von Adorno durchaus bestĂ€tigt werden, wenn auch gleichzeitig die relative geschichtliche Wirkungslosigkeit zu bestĂ€tigen ist: Wo dagegen Gottes entgrenzende Liebe gelebt und verkĂŒndet wird, wo der Glaube nicht als Bedingung der Liebe Gottes, sondern als ihr Ausdruck den Menschen geschenkt wird, wo Menschen sich von daher unbedingt, noch bevor sie sich verĂ€ndert haben, von Gott, ihrem Schöpfer, als unendlich geliebt erfahren, wĂ€re dies ein Weg zur Heilung und ein Ausweg aus dem angesprochenen Dilemma: Denn dann wird Liebe nicht mehr gefordert, sondern ist ermöglicht und wird von daher zur Triebkraft universaler SolidaritĂ€t und zur ungeschminkten Analyse der Wirklichkeit, ihrer sozialen WidersprĂŒche und ihrer KĂ€lte.
Mit dem Vertrauen Gottes im RĂŒcken kann es Menschen gelingen, ĂŒber ihren eigenen Schatten zu springen, ĂŒber ihr Scheitern und ĂŒber ihre Grenzen hinaus wieder Vertrauen in sich und andere zu setzen, weil Gott sein Vertrauen nicht zurĂŒckzieht. In VerkĂŒndigung und Glaube kommt alles darauf an, dass die GlĂ€ubigen Gottes unbedingter Annahme ihrer selbst âinneâ werden, dass sie seine Liebe mit dem Herzen auf sich beziehen und nicht fĂŒr sich und fĂŒr die anderen verdunkeln. Deswegen ist es von elementarer Bedeutung, dass in der zwischenmenschlichen Beziehung wie auch in der Gottesbeziehung etwas von dem erfahren wird, was Paulus die Rechtfertigung der SĂŒnder und SĂŒnderinnen nennt, nĂ€mlich die barrierefreie Aufnahme in Gottes Liebe, der keine âBehinderungâ, sei sie moralischer oder psychischer bzw. leiblicher Art,11 im Wege steht. Von daher muss keine sichtbare oder weniger sichtbare Behinderung in den Strudel der Selbstrechtfertigung fĂŒhren, denn immer mit ihr sind die Menschen ersehnt und gewollt.
Durch die Person des evangelischen Pfarrers Ulrich Bach höre ich in diesem Zusammenhang auf einen behinderten, an den Rollstuhl gebundenen Menschen, wenn er sagt: Wer hat uns eigentlich eingeflĂŒstert, eine Behinderung nicht auch als eine Begabung zu sehen?12 Eine Begabung zum Beispiel, die eigenen Erfahrungen und die eigene Lebenssicht zusammen mit anderen behinderten Menschen fĂŒr die Lebensgestaltung aller ernst und wichtig zu nehmen? Oder die Begabung, dass Ă€uĂerlich unbehinderte Menschen elementar von behinderten Menschen lernen können, ihre eigenen unsichtbaren Behinderungen nicht zu verkrampfen und zu verstecken? Eine Begabung also, die fĂŒr alle Beteiligten das Leben vertieft und bereichert: nĂ€mlich Ohnmachtserfahrungen nicht zu verdrĂ€ngen, sondern in ihrem RĂŒcken nach neuen Erfahrungen der ErmĂ€chtigung im eigenen Leben und fĂŒr das Leben der Anderen zu suchen?
SelbstverstĂ€ndlich ist alles dafĂŒr zu tun, dass solche Behinderungen nicht entstehen bzw. gemildert werden, wofĂŒr alles beansprucht werden darf, auch alle technischen Möglichkeiten wie etwa ein Rollstuhl, um die Behinderung selbst zu mindern. Dazu gehört auch die entsprechende Sozialpolitik, damit sich das soziale und gesellschaftliche Umfeld so verĂ€ndert, dass behinderte Menschen darin gleichberechtigt leben können. Aber Bach weiĂ auch, dass die Behinderung nicht einfach zu beseitigen ist. Sie ist da. Deswegen kann Bach angesichts bestehender und nicht geheilter Behinderungen die Wundergeschichten des Evangeliums nicht in ihrer wunderbaren Weise auf sich beziehen. Er bezieht sich auf das Kreuz, auf jenen am Kreuz radikal behinderten Menschensohn, der darin Gottessohn ist und bleibt und dieses Sterben und den Tod nochmals wendet als durch nichts mehr bedingte und gebremste Hingabe fĂŒr die Menschen. Nicht dass damit Behinderung und Leiden einen Sinn bekĂ€men, sie mĂŒnden weiterhin, und jetzt mit dem Gekreuzigten, in die anklagende Frage, warum Gott die Menschen derart verlĂ€sst (vgl. Mk 15,34). Aber was in ihnen aufscheint, das ist die Möglichkeit, sie in der eigenen SpiritualitĂ€t als einen Raum der Liebe und der (vielleicht auch stellvertretenden13) Hingabe zu gestalten.
2. Barrierefreier Glaube14
Die ErzĂ€hlungen der Bibel kann man als eine immer wieder neu beginnende und nie aufgegebene Suche nach Gottvertrauen wahrnehmen. Die Menschen sehnen sich darin nicht nur nach der Allmacht Gottes, nicht nur danach, dass ein Gott Schöpfer der Welt ist, sondern danach, dass die Menschen diesem Gott wichtig sind, ja mehr noch, dass Gott selbst unser Vertrauen sucht und darum wirbt. Viele Bilder des Vertrauens auf Gott begegnen in der Bibel, wie zum Beispiel das Bild aus Jesaja, dass uns Gott in seine Hand geschrieben hat (vgl. Jes 49,16). Die eigentliche Frage liegt nicht darin, ob es einen göttlichen Schöpfer dieser Welt gibt, sondern darin, welche Beziehung er zu dieser Schöpfung hat. Die Religionen leben von der Gewissheit, dass Gott kein Satan ist, keiner, der am Ende das Chaos ĂŒber alles hereinbrechen lĂ€sst, so dass schlieĂlich immer alles in Schutt und Asche fĂ€llt. Es ist die Sehnsucht danach, dass es nicht ein Gott ist, der grausam zuschaut, wie Georg BĂŒchner Camille in der fĂŒnften Szene von âDantons Todâ fragen lĂ€sst: âIst denn der Ăther mit seinen Goldaugen eine SchĂŒssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seligen Götter steht, und die seligen Götter lachen ewig, und die Fische sterben ewig, und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes?â (4. Akt, 5. Aufzg.). Dies wĂ€re ein satanisch kalter Inklusivismus ausnahmslos aller ins Verderben.
Wo ist Gott zu finden: im Hass oder in der Liebe, im Leben oder in der Vernichtung? Und wenn er liebt, liebt er dann nur ein wenig, liebt er dann nur unter ganz bestimmten Bedingungen, gewissermaĂen wenn wir brav sind? Gibt es ein exkludierendes âWenn-Dannâ, so dass sich die Welt angesichts Gottes spaltet in diejenigen, die mit dem vernichtenden Chaos zu rechnen haben, und diejenigen, die gerettet werden? Hinsichtlich der Exklusivismustraditionen ist auch die Bibel nicht unschuldig (vgl. Mk 16,16). Aber es gibt darin auch die Texte unbegrenzter Treue Gottes, in der Gott alles Exkludierende reut (vgl. Hos 11,1â9). Nicht von ungefĂ€hr beinhaltet in diesem Zusammenhang das deutsche Wort der Treue das Wort der Reue ĂŒber verhĂ€ngte Exklusionen.15
Die Frage bleibt: Kann denn die Unendlichkeit des allmĂ€chtigen Geheimnisses Gottes gespalten sein, so dass eine Eigenschaft, nĂ€mlich die Liebe, an Unendlichkeit verliert, weil sie von der Vernichtung der Anderen und Nichtdazugehörigen begrenzt wird? Oder ist nicht doch die heilige Unendlichkeit Gottes auch auf seine heilenden Eigenschaften zu beziehen, und wenn er die barmherzige Liebe ist, dann auch auf die Liebe, so dass sie unerschöpflich bedingungslos und alle Grenzen durchbrechend ist, mit dem Geschenk unendlichen Lebens, weil in Gott Leben und Liebe identisch sind? Bejaht man diese Frage, dann bestraft Gott nie mit Liebesentzug. Dass diese Liebe, wird man ihrer im Gericht âungeschĂŒtztâ ansichtig, angesichts des eigenen Lebens abgrundtief schmerzen kann und wird,16 steht auf demselben Blatt.
Die GlĂ€ubigen der Bibel suchen aus ihren jeweiligen Erfahrungen, Problemen und Situationen heraus nach Antworten auf diese Fragen. Viele Texte kommen dabei ohne âWenn-dannâ-Vorstellungen (noch) nicht aus. Aber sie werden inhaltlich ĂŒberholt von anderen Texten, in denen sich das âImmer Mehrâ, die immer gröĂere Liebe Gottes zeigt, die alle Bedingungen unter- und ĂŒberschreitet. Es sind Geschichten und Vorstellungen, in denen Gott seine Liebe niemals, jedenfalls niemals endgĂŒltig, zurĂŒckzieht: nicht gleichgĂŒltig, aber doch weit ĂŒber das hinausgehend, wie die Menschen handeln und wie sie selbst Gott darin untreu werden können. Selbst wenn Israel abfĂ€llt, lĂ€sst Gott sein Volk nicht im Stich. Er will die Umkehr, aber letztlich ist die Umkehr nicht die Bedingung seiner Liebe, sondern seine nicht zurĂŒckgezogene Liebe ist die Ermöglichung der Umkehr, und sie bleibt, auch wenn die Umkehr nicht erfolgt. So wandelt sich das âWenn-Dannâ in der Gottesvorstellung in ein Ohne-Wenn-und-Aber.17
Wenn Gott die Menschen als SĂŒnder und SĂŒnderinnen in seine Anerkennung und Barmherzigkeit aufnimmt, kann das dann nicht auf Seiten der Menschen zur groĂen Versuchung fĂŒhren: Wenn mich Gott derart liebt, dann kann ich ja tun, was ich will? Denn ich kann niemals aus der Barmherzigkeit Gottes herausfallen. In der Tat: Wer so spricht, hat den Sinn der Liebe Gottes durchaus verstanden, aber er hat sich nicht in ihre Bedeutung hineinbegeben, sonst könnte er so etwas nicht sagen. Er steht noch auĂerhalb, benutzt die Liebe Gottes als Instrument gegen ihn, anstatt aus ihr heraus zu leben. Gott kann nichts dagegen tun. Dies zeigt eindrucksvoll die Geschichte Jesu ĂŒber den barmherzigen Vater und den verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11â32). Der Vater lĂ€sst den Sohn ziehen. Aber seine Liebe bleibt und geht mit ihm. Sie wartet auf seine RĂŒckkehr. So darf man hier insofern vom barmherzigen Vater sprechen, als er dem weggehenden Sohn dessen Recht erhĂ€lt und sichert: Dessen Recht auf Heimkehr, dessen Recht auf ein Leben zu Hause, dessen Recht auf Rettung durch den Vater, der ihm Anerkennung und Geborgenheit zuteil werden lĂ€sst. Aus Gottes Wesen heraus gibt es nur einen Weg, die sĂŒndigen Men...