Teil IV: Störungsbilder und Erscheinungsformen
Prolog
Traditionell beschäftigte sich die Sprachheilpädagogik vor allem mit unterschiedlichen Formen an Sprachentwicklungsstörungen sowie mit dem Stottern, weniger mit neurologischen Sprach- und Sprechstörungen oder mit Stimmstörungen. Die theoretische Analyse und Praxis zentrierte sich auf Aussagen zur Verbindung von Unterricht und Therapie sowie zur Sprachtherapie der genannten Störungsbilder selbst. Dazu liegen weitreichende Aussagen vor.
Im letzten Jahrzehnt hat sich dies vor dem Hintergrund einer Absenkung der fachspezifischen Anteile in den meisten Studienstätten deutlich gewandelt. Das Ausbildungscurriculum umfasst im Lehramtsstudium heute vor allem Anteile an Störungen des Laut- und Schriftspracherwerbs, seltener zum Bereich der Redestörungen, gar nicht mehr zu Dysphonien, Aphasien, Dysarthrien und Dysphagien. Der therapeutische Anspruch wurde zugunsten einer allgemeineren Sprachförderung weitgehend aufgegeben.
Positive Aspekte ergeben sich durch den sprachheilpädagogischen Unterricht, der in unterschiedlichen Förderorten durchgeführt werden kann.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Entwicklung die Entstehung des neuen Faches der akademischen Sprachtherapie zwar nicht ursächlich ermöglichte, aber zumindest unterstützte. Heute haben die Absolventinnen der Bachelor-/Masterstudiengänge in der Sprachtherapie, Klinischen Linguistik, Patholinguistik oder Klinischen Sprechwissenschaft entweder eine Krankenkassenvollzulassung (z. B. in München, Köln, Bielefeld und Hannover) für alle Störungsbilder wie die Logopädinnen oder eine Teilzulassung auf bestimmte Störungsbilder. In jedem Fall ist eine hohe therapeutische Qualifikation durch die notwendige Erfüllung von Standards der Krankenkassen gewährleistet.
Zu fragen ist bzw. offen bleibt, inwieweit Sprachheilpädagoginnen in einer anderen Art als Sprachtherapeutinnen/Logopädinnen vorgehen. In jedem Fall bringt es die Weite des Aufgabengebietes mit sich, dass häufig eine Spezialisierung auf bestimmte Störungsbilder (z. B. Stottern oder Dysphonien) erfolgt.
Störungen der Lautsprachentwicklung
Aussprachestörungen
Annette Fox-Boyer
1 Definition
Unter Aussprachestörungen versteht man Abweichungen in der Aussprache, die für das Entwicklungsalter oder in ihrer Art und Symptomatik nicht der regelrechten Entwicklung entsprechen. Aussprachestörungen sind gekennzeichnet durch konsequente oder inkonsequente Fehlbildungen, Ersetzungen oder Auslassungen von Lauten und/oder Silben und führen je nach Art der Problematik zu einer geringen bis vollständigen Einschränkung der Verständlichkeit des Kindes. Häufig stellt die Aussprachestörung das markanteste Symptom einer Sprachentwicklungsstörung dar, sie tritt aber ebenso häufig auch isoliert auf.
Der Begriff »Aussprachestörung« wird als Oberbegriff für eine Summe unterschiedlicher Formen von Veränderungen der Aussprache verwendet. Er ersetzt damit ältere Oberbegriffe wie »Dyslalie«, »Artikulationsstörung«, »phonetisch-phonologische Störung« oder »Stammeln«. Der Begriff macht keine Aussage über Art und Ursache der Problematik und bedarf daher genauerer Unterspezifikation. Er wird äquivalent zum angloamerikanischen Begriff »speech sound disorder« verwendet und schließt Stimm- und Redeflussstörungen aus.
2 Häufigkeit, Prognose
Zur Prävalenz liegen international verschiedene Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen vor. Für die USA beschreiben Campbell et al (2003), dass bis zu 15,3 % aller Dreijährigen Ausspracheprobleme zeigen. Broomfield & Dodd (2004) allerdings berichten nur von 6,4 % betroffener Kinder ohne organische Ursache im Bezug auf alle Kinder Großbritanniens. Shriberg & Kwiatkowski (1994) aus den Vereinigten Staaten gehen von einer Prävalenzrate von 7,5 % aller Kinder im Alter von 3 und 11 Jahren aus. Diese Unterschiede lassen sich zum einen durch die verwendeten Einschlusskriterien und zum anderen durch die untersuchten Altersgruppen erklären.
Für Deutschland liegen bislang keine Daten zur Prävalenz von Aussprachestörungen vor. Hingewiesen sei hier auf Ergebnisse von Screening-Untersuchungen, die jährlich kostenlos in der Stadt und im Landkreis Idstein von Studierenden des Studiengangs Logopädie der Hochschule Fresenius durchgeführt werden. In den Jahren 2009 und 2010 nahmen 777 monolinguale Kinder im Alter von 3;6 Jahren bis Einschulung an diesem Sprachscreening teil. Von den untersuchten Kindern zeigten 16,3 % Auffälligkeiten in ihrer Aussprache, wobei hier der isolierte Sigmatismus inter- oder addentalis ausgeschlossen wurde. 203 der Kinder der Gesamtgruppe wurde aufgrund der Screening-Ergebnisse eine logopädische Diagnostik empfohlen, wobei 46,3 % diese Empfehlung ausschließlich wegen einer Aussprachestörung (exklusive isoliertem Sigmatismus) erhielt. Die gleiche Untersuchung, durchgeführt von Studierenden des Studiengangs Logopädie, Fresenius Hamburg, in den Jahren 2010/2011 zeigten, dass von 331 untersuchten monolingualen Kindern 10,25 % eine Aussprachestörung (exklusive isoliertem Sigmatismus) aufwiesen.
Hinsichtlich der Prognose beschreiben Shriberg, Tomblin & McSweeny (1999), dass im Alter von sechs Jahren nur noch bei ca. 3,8 % der Kinder eine behandlungsbedürftige Aussprachestörung vorliegt, da Aussprachestörungen bereits im Vorschulalter behoben werden. Im Gegensatz dazu beschreiben das National Institute of Deafness and other Communication Disorders (NIDCD) und die ASHA basierend auf der Arbeit von Gierut (1998), dass 10 % der Erstklässler eine moderate bis schwere Form einer Aussprachestörung zeigen und dass 1,6 % der Kinder unter 18 Jahren chronische Aussprachestörungen aufweisen.
3 Bedingungshintergründe/Ursachen
Prinzipiell werden verschiedene Formen von Aussprachestörungen unterschieden. Die grundlegendste Differenzierung ist zwischen organisch begründeten (siehe Fox 2005) im Gegensatz zu funktionellen Aussprachestörungen vorzunehmen, wobei letztere die häufigsten Formen der Aussprachestörungen ausmachen.
Zu den organischen Aussprachestörungen zählen:
• neurologisch bedingte Dysarthrien (z. B. im Rahmen der ICP)
• neurologisch bedingte Dyspraxien (z. B. nach Ertrinkungsunfällen, Schlaganfall)
• Aussprachestörungen verbunden mit angeborenen Hörstörungen
• Aussprachestörungen verbunden mit cranio-fazialen Fehlbildungen (z. B. Spaltbildungen, Pierre-Robin-Syndrom)
• Aussprachestörungen bei kognitiven Einschränkungen in Form einer geistigen Behinderung (z. B. bei Down Syndrom).
In allen Fällen sind die Art und vor allem das Ausmaß der Aussprachestörung bei jedem Kind unterschiedlich ausgeprägt. Nicht auszuschließen ist, dass diese Kinder neben der Aussprachestörung, die aufgrund der organischen Bedingung zu erwarten ist, auch eine zusätzliche funktionelle Aussprechstörung aufweisen, so dass verschieden Probleme gleichzeitig vorliegen können.
Unter funktionellen Aussprachestörungen versteht man das Vorliegen einer Aussprachestörung ohne bekannte organische Ursache. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht im Rahmen der Anamnese Hinweise auf nicht eindeutig als auslösend belegbare organische Ursachen bestehen. Hierzu zählen u.a. das fluktuierende Hörvermögen bei Kindern mit häufiger Mittelohrproblematik (OME oder Paukenerguss), genetisch bedingte Aussprachestörungen, Frühgeburten oder psychische Belastungen. Bei diesen möglichen Ursachen handelt es sich um bekannte Risikofaktoren für Aussprachestörungen (siehe z. B. Fox, Dodd & Howard 2002, Fox 2005; Bowen 2009), deren Kausalität sich aber nicht konkret nachweisen lässt. Eine große Anzahl von Kindern mit Aussprachestörungen bietet anamnestisch keine Hinweise dieser Art (Fox, Dodd & Howard 2002), so dass sich eine Klassifikation funktioneller Aussprachestörungen nach äthiologischen Kriterien wie von Shriberg (1997) vorgeschlagen auch aus diesen Gründen nicht als sinnvoll erweist.
International werden daher neben der Klassifikation von Shriberg (1997) überwiegend psycholinguistische Betrachtungsweisen von funktionellen kindlichen Aussprachestörungen vorgenommen. Ausgehend von Sprachverarbeitungsmodellen werden funktionelle Aussprachestörungen mit unterschiedlichen Störungsebenen im Sprachverarbeitungsprozess verknüpft. Es wird also die linguistische Störungsstelle, aber meist nicht die Ursache der Störung dargestellt. Laut Stackhouse & Wells (1997) kann mit Hilfe des individuellen Profils der Kompetenzen und Defizite im Sprachverarbeitungsprozess dargestellt werden, wo die linguistische Störungsstelle des Kindes liegt. Die Erhebung erfolgt mit Hilfe einer Testbatterie (für Deutsch z. B. TPB, Fricke & Schäfer 2011).
Dodd (1995) teilt die Kinder aufgrund ihrer Symptomatik in vier Untergruppen mit verschiedenen linguistischen Störungsstellen ein:
• Phonetische Störung/Artikulationsstörung
• Phonologische Verzögerung
• Konsequente phonologische Störung
• Inkonsequente phonologische Störung
Bei einer phonetischen oder Artikulationsstörung ist es dem Kind nicht möglich, ein Phon isoliert oder in jeglichem phonemischen Kontext phonetisch korrekt zu realisieren. Die phonemische Realisation ist allerdings korrekt (z. B. Sigmatismus oder Schetismus lateralis). Als linguistische Störungsstelle wird die periphere motorische Ausführung beschrieben. Es wird angenommen, dass zum einen myofunktionelle Störungen, ein oro-faziales Muskelungleichgewicht (bei lateralen Formen), aber auch Imitation verbunden mit fehlerhaft erlernter Lautbildung (z.T. Sigmatismus addentalis/interdentalis) als Ursachen anzusehen sind (siehe Fox 2009).
Die phonologische Verzögerung wird definiert als das Vorliegen ausschließlich physiologisch-phonologischer Prozesse, d. h. Prozesse, die typisch für die regelrechte Entwicklung sind, wovon mindestens einer nicht mehr als altersgemäß angesehen werden kann. Von einer Verzögerung spricht man ab einem zeitlichen Überwindungsrückstand von mindestens sechs Monaten. Eine Verzögerung ist zeitlich unbegrenzt, das heißt aus einer Verzögerung wird nicht zu einem späteren Zeitpunkt eine Störung der Entwicklung. Laut Dodd (1995/2005) lassen Studienergebnisse eine Ableitung auf ein spezifisches Defizit im Sprachverarbeitungsprozess für diese Untergruppe nicht zu. Sie geht daher davon aus, dass »Entwicklungsbremsen«, z. B. temporärer Hörverlust durch MOE oder Paukenergüsse (Fox et al. 2002) oder psychische Belastungen, ein Voranschreiten der phonologischen Entwicklung negativ beeinflussen können. Dies würde auch erklären, warum bei dieser Gruppe die größte Chance auf Spontanremission bis zum 6. Lebensjahr vorliegt, wenn die Verzög...