Forensische Psychiatrie und Psychotherapie
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Forensische Psychiatrie und Psychotherapie

Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis

Norbert Konrad, Christian Huchzermeier, Wilfried Rasch

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Forensische Psychiatrie und Psychotherapie

Rechtsgrundlagen, Begutachtung und Praxis

Norbert Konrad, Christian Huchzermeier, Wilfried Rasch

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In diesem Standardwerk der Forensischen Psychiatrie, das als Klassiker unter den forensisch psychiatrischen Lehrbüchern bereits in 5. stark überarbeiteter, um einige Kapitel erweiterter Auflage erscheint, werden Grundbegriffe an der Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Rechtswissenschaft systematisch erklärt. Gleichzeitig wird auch ein umfassendes Basis- und Detailwissen vermittelt, das für den Erwerb der Schwerpunktbezeichnung "Forensische Psychiatrie" notwendig ist. Darüber hinaus stellen die Autoren die neuesten Entwicklungen in der Prognosebegutachtung und in der Forensischen Psychotherapie die unterschiedlichen forensischen Behandlungsbereiche dar. Zudem werden in eigenen Kapiteln die Besonderheiten des Zivil- und des Sozialrechts beschrieben.Das Buch basiert auf den umfangreichen Erfahrungen der Verfasser als forensische Therapeuten und Gutachter in unterschiedlichen Rechtsgebieten - ein Praxisbezug, der mit zahlreichen Fallbeispielen betont wird. Als erstes Forensisches Fachbuch bezieht sich dieses Lehrbuch außerdem auf forensisch relevante Neuerungen durch die ICD-11.

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Information

Year
2019
ISBN
9783170336445
Edition
5

1 Ethische Grundlagen

1.1 Selbstverständnis

Forensische Psychiatrie (und Psychotherapie) ist ein Schwerpunkt, den Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie nach Abschluss ihrer Facharztausbildung erwerben. Forensisch-therapeutische Tätigkeit – mitunter verzerrt als Kriminaltherapie bezeichnet – findet vor allem in Maßregelvollzugskliniken und forensischen Ambulanzen sowie im Justizvollzug – dort häufig in Psychiatrischen Abteilungen sowie im Rahmen konsiliarpsychiatrischer Tätigkeit – statt. Während sich die therapeutische Tätigkeit forensischer Psychiater von jener der Allgemeinpsychiater im Hinblick auf die Therapieformen wenig unterscheidet, der rechtliche Rahmen der Tätigkeit jedoch das Tätigkeitsfeld wesentlich bestimmt, wird dem Forensischen Psychiater als Gutachter eine spezifische Rolle zugewiesen.
Es stellt sich die Frage, wie der Gutachter mit den vielfältigen Erwartungen umgeht, die an ihn herangetragen werden, wie er sich auf seine Gesprächspartner einzustellen vermag, wie er die so selbstverständlich erscheinende Forderung nach Neutralität und Objektivität erfüllen kann. Wie der Sachverständige sich selbst und seine Aufgabe vor Gericht wahrnimmt, beeinflusst auch das Ergebnis seiner Expertisen. Ein Psychologe oder Psychiater, der als Sachverständiger vor Gericht Verpflichtungen annimmt, hat sich den dort geltenden Regeln anzupassen; er kann in seiner praktischen Tätigkeit auch nicht nach Axiomen einer Theorie handeln, die den Grundlagen unseres Rechtsgedankens zuwiderlaufen. Eberhard Schmidt (1962) hat das so formuliert: » Ein Sachverständiger, der, aus welchen Gründen immer, Begriffe wie Schuld, Schuldfähigkeit, Vorwerfbarkeit, persönliche Verantwortlichkeit als wissenschaftswidrig verwirft, der alles ›Strafen‹ als Requisit überwundenen Aberglaubens ansieht und nur noch ein Heilen neurotischer Zustände für diskutabel erklärt, kann von Gesetzes wegen nicht die ›Gehilfen‹ Rolle spielen, die die StPO ihm zuweist.«
Dem ist prinzipiell zuzustimmen. Die Übernahme der in der Jurisprudenz geltenden Kategorien durch den Gutachter bildet sozusagen die Geschäftsgrundlage. Es wäre unredlich, wollte der Sachverständige diese Übernahme nur vorgeben, tatsächlich aber versuchen, das System trickreich zu unterlaufen. Das hindert ihn allerdings nicht, die einzelnen Begriffe, die durch gemeinsame Anstrengungen von Juristen, Psychologen und Psychiatern zu füllen sind, auch im Einzelfall neu auszulegen. Die Interpretationen von Rechtsbegriffen durch die Rechtsprechung mit dem Ziel, Innovationen anzustoßen, sind eher notwendig als Reformen durch den Gesetzgeber, weil sie den täglichen Erfordernissen mehr Rechnung tragen. Wenn der Sachverständige in seiner Gehilfen- oder Beraterfunktion ernst genommen wird, kommt ihm bei der Entwicklung derartiger Innovationen eine wichtige Rolle zu. Das bedeutet auch, dass er den Einzelfall nicht nach einem Schema behandelt, das ihm ein Lehrbuch vorschreibt. Ferner aber kann der Sachverständige, der im Gerichtssaal sein Gutachten systemgerecht vorträgt, sich außerhalb dieser Tätigkeit natürlich kritisch Gedanken machen, ob die Grundlagen unseres Rechtsdenkens nicht hier und da Korrekturen vertragen würden.
Die Tätigkeit des Verhaltenswissenschaftlers vor Gericht verlangt aber noch mehr als die Übernahme der Grundlagen des Rechtsgedankens; sie verlangt von ihm, sich jemandem zu unterstellen bzw. von jemandem leiten zu lassen, dessen Autorität er nicht unbedingt anerkennt. Es gibt eine Reihe von Umständen, die den Psychiater oder Psychologen von einer Tätigkeit im Gerichtssaal abschrecken können. Roberts (1968) hat zusammenfassend aufgezählt: »Persönliche Beleidigung, öffentliche Kritik, Terminschwierigkeiten, geringe Entschädigung, schlechte Beziehung zum Juristenstand, zum Teil durch unbegründete Angriffe verursacht; ferner Verlust an Würde und Status als Konsequenz der Konfrontation mit scharfzüngigen Anwälten«. Nach dem Eindruck von Sadoff (1975) ist es aber doch so, dass sich viele Psychiater wegen der Fülle von Frustrationen, denen sie in foro ausgesetzt wären, von der Übernahme von Sachverständigenpflichten fernhalten und froh sind, dass es »masochistische« Kollegen gibt, die sich als forensische Psychiater zur Verfügung stellen.
Die viel diskutierten Verständigungsschwierigkeiten zwischen Richtern und Sachverständigen lassen sich am ehesten aus den traditionellen Beziehungen zwischen Strafrecht und Psychiatrie ableiten. Beide Disziplinen haben die gesellschaftliche Aufgabe, sich um Mitbürger zu kümmern, die ein Verhalten zeigen, das von der Gesellschaft als unnormal und/oder störend erlebt wird. Die Zielgruppen von Strafrecht und Psychiatrie zeigen Ähnlichkeiten, zum Teil sind sie sogar identisch. Hierdurch ergeben sich Reibungen zwischen den beiden Spezialwissenschaften. Sofern sich eine Person als eindeutig kriminell oder als eindeutig krank einordnen lässt, erscheint die Zuständigkeit nicht zweifelhaft. Zwischen diesen Polen gibt es jedoch eine breite Grauzone psychischer Abnormität: Menschen, die nicht »böse« genug sind, als dass Strafe die angemessene Reaktion für ihr Fehlverhalten erscheint, und Menschen, die nicht »verrückt« genug sind, als dass man sie zwanglos als Patienten einstufen möchte. Um dieses gesellschaftspolitische Niemandsland wird zwischen Juristen und Psychiatern gekämpft, ohne dass die Zielsetzung des Kampfes immer klar ist.
Die Beschäftigung mit dem prinzipiell gleichen oder doch sehr ähnlichen Gegenstand unter verschiedenen Leitideen bedingt, dass zwei parallele Denksysteme entwickelt wurden, um sich mit eben diesem Gegenstand auseinanderzusetzen (Weisstub 1978). Es gibt in beiden Systemen die gleichen Begriffe, die unter Umständen aber etwas ganz anderes beinhalten, und gleiche Inhalte, die mit anderen Begriffen belegt sind. Dies verursacht im Einzelfall ein endloses Aneinander-Vorbeireden, bedingt Rivalität und führt zu Kompetenzkämpfen, aber auch – von beiden Seiten – zu Anpassungsbemühungen.
Ist der Psychiater bereit, sich als Sachverständiger zur Verfügung zu stellen, muss er sich also in eine neue Rolle begeben und sein Selbstverständnis modifizieren. Er ist zur Anpassung gezwungen, da seine Denkgesetzlichkeiten in dem anderen Bereich nicht gelten. In den psychologisch-psychiatrischen Kategorien gibt es zum Beispiel nicht den Begriff der Schuld, der in der strafrechtlichen Dogmatik aber zentrale Bedeutung besitzt. Die Diskussion um Schuldfähigkeit und Verantwortung setzt also voraus, dass sich der Sachverständige dem fremden Begriffssystem anpasst und vieles von dem eigenen aufgibt. Im Einzelfall bedeutet dies auch, dass das Bemühen des Sachverständigen vergeblich sein kann, seine Befunde mit den Begriffen des eigenen Systems darzulegen.
Images
Abb. 1.1: Juristisch-psychiatrische Kommunikation (© Paul Jamin; Nachdruck mit Erlaubnis)
Der zwischen Juristen und Psychiatern im früheren Schrifttum diskutierte Kompetenzstreit lässt sich, wie Schewe (1976) dargelegt hat, weniger pointiert sehen, als dies in der Literatur – übrigens im Gegensatz zur Praxis – im Allgemeinen geschieht. Der Psychiater hat eigentlich keine Kompetenz im Gerichtssaal und kann sie insofern auch nicht überschreiten; das Maß seiner Zuständigkeit hängt von dem Aktionsradius ab, den man ihm von der Richterbank her einräumt. Zum anderen aber wird durch eine unterstellte Kompetenzüberschreitung durch den Sachverständigen das Gutachten nicht automatisch entwertet, sofern er sonst alles richtig gemacht hat. Tatsächlich erwartet das Gericht auch im Allgemeinen, dass der Sachverständige deutlich zu erkennen gibt, wie er die im Raum zwischen den beiden Disziplinen liegenden Fragestellungen beurteilt, also zum Beispiel die Schuldfähigkeit oder die Geschäftsfähigkeit. Er sollte sich hierzu auch äußern, wenngleich diese Äußerung nur als Verständigungs-Kürzel zu verstehen ist, als eine Art unverbindlicher Vorschlag. Der Rückgriff auf umständliche Umschreibungen, durch die sogenannte Kompetenzverletzungen vermieden werden sollen, läuft Gefahr, zu einer unecht verkrampften Parodie zu werden.
Das Problem der Kompetenzüberschreitung durch den Sachverständigen hat weniger Gewicht in Bezug auf die Möglichkeit, dass er sich zu Rechtsbegriffen äußert, als bei möglichen Stellungnahmen zu Fragen, die letztlich nur durch Ermessen zu entscheiden sind. Wollte man Sarstedts (1968) Forderung ernst nehmen, dass der Psychiater dem Gericht »nur« beschreiben sollte, wie es zur Tatzeit im Kopf des Täters aussah, liefen die Juristen viel eher Gefahr, sich der Allmacht des Sachverständigen auszuliefern, denn eine derartige Stellungnahme schlösse selbstverständlich die subjektive Tatseite ein. Es ist nicht zu übersehen, dass Fragen, die in diese Richtung zielen, auch immer wieder von den juristischen Prozessbeteiligten gestellt werden, und es ist bedauerlich, dass Sachverständige auch immer wieder auf Fragen eingehen, für die sie keine wissenschaftlichen Kriterien haben.
Die offiziellen Erwartungen an den Sachverständigen sind mehr oder minder kodifiziert. Vor allem zwei Aufgaben werden dem Vertreter der seelenkundlichen Wissenschaften im Strafrechtskontext angetragen:
1. Er soll feststellen, ob der Untersuchte zu einem bestimmten Zeitpunkt unter einer psychischen Krankheit oder unter einer psychischen Störung litt, die Einfluss auf seine Verantwortlichkeit oder seine bürgerliche Entscheidungsfähigkeit gehabt haben könnte.
2. Er soll feststellen, ob die Störung länger dauernd ist und durch sie auch in der Zukunft soziale Komplikationen zu befürchten sind.
Daneben spielen die Fragen der Behandlungsnotwendigkeit und Behandelbarkeit eine gewisse Rolle. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Entwicklung und Verabschiedung des kriminaltherapeutischen Gedankens in den letzten 50 Jahren gleichsam im Zeitraffertempo durchgespielt. Aktuell stehen differenzialtherapeutische Fragen im Vordergrund: Bei wem wirken welche therapeutischen Maßnahmen in welcher Form und wie schnell? In Abgrenzung zur operativen Fallanalyse, welche aufgrund einer Tathergangsrekonstruktion Hypothesen zur Entstehung der Tatsituation, zur Motivlage usw. generiert und auf ihre Wahrscheinlichkeit zu überprüfen sucht, ist in der Forensischen Psychiatrie ein Beschuldigter bereits identifiziert.
Unter dem Einfluss bestimmter höchstrichterlicher Entscheidungen sind einige Richter geneigt, den Sachverständigen als formale Sicherungsmaßnahme zu benutzen, die das Urteil stützen kann. Der Gutachter muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass er in erster Linie ein Beweismittel ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Sachverständige ist auch mit den Erwartungen des Klienten konfrontiert. Sie wiegen im Vergleich zu denen des Gerichts nicht so schwer: Klienten kommen und gehen und werden nach kurzer Zeit nicht mehr erinnert. Die Partnerschaft zum Richter dauert demgegenüber länger. Die Erwartungen des Klienten können positiv oder negativ sein. Unter Umständen hegt er aber deswegen negative Erwartungen, weil er schlechte Erfahrungen bei früheren Begutachtungen gemacht hat. Vielleicht hatte er sich im Rahmen einer früheren Exploration aufgeschlossen gezeigt, um im Verfahren zu erleben, wie er mit Etiketten bedacht wurde, die er als abwertend empfand und unter denen er sich nicht wiedererkannte.
Im Strafverfahren ist eine positive Erwartungshaltung des Untersuchten gegenüber dem psychologisch-psychiatrischen Sachverständigen wahrscheinlich häufiger als eine negative. Führend ist dabei aufseiten des Klienten zumeist der Gedanke, ein Gutachten könnte dem Gang des Verfahrens eine günstige Wendung geben, also vielleicht zu einer geringeren Bestrafung führen. Die Überlegung könnte sein: Indem der Sachverständige das kriminelle Verhalten verstehbar macht, vermag er auch Verzeihung, d. h. eine mildere Bestrafung herbeizuführen. Unabhängig von diesen sozusagen taktisch-technischen Gründen kann bei dem Untersuchten aber auch der Wunsch bestehen, sich in der Begutachtungssituation mit sich selbst und seinen Handlungen auseinanderzusetzen. Der Angeklagte wünscht sich einen Partner für eine Aussprache, hat hierzu vielleicht das erste Mal eine Chance. Hierdurch gerät der Gutachter – ob er dies will oder nicht – in eine eindeutig therapeutische Funktion. Er kann sich nicht heraushalten als der distanzierte kühle Kenner der Materie, der in voller Neutralität zwischen den Parteien steht. In der Exploration, die nur diagnostischen Zwecken dienen sollte, ist er unversehens in die Rolle des Therapeuten geraten. Er hat bei dem Untersuchten etwas angestoßen, in Gang gesetzt. Der Untersuchte fühlt sich nach der Exploration, die für ihn ohne therapeutische Konsequenzen bleibt, wahrscheinlich oft genug doppelt allein gelassen (Schorsch 1983).
Wechselt man die Begriffe aus, sieht sich der Gutachter in nicht-strafrechtlichen Prozessen – also bei Verfahren im Zivil-, Disziplinar- oder Verwaltungsrecht – mit ähnlichen Erwartungshaltungen konfrontiert wie im Strafverfahren. Sofern er in einem Zivilprozess von der einen oder anderen Seite in das Verfahren eingebracht wurde, kann der Erwartungsdruck noch besondere Stärke annehmen; der Sachverständige muss sich auch dann seiner Pflicht zur Neutralität bewusst bleiben. Das gilt auch bei Verfahren zur Testierfähigkeit, wo eine unmittelbare Begegnung mit dem Betroffenen, d. h. dem Verstorbenen, nicht mehr stattfinden kann.
Die Übernahme der Sachverständigentätigkeit ist gelegentlich mit Frustrationen verbunden, etwa ungerechtfertigt erlebten Angriffen durch eine Prozesspartei. In der forensischen Psychiatrie wurden darüber hinaus schwerwiegende Bedenken gegen die Übernahme von Aufgaben geäußert, die eigentlich gar nicht die ihren sein können (Schneider 1977). Es war schon davon die Rede, dass z. B. der im Rechtsdenken zentrale Begriff der Schuld für den Psychologen oder Psychiater nicht existiert. Selbst wenn er sich als Sachverständiger nicht unmittelbar zur Schuldfähigkeit äußert – was er eigentlich auch gar nicht tun sollte –, zielt seine Stellungnahme im Vorfeld der Schuldfeststellung doch darauf ab, eben diese Beurteilung zu ermöglichen.
Diese Tätigkeit, die Hilfe beim Herausfiltern der Nicht-Schuldfähigen, hat aber, wie de Smit (1977) gezeigt hat, einen schwerwiegenden Nebeneffekt: Der psychiatrische Sachverständige legitimiert die Bestrafung der als schuldfähig etikettierten Individuen. Die zunächst als humanitärer Akt imponierende Übernahme der Behandlung jener Gruppe, die wegen des Vorliegens einer psychischen Störung nicht bestraft wird, wird jedoch dadurch problematisch, weil der Psychiater nunmehr neben den Behandlungsaufgaben auch Bewacherfunktionen übernimmt. Der forensische Psychiater wechselt die Seite (WHO 1977), er riskiert, wie Leyrie (1977) es formuliert hat, vom Beschützer des Kranken zum Beschützer der Gesellschaft zu werden. Bei der nicht selten mit diagnostischen und behandlungsprognostischen Schwierigkeiten behafteten Begutachtung von Flüchtlingen, die abgeschoben werden sollen, wirkt der Sachverständige dabei mit, einen erheblichen Eingriff in die Lebenswirklichkeit der Betroffenen zu vollziehen, der im Einzelfall eine deutliche Verschlimmerung vorhandener psychischer Störungen bewirkt (Zinkler 2003).
Die größtmögliche Rollenzuspitzung erfährt der Gutachter, der in Staaten mit Todesstrafensanktion (wie USA oder Japan) dazu herangezogen wird, die »competency to be executed« zu beurteilen (Okasha 2002). Die Alternative zur zwiespältig erlebten, unwilligen Zusammenarbeit liegt in der totalen Verweigerung, im Rückzug. Menninger (1948) hat in einer häufig zitierten Erklärung kategorisch abgelehnt, dass der Psychiater im Gerichtssaal tätig wird. Er könne dort nicht angemessen tätig werden. Psychiatrische Gutachtertätigkeit sei letztlich eine diskriminierende undemokratische Prozedur, bei der psychiatrische Begriffe und rechtliche Sanktionen zum speziellen Nutzen ausgewählter Individuen manipuliert würden. Diamond (1968) hat die Voraussetzungen aufgezählt, unter denen sich der Sachverständige im Gericht wohler fühlen würde: » Wenn es dem forensischen Psychiater gestattet wäre, innerhalb eines rechtlichen Rahmens zu arbeiten, der es ihm erlaubte, sein professionelles Urteilsvermögen auf angemessene Fragen psychologischer Realität anzuwenden und nicht auf philosophische und theologische Regeln und Syllogismen, wenn er seine Kenntnisse auf menschliche Realität anwenden könnte, anstatt auf rechtliche Fiktion
In den »totalen Streik« zu treten, darauf hat P.-B. Schneider (1977) hingewiesen, ist aber sicher nicht der ideale Weg, um grundlegende Änderungen der Rechtspraxis zu erreichen. Ob man angesichts der Wirklichkeit der Begutachtungspraxis von humanitärem Engagement des Psychiaters (Hallek 1974) reden kann, ist zweifelhaft. Denn neben den erwähnten Möglichkeiten des halbherzigen Mittuns und der Verweigerung gibt es noch jene der willigen Anpassung und Überanpassung. Vor Jahrzehnten schon hat Musil in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (1952) die Anpassungsneigung des Mediziners im Gerichtssaal beschrieben: Der Engel der Medizin wandelt sich zum Reserveengel der Justiz.
Anpassung und Überanpassung an die Justiz werden begleitet von einer Reihe von Verhaltensweisen, die mittelbar oder unmittelbar Folge dieser Anpassungsbemühungen sind. Sie verdienen deswegen besondere Beachtung, weil in ihnen oft eine Einstellung erkennbar wird, die mit der Stellung des Sachverständigen nicht vereinbar ist, vornehmlich nicht mit seiner Verpflichtung zur Unparteilichkeit. Sind sie zu beobachten, so sollte vom Gericht geprüft werden, ob der Sachverständige sich nicht disqualifiziert hat und wegen Befangenheit aus dem Verfahren ausgeschlossen werden sollte, etwa wenn sich spezifische Verhaltensstile mit der Benutzung einer abwertenden Terminologie als »Verdammungsurteil« niederschlagen (Rasch 1967).
Die Überanpassung manifestiert sich mitunter auch als kriminalistisches Bemühen, den Probanden zu (weiteren) Geständnissen zu bewegen, was dann von der Staatsanwaltschaft mit der Erteilung weiterer Gutachtenaufträge honoriert wird. Derartige Rollenüberschreitungen kommen gelegentlich vor und wurden gestützt durch eine forensisch-psychiatrische Literatur, aus der eine ähnliche für das Fach beschämende Grundhaltung spricht (Moser 1971); sie bezeugte das »Elend einer Wissenschaft«.
Die Verpflichtung zur Unparteilichkeit, die das Recht der Bundesrepublik den Sachverständigen auferlegt, birgt die Gefahr latenter Parteilich...

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